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Zwischen Damaskus und Los Angeles
„Frag schon“, sagte die Stimme neben ihm. Rubens Arme schmerzten. Und ihm fiel das Wort Kugelgelenk ein. Er hing an einem Sims und seine Arme brannten, wenigstens jetzt, vor ein paar Lidschlägen hatten sie sich taub angefühlt.
„Mach schon, frag mich, was ich so mache.“
Ruben schaute zu der Stimme herüber. Ich werde sterben, dachte er. Aber wenigstens geht der stinkende Bastard mit drauf. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Kugellager. Nur weil er gut in Latein war. Scheiß Latein.
„FRAG endlich!“
Ruben stöhnte auf, biss die Zähne fest aufeinander und zischte hindurch: „Und was machst du so?“
„Nichts, ich häng nur ein bisschen rum“, sagte der andere.
Nicht mal erwürgen konnte er ihn, er hatte einfach keine Hand frei.
Ein paar Stunden vorher
Seit er Priester war, hatte er viel mehr Sex als früher. Während des Studiums fiel höchstens mal eine Studentin ab, eins von den dürren Dingern, die Islamistik studierten und ständig von Damaskus faselten. Drahtige Dinger, die sich in der eigenen Unverfrorenheit suhlten, und die nach zu starkem Kaffee und blauen Gauloises rochen; die Hesse zitierten, aber nur ironisch. Die ironisch schwitzten, ironisch sprachen, ironisch rochen. Nihilistin sein, über Damaskus reden und mit einem Theologiestudenten vögeln. Der Gipfel der Ironie.
Rubens Schläfen pochten, während sich die Schenkel der Blondine um seine Hüften pressten. Er hatte den Mund auf und sein Kopf war leer. Er war in ihr, sie war wie ein Knabe, kaum Brüste, feste Muskeln, sie hielt ihn in sich, er stieß in sie hinein, mehr mit Kraft als mit Eleganz. Als er endlich kam, ließ er sich fallen und blieb auf ihr liegen.
Sie stieß mit der flachen Hand gegen seine Seite und rollte ihn von sich runter. Ruben blieb mit dem Gesicht in der Matratze liegen.
„Du hättest deine Soutane anbehalten sollen. Das hätte mir gefallen“, sagte sie. Sie stand schon neben dem Bett, hatte den Rücken durchgebogen, der kleine Mohawk-Streifen auf ihrer Scham sah tadellos aus.
„Grenzen“, sagte Ruben mit einer Zunge, die trocken im Mund lang. Hatte die Studentin ihm damals Kaffee gemacht oder geraucht?
„Das hätte mir trotzdem gefallen“, sagte sie. Das Bett unter ihm wackelte kurz, sie hatte sich darauf gesetzt, um ihre Söckchen anzuziehen. Die von früher hatten Sandalen getragen, hm?
„Warum wird jemand wie du Priester?“
„Latein-LK, was hätte ich sonst werden sollen?“
Ruben tastete in die ungefähre Richtung des Nachttischschränkchens, zog die oberste Schublade auf, wo neben der Bibel und einer Handvoll Kondome auch die Schachtel Luckies lag.
„Psychologe“, sagte die Knaben-Frau. „Die Priester des neuen Jahrhunderts.“
Ruben rollte sich auf den Rücken und sah ihren festen Po in den Jeans. Wirklich knabenhaft, vielleicht stand er ja doch auf Knaben. Wenn man den Zeitungen glaubte, gehörte das fast schon zu seiner Berufsbeschreibung.
Ein Piepser klingelte von irgendwoher.
„Jau, dann viel Spaß noch“, sagte Ruben, zündete sich eine Zigarette an und schloss die Augen.
Als er aufwachte, lag Asche auf seinem Brustkorb und es roch verbrannt, die Zigarette hatte ein Loch in das Laken neben ihm gefressen. „Dabei trink ich doch gar nichts“, sagte er.
Ein Telefon klingelte, davon musste er aufgewacht sein.
Ruben hob ab und lauschte eine Weile.
„Ein Notfall?“, fragte er irgendwann. Ruben wartete seit vier Jahren darauf, dass der Pressereferent starb und er irgendetwas halbwegs Produktives zu tun bekam. „Ist er tot?“
„Sie sind doch Exorzist, nicht wahr?“, fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung.
