- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Zweimal Dr. Keppler
Einmal
Dr. Keppler dreht den Schlüssel im Schloss, zog den Knauf etwas zu sich und die schwere Eisentüre öffnete sich. Es wunderte sie noch immer, dass sogleich ein Windzug hinein blies, obgleich sie oben alle Fenster hatte abdichten lassen. Sie trat ein, die Einkauftüten in den Händen, schloss die Tür wieder hinter sich und genoss, dass sie jetzt keinen Wind mehr spürte und sie ein trockener Raum umfing, auch wenn er kalt war und ihre Schritte auf den Stufen laut hallten. Natürlich war sie verrückt gewesen, als sie sich auf den Handel eingelassen hatte: ein Jahr Wohnrecht und dafür musste sie alle paar Wochen Gäste der Bürgermeisterin durch den Turm führen, ihnen Tee mit Rum anbieten und sich fragen lassen, was eine waschechte Fränkin auf diese einsame Insel verschlug. Aber jetzt hatte sie das, was sie wollte: Natur, Einsamkeit, Selbstbestimmung. Bis auf die wenigen Ausnahmen konnte sie hier bestimmen, wer mit ihr Kontakt aufnimmt.
Sie blieb stehen, als sie das erste Fenster erreicht hatte, warf einen Blick in die Nacht. Am Horizont viele kleine Lichter, flackernd, dann immer wieder das Licht von Bülk. Sie wusste nicht warum, aber sie mochte seine Kennung: dieser Dreisekundentakt mit dem Aufblitzen, das aber nicht zu kurz war; kein Wimpern-schlag, sondern eher ein erstauntes Augenöffnen.
Sie schnaufte noch einmal kurz durch, nahm die Einkaufstüten wieder auf und bewegte sich Stufe für Stufe nach oben. Wieder hatte sie, als sie los fuhr, vergessen, den Rucksack mitzunehmen. Und jetzt musste sie wieder die Plastiktüten in den Händen nach oben schleppen. Die Griffe schnitten sich in die Handflächen ein und sie wunderte sich von Mal zu Mal, dass sie eigentlich nie rissen. Nur einmal waren dann fünf Kilo lose Kartoffeln über die 177 Stufen nach unten gerollt – natürlich nicht alle, aber einige hatten es fast nach unten geschafft. Und sie hatten dem Rollen zuschauen können, da die Trittflächen der Stufen mit verzinkten Metallgittern belegt sind, so dass man bei jedem Schritt in die Tiefe blicken konnte.
Beim zweiten Fenster pflegte sie nicht zu verschnaufen; der Blick hinaus machte ihr immer deutlich, dass es zu dieser Seite nur die See gab, nur Wasser und Wellen und Wind. Und am Tag einige Tanker, Segler und die wenigen Fähren. Und in der weiten Ferne Schweden zu erahnen, war ihr als Landratte dann doch zu vage. Das würde sich vielleicht ändern, wenn sie jemand fände, der sie mit dem Boot in diese Richtung mitnähme ...
Kurz vor dem dritten Fenster stellte sie die Tüten kurz ab. Schnaufte tief durch. Wartete. Und dann gab sie sich erneut einen Ruck und stieg weiter nach oben. Natürlich war sie verrückt. Nur eine, die ver-rückt sein wollte, konnte hier ihr Leben verbringen. Dreiundvierzig Minuten brauchte sie mit seinem Boot vom Festland hierher. Hier hoffte sie die Einsamkeit zu leben, damit sich ihre Seele füllte, bis zum Zerplatzen, was sie braucht, damit sich Gedanken neu formten, indem sie sich aus dem Zentrum ver-rückte, an den Rand stellte, die Perspektive wechselte und die gefüllte Seele vorsichtig leerte, indem sie schrieb oder malte. Sie so langsam leerte, als ob sie aus einem Luftballon langsam die Luft abließe. Und das ging nur in der Einsamkeit oder bei Liebeskummer. Sie lächelte. Aber auf die Schnelle war kein passender Mann zu haben gewesen.
