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Zweimal ausgeatmet
Die Nacht legt sich wie ein kalter Schal um ihren Hals. Ihre Schritte hallen von den beschmierten Wänden der Unterführung zurück. Eine einsame Lichtfunzel lässt ihren langen Schatten wachsen. In ihrem Kopf nur eine Frage: Wie konnte sie nur um diese Zeit an diesen unheilvollen Ort gelangen? Sie beschleunigt ihren Gang. Da war doch ein Rascheln in der Ecke gewesen, vielleicht nur eine Ratte? Oder war es doch ein übler Kerl, der sich gleich auf sie stürzen und zu Boden werfen wird? Ihr Pulsschlag hämmert in den Ohren. Sie rennt, nein, sie rennt um ihr Leben. Nur weg von hier, nur weg!
Er hat den Modellkasten feierlich vor sich aufgestellt. Er mustert jede Einzelheit der Verpackung. Vorsichtig durchtrennt er mit dem Cuttermesser die Klebestreifen an den Kartonseiten. Er lässt den Deckel von der Schachtel gleiten. Seine Augen leuchten beim Anblick der abgepackten Plastikteile.
Sie ist ausgerutscht, liegt nun auf dem Pflaster wie auf einem Präsentierteller. Ihr Knöchel schmerzt. Ist es jetzt so weit, wird er jetzt sein garstiges, grinsendes Gesicht aus dem Schatten heraus offenbaren? Ist er nicht vielleicht schon hinter ihr und streckt seine Arme gierig nach ihr aus? Sie dreht langsam den Kopf. Die feuchte Luft lässt ihren Atem sichtbar werden. Kein Geräusch ist zu hören.
Mit beiden Händen öffnet er die Cellophanhülle. Er atmet den Geruch des Kunststoffes ein. Behutsam lässt er das Gitter mit den Teilen herausgleiten. Er mustert die Details und fährt sie mit dem Finger nach. Bald hat er so sämtliche Modellteile vor sich ausgebreitet. Er beginnt sie im Geiste zusammenzusetzen.
Da steht er am Ende des Tunnels. Ohne Regung blickt er sie an. Jäger und Beute, Aug in Aug. Und allmählich setzt er sich in Bewegung. Ganz sachte wie eine Raubkatze. Sie kann sich nicht regen. Den Körper wie gelähmt, liegt sie da. Was macht es jetzt noch Sinn zu fliehen? Wer hätte ihr beistehen können, gegen so eine Übermacht des Bösen? Ihr angsterfüllter Schrei hallt hinaus in die Nacht.
Er studiert den Plan und sucht die passenden Farben aus einer Kiste. Mit Rot wird er beginnen. Er öffnet das Döschen und taucht den Pinsel tief in die ölige Farbe ein. Strich für Strich bemalt er den ersten Flügel, dann den zweiten und legt die Teile anschließend zum Trocknen auf das Fensterbrett. Vorsichtig pustet er über die Oberfläche. Dann knipst er die Schreibtischlampe aus und verlässt den Hobbyraum, um morgen weiter zu arbeiten.
Sie erwacht schweißgebadet, sitzt aufrecht im Bett. Sie macht das Licht an. Ihr Herz rast. Die Augen weit aufgerissen, blickt sie ins Leere, dort wo vor Sekunden noch seine Fratze war. Sie atmet tief durch, als ihr bewusst wird, dass sie in Sicherheit ist. Der Wecker zeigt 1.30 Uhr mit roten Leuchtziffern an.
Er ist die Treppe hochgegangen, betritt die Küche und öffnet den Kühlschrank, um noch einen Happen zu essen. Danach macht er sich fertig zum Schlafen. Er blickt auf die Uhr, es ist jetzt 1.30 Uhr. Dann schließt er die Augen, atmet tief ein. Ein leises Knacken im Schädel verrät, dass das Aneurysma geplatzt ist. Mit einem Seufzen entweicht die Atemluft das letzte Mal aus seinen Lungen.