„Ist das ein Witz?“
„Ich spreche doch mit Pater Ruben Steinberg, nicht wahr?“
„Nennen Sie mich Monsignore“, wollte er sagen, verkniff es sich aber und murmelte: „Was von ihm übrig ist.“ Er hätte geistlicher Berater für Hollywood-Filme werden sollen. Für Sin Eater und diesen Scheiß. Hätte er gleich nach Rom machen sollen. Opus Dei, Hexenhammer, der Speer in Jesu Seite. Jetzt fiel es ihm ein. Acht Jahre zu spät.
„Wir haben einen Fall von Besessenheit und Sie sind zuständig.“
„Rufen Sie doch einen Psychologen“, wollte er murmeln, sagte stattdessen aber: „Ich bin auf dem Weg.“
Der alte Ford roch pelzig. Rauch, Aftershave und Parfüm hatte sich in die Fellbezüge der Sitze eingenistet. Ruben fühlte sich für einen Moment zu Hause, er strich über seinen Mund und ließ den Motor an.
Auf der Autobahn schaltete er das Radio ein: „ … dauern die Kämpfe in Jerusalem weiter an.“ Ruben schaltete um.
„In Nordirland haben …“ Ruben schaltete um.
Born in the USA lief und Ruben musste grinsen. Eine Anklage, die zu einer Hymne wurde.
„Das hast du von deiner Scheiß Ironie, Bruce“, sagte er. Aber niemand war da, der ihn hören konnte, also sog Ruben noch einmal den Rauch, den Pelz, das Aftershave und das Parfüm in sich auf und fühlte sich für einen Moment zu Hause.
Das Sanatorium lag mitten im Nichts. Landstraßen hatten ihn hierher geführt. Landstraßen, die kein Ende nahmen, überall Bäume. „Letzte Nacht träumte ich, ich sei wieder in Manderley“, dachte er, als er über den Kies schlurfte und an die Pforte klopfte. Er zog seinen Kragen grade, während er darauf wartete, dass ihm jemand auftat.
Warum wird jemand wie du Priester? Weil ich gut in Latein war. Exorzismus, er hatte Rom sehen wollen. Klar, aus intellektueller Sicht war das ganz interessant gewesen. Die Ausläufer der Inquisition. Frau auf ein Floß gelegt und einen Wasserfall runtergeworfen. Blieb sie oben, mit dem Allbösen in Verbindung, Buhle des Satans und verbrannt. Ertrank sie: Dumme Sache, Himmelreich auf ewig. In nomine dei.
Ruben hatte im Circus Maximus gesessen und sich vorgestellt, wie es damals gewesen sein mochte. Christen gegen Löwen. Bereit für ihren Glauben zu sterben, so wie die armen Idioten überall auf der Welt.
Bildung ist der Feind des Glaubens. Wie kann ich den Sommernachtstraum gelesen haben und mich danach ins World Trade Center stürzen? Bildung ist doch immer Ironie. Nein, für echten Glauben war Ruben achthundert Jahre zu spät auf die Welt gekommen.
Jemand machte ihm die Tür auf. Ein alter Mann, er ging ihm kaum bis zur Brust. Haarloses Gesicht, bis auf zwei buschige, graue Augenbrauen.
„Sie haben einen Exorzismus bestellt“, sagte Ruben.
Der Mann drehte sich wortlos um und lief eine Treppe zu seiner Linken herauf. Es roch muffig. Ist wohl ein Privat-Sanatorium, dachte Ruben, und folgte. Das Holz knirschte unter seinen Füßen. Er sperrte die Ohren auf. Irgendwelche Schreie mussten doch zu hören sein. Damaskinische Studentinnen, die in ihren Zellen lagen, von der Inquisition aus dem Verkehr gezogen, weil sie das Unbeschreibliche getan hatten.
„Ich bin aber kein Experte für Epilepsie“, sagte Ruben in das Knirschen der Stufen hinein. „Wirklich nicht, wir sollten auf jeden Fall einen Allgemeinmediziner hinzuziehen.“
„Konsultieren“, korrigierte Ruben einige Momente später, als sie schon vor der Tür standen. „Nicht hinzuziehen, konsultieren wollte ich sagen.“
Der alte Mann öffnete die Tür. So sieht also ein Besessener aus, dachte Ruben und trat ein.
Der Besessene war ein ganz schöner Brocken und stank wie ein Elch. Ein Braunbärenbart bedeckte weite Teile seines Gesichts, fast bis zu den Augen hoch. Räuber-Hotzenplotz-Stil.
Er trug ein weißes Gewand und war mit Handschellen und Seilen an das schwere Eichenbett gekettet. Handschellen, kein Wunder, dass Priester so was hatten.