Sie verschnaufte noch einmal kurz. Je weiter sie noch oben kam, desto häufiger wurden die Pausen. Lange hatte sie gedacht, dass sie eine Grenzgängerin sei. Das stimmte in gewisser Weise auch, aber die echte Grenzgängerin ist nie zu Hause. Sie flieht immer von der einen Seite zur anderen, weil sie eigentlich nicht dazu gehören will. Erst hatte sie an eine Hütte gedacht, oben bei Bärnau, an der Grenze nach Tschechien. Sie hätte sie sich billig mieten können. Der Blick wäre fantastisch gewesen. Die Terrasse wäre nach Westen gegangen: Deutschland am Abend, die großen Fenster nach Osten: Tschechien am Morgen. Und schon wäre das Entscheiden-Müssen wieder da gewesen. Es wäre kein wahres Ver-rückt-sein gewesen, sondern nur ein Am-Rande-Stehen. Und sie wollte ver-rückt sein.
Endlich war sie oben. Dr. Keppler stellte die Tüten kurz ab, öffnete die Tür, suchte den Lichtschalter, machte das Licht an und setzte den Schritt auf die knarzenden Holzdielen. Wärme umfing sie. Die Tüten stellte sie auf der Eckbank ab. Ihre Nasenflügel bebten etwas. Aber alles war wie immer: in der Küche war das Geschirr nicht aufgeräumt, auf den Tischen lagen Manuskriptseiten, ein halbvolles Rotweinglas daneben, die große Wolldecke lag zerknautscht in ihrem Lieblingssessel; die Fenster waren wie jeden Abend automatisch verdunkelt.
Sie knipste das Licht noch einmal aus und öffnete die Türe zum umlaufenden Balkon. Ein eisiger Wind peitschte ihr ins Gesicht und sie drückte sich so schnell wie möglich in die Lee-Seite des Aufbaus, setzte sich auf das Metallgitter und ließ ihren Blick über die See gleiten: unten das schwarze Wasser, weit draußen Lichtpunkte, etwas weiter nach rechts ein heller Bereich am Horizont: Kiel.
Sie genoss diesen Moment: das Durchschnaufen, das langsame Erkalten des Schweißes, das Salz, das sich auf die feuchte Haut legt und sie etwas spröde macht, den Geruch des salzigen Wassers und das Kreischen unsichtbarer Möwen. Das war einer der Augenblick, in denen sie sich auch nicht einsam fühlte und denen das Hoffen nicht hoch kroch, dass dennoch jemand käme, um sie aus ihrer selbst gewählten Einsamkeit zu befreien. Keppler zog ihre Knie an und zog sich die Kapuze über ihren Lockenkopf. Einen Moment lang dachte sie daran, sich von innen einen Tee zu holen. Aber sie blieb, den Kopf in den Nacken gelegt, die Luft tief in die Lunge ziehend, die Augen geschlossen. Sie lauschte den Wellen tief unten, dem Grummeln der Brecher an den Felsen. Und sie stellte sich vor, wie sich das Wasser gurgelnd zurückzog. Langsam zog die Wärme um ihr Herz, wie ein Kissen, in das sich ihre Seele legte. Und sie lächelte in den Wind und zwinkerte dem Mond zu.
Da hörte sie ein Geräusch wie das Schlagen der Tür. Und dann huschte eine dunkle und nicht allzu große Gestalt zu ihr, knurrten sie an: „Rutsch mal!“, breitete eine Decke aus, setzte sich ganz nah neben sie und deckte beide zu.
„Schau nicht so überrascht! Ich bin jetzt da!“
„Wer bist du?“, knurrt sie.
„Meine Liebe, wer weiß schon, dass du eine Insel in deinem Meer suchst?“
Sie kannte diese dunkle Stimme, sie kannte sie gut. Dieser Hauch von einem polnischen Akzent hatte sie immer aufhören lassen, wann auch immer er ihr begegnete. Und meist hatte sie lächeln müssen, wenn sie sich dabei in einem Gedanken an ihn erwischt hatte.
„Wie bist du hergekommen?“
Schweigen.
„Du Schweinhund, wie hast du mich gefunden?“
Die Frage war mehr als überflüssig; schließlich war sie präsent: eigene Website, hier und da mal ein Fernsehauftritt als Expertin für Seuchen im Mittelalter, wenn die Öffentlichkeit wieder mal eine neue Grippe erwartete.
„Hast du nichts zu trinken da?“, fragte er.
Aber sie wollte jetzt nicht reagieren, wollte ihn ausschweigen, ihm deutlich machen, dass das hier ihr Leben war, ihr Leben, in dem schon lange keinen Platz mehr für ihn war. Sie wollte ihre Ruhe haben, ganz grundsätzlich und besonders jetzt. Daher schwieg sie, daher regierte sie nicht auf seine Frage.
Dann erhob er sich endlich wieder, nahm die Decke mit und ging nach innen. Sie wartete und versuche zu denken. Doch ihre Gedanken wollten heute nicht klarer werden und so ließ sie sie in die Nacht gleiten. Einen nach dem anderen. Als die Kälte dann doch in ihren Körper kroch, folgte sie ihm nach innen. Sie schob die Kapuze von ihrem Kopf, zog die Jacke aus und hängte sie auf, die Stiefel stellte sie drunter.
„Na, dann hast du mich gefunden und bist jetzt da.“
Dann schauten sie sich lange an: Er war noch immer ein schöner Mann: nicht zu groß, nicht zu klein, voller Energie, noch immer funkelten seine dunkle Augen und um seinen ausgesprochen schönen Mund lag dieses überlegen-ironische Lächeln, das sie immer gereizt hatte und dem sie immer wieder erlegen war. Und dann war noch der Leberfleck über seiner Oberlippe. Sie schmunzelte, teilweise aus Sentimentalität, teilweise etwas resigniert und sagte:
„Nimm das Knäckebrot, etwas anderes ist nicht da. Und bring mir den Zucker, bitte. Der ist drüben auf dem Büffet.“
Und dann sagte sie: „Komm her! Setz dich neben mich!“
Dr. Keppler füllte ihre Tassen mit Tee und blickte ihm lange in die Augen und fragte dann leise: „Warum gerade ich?“
Er hatte keine Antwort parat, mied jetzt ihren Blick, schwieg. Da sagte er: „Wir waren jung damals.“
Sie nickte, schwieg ebenfalls, ließ ihren Blick durch den Raum wandern und nahm seine Worte auf: „Wir waren jung damals.“
Sie spürte seine Wärme neben sich.Sie rührten in ihren Tassen. „Hat dich die Bürgermeisterin hergebracht?“ Er nickte.
„Sie meinte, du könntest mich ja wieder zurückfahren, wenn du mich loswerden willst. Sie würde mir Asyl gewähren.“
Da stand sie auf, um aus der Küche eine Flasche Wein zu holen.
Zweimal
Dr. Keppler dreht den Schlüssel im Schloss, zog den Knauf etwas zu sich und die schwere Eisentüre öffnete sich. Es wunderte ihn noch immer, dass sogleich ein Windzug hineinblies, obgleich er oben alle Fenster abgedichtet hatte. Er trat ein, die Einkauftüten in den Händen, schloss die Tür wieder hinter sich und genoss, dass er jetzt keinen Wind mehr spürte und ihn ein trockener Raum umfing, auch wenn er kalt war und seine Schritte auf den Stufen laut hallten. Natürlich war er verrückt gewesen, als er sich auf den Handel eingelassen hatte: ein Jahr Wohnrecht und dafür musste er alle paar Wochen Gäste des Bürgermeisters durch den Turm führen, ihnen Tee mit Rum anbieten und sich fragen lassen, was einen waschechten Franken auf diese einsame Insel verschlug. Aber jetzt hatte er das, was er wollte: Natur, Einsamkeit, Selbstbestimmung. Bis auf die wenigen Ausnahmen konnte er hier bestimmen, wer mit ihm Kontakt aufnimmt.
Er blieb stehen, als er das erste Fenster erreicht hatte, warf einen Blick in die Nacht. Am Horizont viele kleine Lichter, leicht flackernd, dann immer wieder das Licht von Bülk. Er wusste nicht warum, aber er mochte seine Kennung: dieser Dreisekundentakt mit den kurzen Aufblitzen, das aber nicht zu kurz war; kein Wimpernschlag, sondern eher ein erstauntes Augenöffnen.
Er schnaufte noch einmal kurz durch, nahm die Einkaufstüten wieder auf und bewegte sich Stufe für Stufe nach oben. Wieder hatte er, als er losfuhr, vergessen, den Rucksack mitzunehmen. Und jetzt musste er wieder die Plastiktüten in den Händen nach oben schleppen. Die Griffe schnitten sich in die Handflächen ein und er wunderte sich von Mal zu Mal, dass sie eigentlich nie rissen. Nur einmal war ein Griff wirklich gerissen und fünf Kilo lose Kartoffeln waren über die 177 Stufen nach unten gerollt – natürlich nicht alle, aber einige hatten es fast nach unten geschafft. Und er hatten dem Rollen zuschauen können, da die Trittflächen der Stufen mit verzinkten Metallgittern belegt sind, so dass man bei jedem Schritt in die Tiefe blicken konnte.