Ruben hatte keine Ahnung, was man nun von ihm erwartete, also zog er sein Zippo, strich mit dem Daumen über das Zündrad, so dass eine schöne Flamme herauskam. Oben rot und unten bläulich. Dann hielt er das Feuerzeug vor die Augen von Hotzenplotz und fuhr damit gleichmäßig nach links und rechts. Wie bei einem Springsteen-Konzert. Er achtete auf die Augen des anderen.
„Godzilla“, sagte der mit schwacher Stimme.
Ruben klappte das Feuerzeug zu, machte „Mhm“ und sah sich im Raum um. Neben dem alten Mann, der ihn hergebracht hatte, war noch ein kräftiger Typ im Anzug hier. Halbglatze, Schlips, schwarz, sah aus, als käme er von irgendeiner Beerdigung. „Ich denke wir werden keinen Allgemeinmediziner brauchen. Sie müssen der Abt sein, oder nicht?“
„Laie“, sagte er. „Konrad Ferdinand Meyerhöfer, mein Name. Ich hatte gehofft, bei der Konsultation zugegen sein zu dürfen.“
„Ja, das geht nicht. Das fällt unters Beichtgeheimnis. Werden Sie bestimmt verstehen, ich ruf dann, wenn was ist, hm?“ Ruben ging auf den Mann zu, drückte ihm die Hand in den Rücken (der Anzug fühlte sich widerborstig an) und schob ihn zur Tür.
Der alte Mann huschte ebenfalls hinaus. Als die beiden weg waren, zündete sich Ruben eine Zigarette an und zog einen schweren Stuhl ans Bett. Er knarrte über den Dielenboden und Hotzenplotz stieß ein „Aaaaaah“ aus.
„Mal ziehen?“, fragte Ruben und hielt ihm die Zigarette hin.
„Da wo ich hingehe, ist genug Rauch und Schwefel“, sagte der andere mit einer nicht unangenehmen Stimme. Tief und klar.
„Bisschen konventionell, hm? Rauch, Schwefel, Dreizack.“ Ruben zuckte die Schulter. „Ich dachte die Hölle des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist mehr wie eine Darmspülung.“
„Latent schwul?“
Ruben blies dem Simulanten Rauch ins Gesicht und sagte: „Lungenkrebs, hm?“
„Was Sie da haben“, sagte Ruben nach einer Weile, „ist uralt. Bibliothek von Alexandria, ein Typ hat sie abgefackelt, achthundertzweiundvierzig vor Christus. Weil er unsterblich werden wollte. Er dachte, wenn er sie abfackelt, geht sein Name in die Geschichtsbücher ein und er lebt für immer fort. Die alten Griechen haben ihn bei lebendigem Leib verbrannt und dafür gesorgt, dass sein Namen aus allen Analen gestrichen wird.“
„Herostratus“, sagte der Besessene.
Scheiße, dachte Ruben.
„Und es war nicht die Bibliothek von Alexandria, sondern der Artemis-Tempel in Ephesos. Das Datum ist auch falsch.“
„Der Kern der Geschichte bleibt trotzdem gleich. Kein Mensch interessiert sich für so was. Wer hat denn Lennon erschossen, hm? Wer Lincoln? Wer den Scheiß Jesse James?“
„Mark David Chapman, John Wilkes Booth und Robert Ford.“
„Ja, okay, das waren jetzt keine guten Beispiele, aber“, Ruben schlug mit den Fingerspitzen der rechten Hand in die Handfläche seiner linken. „Wer war der Soldat, der den Speer in Jesu Seite geschlagen hat, als er am Kreuz hing.“
„Na, das war ich.“
„Er ist nicht verrückter als Sie oder ich“, sagte Ruben zu Meyerhöfer in dessen Büro, hielt sich mit der Handoberseite das linke Nasenloch zu und schnäuzte trocken. „Sie können ihn auf jeden Fall nicht fesseln. Das ist Mittelalter.“
„In der Bibel steht …“
„Ja, im Alten Testament vielleicht. Im Neuen ist von so was keine Rede.“
„Die Schweineherde, die in den Fluss getrieben wird. …“, setzte Meyerhöfer an.
„Ist eine Allegorie, bei allem was recht und heilig ist. Dass sich jeder ändern kann. Dass es nie zu spät ist.“
„Er hat getobt und in Zungen gesprochen. Landwirte aus der Gegend hier.“
„Die hätten ihn wahrscheinlich am liebsten mit einem Mähdrescher überfahren, das ist mir klar. Wenn’s unbedingt sein muss, dann sedieren sie ihn, aber binden Sie ihn endlich los. Wenn die Zeitung erfährt, Mann, dann haben wir hier einen ordentlichen Skandal. Stellen Sie sich mal die Überschrift im Spiegel vor: Guantanamo In nomine dei.“
Ruben beaufsichtigte, wie der alte Mann, der wiederum von Meyerhöfer beaufsichtigt wurde, den Besessenen losband.
„Danke“, sagte der schließlich, während sich der alte Mann bekreuzigte und vom Bett wegschlich. „Wann beginnen Sie mit dem Exorzismus?“
„Soll ich Ihnen ein Abendessen bringen lassen?“, fragte Ruben, als er wieder mit dem Besessenen alleine war. „Einen schwarzen Hahn, ne frische Fledermaus oder so?“
„Danke“, sagte der Bärtige und rieb sich seine Obername.
Muskeln, dachte Ruben. Ist echt ein Brocken, Fitness-Center-Dauerkarte, aber eigentlich zu bleich dafür. Durch den Bart hatte er sich vorgestellt, der Mann hätte etwas Wettergegerbtes, Raues, einen bronzenen Teint, aber jetzt, da er sich den weißen Totenkittel hochschob und seine Arme und Beine massierte, waren sie weiß. Ein edles, kränkliches Alabasterweiß.
„Und wie soll ich Sie überhaupt nennen?“
Der Mann murmelte einige kehlige Laute, Rubens Nackenhaare stellten sich.
„Scheiße, das war aramäisch, oder?“
Der Mann schaute ihn aus Augen an, die wie schwarze Steine aus einem Dame-Spiel aussahen.
„Das war aber nicht Ihr Name, oder? Das war irgendwas mit Wasser.“
„Seine letzten Worte“, sagte der Mann wieder mit dieser angenehm tiefen Stimme und zeigte mit dem Kopf auf ein Kruzifix über dem Türeingang. „Bitte, kann ich etwas Wasser haben.“
„Sie kriegen mich nicht“, sagte Ruben und lächelte. „Aber Sie sind echt gut. Warten Sie aufs Sommerloch, gehen Sie zum Spiegel, wenn sie hier raus sind, zur Blitz-Illu, zur Bildzeitung, was weiß ich. Erzählen Sie das, dann sind Sie zwei Tage lang auf den bunten Seiten und vielleicht machen ein paar Forscher Kohlenstoff-Tests, oder was weiß ich. Dürfte ein hübsches Sümmchen für Sie dabei rausspringen, vielleicht kommen Sie sogar zu Kerner, nur gehen Sie doch einfach, lassen Sie die guten Leute hier in Ruhe.“
„Es ist nur fair“, hörte Ruben eine Frauenstimme von draußen. „Er hatte ihn lange genug für sich alleine, jetzt bin ich dran.“
„Aber Täubchen, du kannst doch nicht.“ Das war Meyerhöfers Stimme.
„Die Taube ist ein Dornenvogel“, sagte der Mann auf dem Bett.
Die Tür ging auf und die Frau mit der knabenhafte Figur, den Jeans und dem Pieper von heute morgen stürmte ins Zimmer. Einen bleichen Meyerhöfer im Schlepptau.
„Entschuldigen Sie, Pater“, setzte er an.
„Monsignore“, korrigierte Ruben und ging auf die Tür zu.
„Sie ist …“
„Psychologin, ich weiß“, sagte Ruben, und zu der Frau, mit der er vor ein paar Stunden geschlafen hatte, flüsterte er: „Sieh bloß zu, dass du den hier rauskriegst. Das ist ein PR-Albtraum auf zwei Beinen.“
Während er Meyerhöfer in dessen Büro gegenübersaß, starrte Ruben abwechselnd auf Meyerhöfer und auf Jesus am Kreuz, das direkt über ihm hing. Bitte, etwas Wasser, dachte Ruben. Und: Mein Gott, wir schlafen mit derselben Frau. Der sieht aus wie mein Lateinlehrer von damals.
„Ruhige Gegend hier“, sagte Ruben irgendwann.
„Ja, man findet zu sich selbst“, fistelte Meyerhöfer und räusperte sich in der Mitte des Satzes.