Beim zweiten Fenster pflegte er nicht zu verschnaufen; der Blick hinaus machte ihm immer deutlich, dass es zu dieser Seite nur die See gab, nur Wasser und Wellen und Wind. Und am Tag einige Tanker, Segler und die wenigen Fähren. Und in der Ferne Schweden zu erahnen, war ihm als Landratte dann doch zu vage. Das würde sich vielleicht ändern, wenn er jemand fände, der ihn mit dem Boot in diese Richtung mitnähme ...
Kurz vor den dritten Fenster stellte er die Tüten kurz ab. Schnaufte tief durch. Wartete. Und dann gab er sich erneut einen Ruck und stieg weiter nach oben. Natürlich war er verrückt. Nur einer der ver-rückt sein wollte, konnte hier sein Leben verbringen. Dreiundvierzig Minuten brauchte er mit seinem Boot vom Festland hierher. Hier hoffte er die Einsamkeit zu leben, damit sich seine Seele füllte, bis zum Zerplatzen, was er braucht, damit sich Gedanken neu formten, indem er sich aus dem Zentrum ver-rückte, an den Rand stellte, die Perspektive wechselte und die gefüllte Seele vorsichtig leerte, indem er schrieb oder malte. Sie so lang-sam leerte, als ob er aus einen Luftballon langsam die Luft abließe. Und das ging nur in der Einsamkeit oder bei Liebes-kummer. Er lächelte. Aber auf die Schnelle war keine passende Frau zu haben gewesen.
Er verschnaufte noch einmal kurz. Je weiter er noch oben kam, desto häufiger wurden die Pausen. Lange hatte er gedacht, dass er ein Grenzgänger sei. Das stimmte in gewisser Weise auch, aber der echte Grenzgänger ist nie zu Hause. Er flieht immer von der einen Seite zur anderen, weil er eigentlich nicht dazu gehören will. Erst hatte er an eine Hütte gedacht, oben bei Bärnau, an der Grenze nach Tschechien. Er hätte sie sich billig mieten können. Der Blick wäre fantastisch gewesen. Die Terrasse wäre nach Westen gegangen: Deutschland am Abend, die großen Fenster nach Osten: Tschechien am Morgen. Und schon wäre das Entscheiden-Müssen wieder da gewesen. Es wäre kein wahres Ver-rückt-sein gewesen, sondern nur ein Am-Rande-Stehen. Und er wollte ver-rückt sein.
Endlich war er oben. Dr. Keppler stellte die Tüten kurz ab, öffnete die Tür, suchte den Lichtschalter, machte das Licht an und setzte den Schritt auf die knarzenden Holzdielen. Wärme umfing ihn. Die Tüten stellte er auf der Eckbank ab. Seine Nasenflügel bebten etwas. Irgendetwas roch anders als sonst. Aber alles war wie immer: in der Küche war das Geschirr nicht aufgeräumt, auf den Tischen lagen Manuskriptseiten, ein halb volles Rotweinglas daneben; die große Wolldecke lag zerknautscht in seinem Lieblingssessel; die Fenster waren wie jeden Abend automatisch verdunkelt.
Er knipste das Licht noch einmal aus und öffnete die Türe zum umlaufenden Balkon. Ein eisiger Wind peitschte ihm ins Gesicht und Keppler drückte sich so schnell wie möglich in die Lee-Seite des Aufbaus, setzte sich auf das Metallgitter und ließ seinen Blick über die See gleiten: unten das schwarze Wasser, weit drau-ßen Lichtpunkte, etwas weiter nach rechts ein heller Bereich am Horizont: Kiel.