„Bleibt auch viel Zeit für Hobbies, hm? Taubenzucht zum Beispiel.“
Meyerhöfer griff unter sich und stellte eine Flasche Cognac auf den Tisch. Er schenkte zwei Gläser ein und schob eins davon zu Ruben herüber. „Ich bin ein Mann Gottes“, sagte er, „aber ich habe nie das Gelübde abgelegt.“
„Und ich trinke nicht“, sagte Ruben. Er hätte laut losgelacht, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. „Dieses Faktotum, das hier rumspringt.“
„Albert“, sagte Meyerhöfer, der kreidebleich war seit ein paar Sätzen. „Unser Obergärtner und Verwalter. Die gute Seele, die durch unsere Hallen wandelt. Fest im Glauben.“
Früher hätte der an deiner Stelle gesessen, dachte Ruben. Und ich hätte im Bett gelegen mit Hand- und Fußketten. Und die Bauern hätten Fackeln gehabt und keine Mähdrescher.
Ruben stand auf und ging zu einem Fenster. „In welche Himmelsrichtung geht das raus?“
Im Westen lag Los Angeles, im Osten Damaskus. Beides Städte der Engel.
„Das weiß ich nicht“, entgegnete Meyerhöfer. „Soll ich das ermitteln?“
„Nein, danke. Trinken Sie ihren Cognac, Sie haben ihn sich verdient.“
Kein Ring, dachte Ruben, während Meyerhöfer nach dem Glas griff. Das Täubchen singt für wen es will.
Ruben verlor Stunden und wusste nicht an wen. Eben waren sie noch da, dann einfach weg. Er war durch das Sanatorium gewandert, hatte nach Stimmen gelauscht, sich vom Fenster aus seinen blauen Ford angesehen, sich an den Geruch erinnert und sich heimisch gefühlt, für ein oder zwei Wimpernschläge. Ruben war durch Gänge gelaufen, bis zum Dach hoch, hatte fast damit gerechnet, dort einen Glockenturm zu entdecken, aber nur ein flaches Dach mit einem Sims gefunden. Musste neu gemacht worden sein, nicht sehr mittelalterlich. Er war die Wände entlanggestrichen mit den Fingerspitzen, auf der Suche nach Geheimgängen. War in den Keller gestiegen, in der Erwartung Folterinstrumente zu finden. Eine eiserne Jungfrau, eine Streckbank, wenigstens eine glühende Esse. Schließlich hatte er sich auf dem Klo eingeschlossen, fünf Minuten auf dem Porzellan gesessen und sich gefragt, was ironischer wäre, hier mit einer damaskinischen Studentin zu schlafen oder sich einen runterzuholen. Er hatte keins von beidem getan, die Tür aufgesperrt und sich lange im Spiegel angesehen. Ruben ließ Wasser durch die Hände laufen, befeuchtete sich die Fingerspitzen und rieb sie an seinen Schläfen. Manchmal verlor Ruben Stunden. Er wusste nicht an wen.
Der alte Albert warf sich mit der Schulter voran gegen die schwere Holztür. Meyerhöfer hatte eine Axt in der Hand. Der Stiel war holzfarben, hell lackiert, und die Schneide rot. Holz splitterte. „Hier kommt Jackie“, dachte Ruben müde. Durch das Loch in der Tür konnte er ihre Leiche sehen. Der bärtige Mann hatte ihren Kopf auf seine Oberschenkel gebettet und schaute Ruben aus diesen schwarzen Dame-Augen an.
„Oh Gott“, sagte Meyerhöfer. „Oh Gott, oh Gott, oh Gott, er hat sie umgebracht.“
Denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht. Das ist ein PR-Albtraum, dachte Ruben.
„Ich war es nicht, ich bin eben erst aufgewacht“, sagte der bärtige Mann. Mit der linken Pranke streichelte er der Frau durchs Haar.
Ruben starrte auf das Bild, das sich ihm bot. Die Pranken, die das luftige Haupt hielten. Das schwere Eichenbett, an das der Mörder jetzt noch gefesselt wäre, wenn Ruben niemals geboren wäre. Er starrte auf das Glas Wasser am Nachttisch. Friedlich stand es da. Es nahm nichts zur Kenntnis. Es war sich selbst genug.
Kann ich Wasser haben, bitte? Meyerhöfer schlug die Axt ohnmächtig in die Tür.
„Wir müssen die Behörden verständigen“, sagte Meyerhöfer.
Ruben massierte sich selbst den Nacken.
„Ich, ich muss mir das erstmal angucken, machen Sie dicht, keiner geht oder kommt hier rein.“
Meyerhöfer starrte ihn ungläubig an. „Es ist doch Ihre Schuld!“, schrie er nach einer Weile, kraftlos, aber so wütend wie er im Moment noch konnte.
„Eben“, sagte Ruben und stand auf. „Eben. Hatte Sie einen Mann, Kinder, jemand, der sie vermisst?“
„Nicht, dass ich wüsste“, sagte Meyerhöfer und schluchzte.
„Das Personal hier hält dicht?“
„Albert wird sich darum kümmern.“
„Ich brauch nicht lang. Irgendwas in meinem Bauch sagt mir, dass es nicht so ist, wie es scheint.“ – Mein Hirn sagt es mir, mein Hirn sagt mir, ich bin nicht schuld.
„Machen Sie doch, was Sie wollen“, sagte Meyerhöfer und weinte in seine Hand.
Ruben straffte sich. Er hielt den Handrücken unter seine Nase und schnaubte trocken.
Wenn das Krokodilstränen sind. Cui bono? Wem nützt es? Bist du mein Hauptverdächtiger, Täubchenhalter?
Auf dem Weg zum Tatort ging Ruben durch, was er über Morde wusste. Motive: Habgier, Lust, Eifersucht, Mordlust, Rache. Cui bono, hatte er vorhin schon. Dann förderte sein Hirn noch solche Delikatessen zu Tage wie die Unschuldsvermutung, dass ein Tatort drei Dimensionen hatte und dass man das Unmögliche ausschließen musste.
Was mach ich hier eigentlich?, fragte sich Ruben auf halbem Weg und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Mauer. Ein falscher Exorzist, der Detektiv spielen will. Wo er stand, zog er sich die Soutane aus und ließ sie zu Boden fallen.
„Ich muss eingeschlafen sein“, sagte der Mann. Er hatte sich von Albert fesseln lassen, ohne Widerstand zu leisten. Nun, Meyerhöfer hatte sich auf den Körper der Toten geworfen, mit den Fäusten gegen die Brust des Bärtigen getrommelt und Ruben hatte hilflos die Axt vom Boden aufgehoben, sie in die ungefähre Richtung des bärtigen Mannes gehalten und Albert dabei zugesehen, wie er ihm flink die Handschellen anlegte. Albert …
„Das ist eine Scheiß-Ausrede“, sagte Ruben. „Ich muss eingeschlafen sein, euer Ehren! Genau. Ich bin gestolpert und zufällig mit meinem Schwanz in Ihrer Frau gelandet!“
„Verdammt, es war so … Also das erste Beispiel, Eure Eminenz.“
„Überzeugen Sie mich doch mal von Ihrer Unschuld. Los.“
Der Mann zuckte mit den Schultern. „Ich bin schuldig. Es gibt auf der ganzen Welt niemanden, der schuldiger ist als ich.“
„Hören Sie mit der Scheiß-Speer-Nummer auf, das ist kein Spiel mehr.“
„Bitte, kann ich etwas Wasser haben“, sagte der Mann.
„Hier geht es um ihr Leben, begreifen Sie das doch, Mann. Nicht mal mir wäre das alles so scheißegal.“
„Ich war Priester, drei mal Hundert Jahre lang. Ich hab mich nicht besser gefühlt.“
„Das ist mir scheißegal“, sagte Ruben.
„Ich hab vergessen, wie man das macht. Das Sterbesakrament. Es ist schon so lange her, ich hab es einfach nicht mehr gewusst.“
„Wie kann man einfach einschlafen. Mitten in einem Gespräch? Erklären Sie mir das mal. War sie so langweilig?“
„Nein, gar nicht. Wir haben über Reue gesprochen, glaub ich. Über das psychologische Konzept des schlechten Gewissens.“ Der bärtige Mann lächelte dünn. „Sie war interessant.“
„Toll, Sie wollten ihr an die Wäsche und dann haben Sie sie umgebracht.“
Der Mann winkte ab, jedenfalls machte er eine entsprechende Kopfbewegung, mit den Händen konnte er ja schlecht. „Ich würde ja anbieten, mich vom Dach zu stürzen“, sagte er schließlich. „Allerdings würde das nicht viel bringen. Hab’s oft genug versucht.“
„Hören Sie damit auf“, sagte Ruben. „Zum letzten Mal.“
„Bitte, exorzier mich. Mach mir ein Ende. Vielleicht schaffst du es ja. Gottesfürchtigere als du haben versagt.“
Die Sache mit dem Dach wäre die einfachste. Man könnte irgendetwas arrangieren. Aber die Dörfler mit ihren Mähdreschern wussten es, und egal, was Meyerhöfer sagte, irgendeiner würde reden. Nur weil Ruben das Personal nicht wahrnahm, hieß das nicht, dass keins da war. Ständig begegnete ihm ein Pfleger, eine Nonne ging an ihm vorbei und bekreuzigte sich – er hatte doch gar keine Soutane mehr an? – und ein Hausmeister tauschte eine Glühbirne aus, in genau jenem Kellerraum, in dem die Frau aufgebahrt lag.