Er genoss diesen Moment: das Durchschnaufen, das langsame Erkalten des Schweißes, das Salz, das sich auf die feuchte Haut legt und sie etwas spröde macht, den Geruch des salzigen Wassers und das Kreischen unsichtbarer Möwen. Das war einer der Augenblick, in denen er sich auch nicht einsam fühlte und denen das Hoffen nicht hoch kroch, dass dennoch jemand käme, um ihn aus seiner selbst gewählten Einsamkeit zu befreien. Keppler zog seine Knie an und zog sich die Kapuze über den glatt rasierten Schädel. Einen Moment lang dachte er daran, sich von innen einen Tee zu holen. Aber er blieb sitzen, den Kopf in den Nacken gelegt, die Luft tief in die Lunge ziehend, die Augen geschlossen. Er lauschte den Wellen tief unten, dem Grummeln der Brecher an den Felsen. Und er stellte sich vor, wie sich das Wasser gurgeln zurück-zog. Langsam zog die Wärme um sein Herz, wie ein Kissen, in das sich seine Seele legte. Und er lächelte in den Wind und zwinkerte dem Mond zu.
Da hörte er ein Geräusch wie das Schlagen der Tür. Und dann huschte eine dunkle und nicht allzu große Gestalt zu ihm. Knurrten ihn an: „Rutsch mal!“, breitete eine Decke aus, setzte sich ganz nah neben ihn und deckte beide zu.
„Schau nicht so überrascht! Ich bin jetzt da!“
„Wer bist du?“, knurrt er.
„Mein Lieber, wer weiß schon, dass du eine Insel in deinem Meer suchst?“
Er kannte diese dunkle Stimme, er kannte sie gut. Dieser Hauch von einem polnischen Akzent hatte ihn immer aufhören lassen, wann auch immer er ihm begegnete. Und meist hatte er lächeln müssen, wenn er sich dabei in einem Gedanken an sie erwischt hatte.
„Wie bist du hergekommen?“
Schweigen.
„Du Luder, wie hast du mich gefunden?“
Die Frage war mehr als überflüssig; schließlich war er präsent: eigene Website, hier und da mal ein Fernsehauftritt als Experte für Seuchen im Mittelalter, wenn die Öffentlichkeit wieder eine neue Grippe erwartete.
„Hast du nichts zu trinken da?“, fragte sie.
Aber er wollte nicht reagieren, er wollte sie ausschweigen, ihr deutlich machen, dass das hier sein Leben war, sein Leben, in dem schon lange keinen Platz mehr für sie war. Er wollte seine Ruhe haben, ganz grundsätzlich und besonders jetzt. Daher schwieg er, daher regierte er nicht auf ihre Frage. D
ann erhob sie sich endlich wieder, nahm die Decke mit und ging nach innen. Er wartete und versuchte zu denken. Doch seine Gedanken wollten heute nicht klarer werden und so ließ er sie in die Nacht gleiten. Einen nach dem anderen.
Als die Kälte dann doch in seinen Körper kroch, folgte er ihr nach innen. Er schob die Kapuze von seinem Kopf, zog die Jacke aus und hängte sie auf, die Stiefel stellte er drunter.
„Na, dann hast du mich gefunden und bist jetzt da.“
Dann schauten sie sich lange an: Sie war noch immer eine schöne Frau: nicht zu groß, nicht zu klein, voller Energie, noch immer funkelten ihre dunkle Augen und um ihren ausgesprochen schönen Mund lag dieses überlegen-ironische Lächeln, das ihn immer gereizt hatte und dem er immer wieder erlegen war. Und dann war noch der Leberfleck über ihrer Oberlippe. Er schmunzelte, teilweise aus Sentimentalität, teilweise etwas resigniert und sagte: „Nimm das Knäckebrot, etwas anderes ist nicht da. Und bring mir den Zucker, bitte. Der ist drüben auf dem Büffet.“
Und dann sagte er: „Komm her! Setz dich neben mich!“
Dr. Keppler füllte ihre Tassen mit Tee und blickte ihr lange in die Augen und fragte dann leise: „Warum gerade ich?“ Sie hatte keine Antwort parat, mied jetzt seinen Blick, schwieg. Da sagte sie: „Wir waren jung damals.“
Er nickte, schwieg ebenfalls, ließ seinen Blick durch den Raum wandern und nahm ihre Worte auf: „Wir waren jung damals.“
Er spürte ihre Wärme neben sich.
Sie rührten in ihren Tassen. „Hat dich der Bürgermeister hergebracht?“
Sie nickte. „Er meinte, du könntest mich ja wieder zurückfahren, wenn du mich loswerden willst. Er würde mir Asyl gewähren.“
Da stand er auf, um aus der Küche eine Flasche Wein zu holen.