„Könnte ich alleine mit ihr sein?“, fragte Ruben.
Der Hausmeister ging, ohne ein Wort zu sagen.
Ruben strich über die Söckchen der Toten, tadellos lagen sie an den Füßen. Die Bluse war zugeknöpft. Ruben drehte die Tote auf den Bauch und schob ihre Bluse hoch: Auch alle drei Haken am BH waren geschlossen. Die Totenriten waren ihm immer unangenehm gewesen. Er hatte nichts Göttliches in den Augen von Leichen gesehen. Nie.
Ruben schlug den Kragen ihrer Bluse herunter und seufzte auf. Rote Striemen waren auf ihrem Hals zu sehen, rechts und links des Kehlkopfes, sie war mit zwei Händen erwürgt worden. Er legte selbst seine Hände probeweise an ihren Hals, so dass sich seine Daumen an ihrem Kehlkopf trafen, doch selbst seine Hände waren größer als jene, die diese Abdrücke hinterlassen haben mussten. Er erinnerte sich an die Pranken des bärtigen Mannes. Unmöglich.
Doch Meyerhöfer … Ruben versuchte sich an die Hände Meyerhöfers zu erinnern, wie sie das Cognacglas gehalten hatten und später die Axt. Wie groß war so ein Cognacglas? Und warum? Scheiße, hatte er sie verfolgt? Wusste Meyerhöfer von ihr und Ruben?
Ruben zündete sich eine Zigarette an und küsste ihr Rauch gegen die Stirn.
„Du warst selbst schuld, mein Täubchen. Solche wie du gehören nach Damaskus und nicht in die Provinz“, flüsterte er, bevor er zu rennen begann.
Er rannte. Nonnen sprangen ihm aus dem Weg. Blut ballerte ihm durch die Waden. Kleine Stöße gingen von seinen Sohlen durchs Rückgrat zum Hirn hoch und er musste lachen. Er fummelte an seinem Kragen herum, während er noch rannte, und wollte schreien: „Frei. Endlich frei!“ Und das alles, weil er gut in Latein war und Rom sehen wollte. Ironie war der Feind des Glaubens und bei Gottvater, Gottgeist, Gottkind noch mal und eins – die Tür zum Tatort stand weit offen. Das Lächeln verschwand aus Rubens Gesicht. Mit der Hand fuhr er die Konturen des Lochs entlang, die Splitter: Das Zimmer war leer.
Es würde nicht mal Mord sein. Meyerhöfer würde dem Bärtigen nur seinen Willen lassen, der wollte ja springen.
Ruben rannte zum Dach hoch.
Die Luckies forderten auf halbem Weg ihren Tribut und er spuckte grauen Schleim gegen eine Flurwand. Manchmal verlor er Stunden. Er wusste nicht an wen. Die Tür flog auf und er sah in den hellen Nachthimmel. Eine frische Brise wehte und die Umrisse des bärtigen Mannes tauchten auf dem Flachdach vor ihm auf.
„Bitte“, sagte eine gebrechliche Stimme, die sich im Wind verlor. Ruben ging auf die Silhouette zu und stellte sich neben den Mann.
Er zündete sich eine Zigarette an und schaute nach unten. „Ganz schön tief.“
„War schon tiefer“, sagte der Mann.
Ruben warf seine Zigarette nach unten und sein Blick folgte dem Flug der Glut. Die Zigarette drehte sich zwei- oder dreimal auf ihrem Weg nach unten.
„Wenn du lange genug in den Abgrund schaust“, sagte er.
„Dann willst du springen“, antwortete der Mann.
„Das wird nichts ändern. Niemand wird sich an deinen Namen erinnern.“
„Ich erinnere mich selbst nicht mehr an ihn. Ich hab mal gedacht, es würde helfen, wenn ich ihn vergesse. Das war schon früh.“ Der Mann lächelte matt. „Es ist nur ein Name. Es ist alles nur irgendwas.“
„Es ist ein gnädiger Gott“, sagte Ruben.
„Ja“, sagte der Mann. „Es gibt keine Strafen. Nur das Erdulden.“
„Ich weiß, dass du sie nicht getötet hast.“ Ruben ergriff die Hand des Mannes. Er stank wirklich wie ein Elch, aber seine Hand fühlte sich stark an und weich.
„Bitte“, sagte der Mann. „Hast du etwas Wasser?“
„Da, wo du hingehst, wirst du kein Wasser mehr brauchen“, hörte Ruben eine Stimme hinter sich keifen, er spürte eine Schulter in seinem Rücken und …
„Frag schon“, sagte die Stimme neben ihm. Rubens Arme schmerzten. Und ihm fiel das Wort Kugelgelenk ein. Er hing an einem Sims und seine Arme brannten, wenigstens jetzt, vor ein paar Lidschlägen hatten sie sich taub angefühlt.
„Mach schon, frag mich, was ich so mache“
Ruben schaute zu der Stimme herüber. Ich werde sterben, dachte er. Aber wenigstens geht der stinkende Bastard mit drauf. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Kugellager. Nur weil er gut in Latein war. Scheiß Latein.
„FRAG endlich!“
Ruben stöhnte auf, biss die Zähne fest aufeinander und zischte hindurch: „Und was machst du so?“
„Nichts, ich häng nur ein bisschen rum“, sagte der andere.
Nicht mal erwürgen konnte er ihn, er hatte einfach keine Hand frei
Über ihm meckerte die dünne Stimme des Alten: „Eine Buhlin war es! Und sein Tod wird die Kraft der Rechtschaffenen stärken!“
„Dieser Scheiß-Albert“, zischte Ruben.
„Hab ihn draußen Rosen schneiden sehen, ist immer der Gärtner.“
„Kannst du nicht mal ernst sein?“
„Du hast noch nach ihr gerochen, als wir die Treppe hochgestiegen sind, Pharisäer!“, zeterte Albert. „Erst der gute Herr Abt und dann Ihr! Ein Mann Gottes!“
Der Mann, der neben ihm hing, flüsterte: „Das hab ich auch gelernt. Ironie ist der einzige Schild, das wir haben.“
„Das ist nicht ironisch, das ist nur dumm.“ Seine Schulter brachte Ruben um. Scheiße, im wahrsten Sinne des Wortes.
„Tust du mir einen Gefallen?“, fragte der Mann.
„Lass mich raten, ich soll schon mal vorspringen, damit du weich landest.“
Der Mann grummelte tief, ein Brummen, fast wie ein Lachen, und sagte: „Exorziere mich ja?“
Dann löste er eine seiner Pranken von Sims, schob sie unter Rubens Gesäß und warf ihn nach oben. Ruben landete mit der Nase im Kies, hörte aber, wie Albert entsetzt aufschrie.
Sein Kinn tat weh, als er wieder hochkam. Albert hing mit seinem knochigen Arsch über dem Sims und schaute nach unten.
„Tot, tot“, murmelte er. „Er ist wirklich von uns gegangen. Ego me absolvo. Hehe. Ego me absolvoooooooooo“, murmelte er noch, als er Rubens Fuß an seinem Po spürte, und er murmelte es selbst dann noch, als er auf dem Weg nach ganz tief unten war.
„Wenn ich mich schon für zwei Tote schuldig fühle, dann will ich wenigstens an einem schuld sein“, dachte Ruben, murmelte aber nur: „Ich vergebe mir auch.“
Ein paar Tage später
Ruben massierte seine Schläfen und zog an seiner Zigarette. Der Kragen der Soutane rieb an seinem Hals. Sein Nacken tat weh. Die letzten Tage hatte er verloren. Er wusste nicht an wen. Er dachte viel an Damaskus, aber weniger als sonst.
„Kühl hier“, sagte er zu der Leiche, die er aus einem Schubkasten zog. Wie Schließfächer waren die Toten aufgereiht. Die Leiche antwortete nicht.
Ruben öffnete das nächste Fach. „Na, wie hat der Asphalt geschmeckt?“ Keine Antwort.
Zum Leichensack im nächsten sagte er: „Hotzenplotz?“
Zur nächsten: „Hat dich der alte Albert noch eingeholt auf dem Weg nach unten.“
„Nein“, antwortete eine tiefe Stimme.
„Ach, scheiße“, flüsterte Ruben. „Das hab ich immer befürchtet.“
„Was denn?“, fragte die Stimme unter dem schwarzen Leichensack.
„Es gibt wirklich einen Gott.“
Und nach einer Weile, als die Kerzen brannten und der alte Foliant aufgeschlagen war, da sagte Ruben: „Oh Mann. Wenn’s wirklich einen Gott gibt, dann sind wir beide so was von im Arsch.“
„Bitte, kann ich etwas Wasser haben“, fragte der Bärtige, der vor ihm lag.
„Klar“, antwortete Ruben und sprenkelte etwas Weihwasser über die Brust des Mannes.