Zwischen dem Status
Meine Nachbarin, eine sehr liebenswerte Person, wird in Kürze dreiundneunzig Jahre alt sein.
Von diesen dreiundneunzig Jahren wartet sie seit vier Jahren jeden Montag, Mittwoch und Donnerstag im Stiegenhaus auf mich und beginnt mir, ohne sich unnötig mit Begrüßungen oder Höflichkeiten aufzuhalten, von Früher und von Damals zu erzählen.
Die Einleitung, fast ein Ritual, wird von ihr zelebriert. Sehr sanft und melodisch, fast schon singend haucht sie gegen mein Gesicht: „Ach, wissen Sie früher…“, um nach ca. einer Stunde mit: „…ja, ja, so war das damals!“, genau so traditionsbewusst zu enden.
Gerne erzählt sie mir von den Ferienlagern im Sommer, der harten Ausbildung im Winter, dem Krieg das ganze Jahr über und vom Führer.
Von manchem erzählt sie mir nicht so gerne, doch das würde ich später schon noch verstehen, meint sie.
Dreimal war sie verheiratet. Heute sei das gang und gäbe, aber damals, nein, früher sei das eine Tragödie gewesen!
Ihr erster Mann starb in Finnland. Bauchschuss. Der zweite an einer Lungenentzündung und der dritte an gebrochenem Herzen.
Sie meint, sie habe alle drei Todesarten schon einmal überlebt und so wäre sie nicht klein zu kriegen. Natürlich nur metaphorisch.
Jeden einzelnen ihrer Männer habe sie beim Ausgehen kennengelernt. Das war damals fast so einfach, wie heute. Aber nur fast. Stolz auf diese Leistung ist noch heute. Drei Männer in sieben Jahren!
Ich wache auf der Couch auf.
Angezogen.
Auch gestern Abend dürfte ich es nicht bis ins Schlafzimmer geschafft haben und bin auf der Couch eingeschlafen. Ich trinke zu viel!
Verschlafen blicke ich mich um, richte mich auf und versuche mich zu erinnern welcher Tag heute ist.
Samstag? Es müsste Samstag sein.
Egal.
Schon seit längerem fühlen sich die Tage nicht mehr so an, wie sie sich mal anfühlten.
Früher fühlte sich ein Sonntag, wie ein Sonntag und ein Montag wie ein Montag an.
Heute ist es entweder ein Arbeitstag oder ein Schultag, oder eben kein Arbeitstag und kein Schultag. Ich setze mich an den Laptop und beginne wahllos die Lesezeichen durch zu klicken.
Das Zittern der Hände, das rasende Herz und der schmerzende Kopf sind Zeuge meines toxischen Lebenswandels.
Erinnern, an die letzte Nacht, will ich mich nicht, sondern klicke einfach weiter:
Drei Freundschaftsanfragen.
Keine Nachrichten.
Nichts auf der Pinwand.
Sie lebt nun schon seit über vierzig Jahren in diesem Haus.
Hat alle möglichen Leute kommen und gehen gesehen. Der Vermieter habe sie nur einmal gefragt, ob er die Miete erhöhen dürfe. Sie hat mit dem Anwalt gedroht.
Vertrag ist Vertrag.
Auch wenn er schon über vierzig Jahre alt ist.
Vertrag ist Vertrag!
Heute gäbe es kaum noch Leute mit wirklicher Handschlagqualität.
Sie möchte gar nicht wissen, was ich für die Wohnung bezahle. Die Mieten seien fast unerschwinglich heutzutage!
Urlaub habe sie schon lange keinen mehr gemacht, dafür reicht die magere Pension nie und nimmer. Hier hat sie alles was sie braucht. Den Hinterhof, die kleine Bank darin. Die Ruhe.
Ihren Freunden schreibt sie Postkarten. Mehr geht nicht mehr. Die Hand sei so steif, wie der Kopf. Ihre Handschrift kaum noch lesbar.
Ob ich schreibe?
Die erste Freundschaftsanfrage: Carla Preston, aus Charleston.
Ich hoffe sie ist mir nicht böse, obwohl ich mich kaum an sie erinnere kann und nicht mehr weiß auf was sie den böse sein könnte.
Wir werden uns nicht wieder sehen und auch nicht schreiben, obwohl wir sehr froh darüber sind, dass wir jetzt, wo wir Freunde sind, den Kontakt nicht mehr zu verlieren brauchen, aber halten werden wir ihn nicht.
Ich akzeptiere.
Die zweite Freundschaftsanfrage: Jonathan Kessler, auch aus Charleston.
Ich erinnere mich nun besser.
Ihr bester Freund, aber nicht ihr Freund. Mehr wie ein Bruder, aber nicht mehr. Sie verstehen sich nur gut. Als ich mehr wollte, küssten sie sich bereits.
Ich akzeptiere.
Die dritte Freundschaftsanfrage: Daniel Schreiber.
Ein Schulkollege. Das Foto spiegelt nicht meine Erinnerung wieder. War unter uns Schüler nicht der hellste, jedoch bemüht. Jetzt Kassier.
Er tut mir leid.
Ignoriert.
Ich aktualisiere meinen Status.
Dass ich noch keine Freundin habe sei eine Schande, meint sie.
Ihren dritten Mann habe sie beim Tanzen kennen gelernt. Früher ein Lehrer, später Stahlarbeiter, ein Liebhaber und Alkoholiker, früher wie später. Jetzt tot.
Ein begnadeter Tänzer und ein Charmeur. Es gäbe viel von ihm zu erzählen. Wir seien uns ähnlich, meint sie. Beide Einzelgänger mit einem weiten Bekanntenkreis, aber kaum Freunde.
Bekannte, so sagt sie jeden Montag, Mittwoch und Donnerstag, wären wichtig, wichtiger aber noch wären Freunde. Von einer Partnerin erst gar nicht zu sprechen!
Sie sei in ihrem Leben oft alleine gelassen worden, aber nie einsam geblieben. Mit ihren Freunden ging sie regelmäßig zum Tanzen. Jeden Dienstag und Donnerstag. Heute geht man nicht mehr tanzen. Heute geht man “aus“. Das sei schade.
Ob ich Freunde habe?
Ich raffe mich auf und poste an ein paar Pinwände:
Wie geht’s? Alles klar? Wie war das WE? Heute aus? Wie sieht’s morgen aus?
Es langweilt mich und ich klappe den Laptop zu.
Ich würde mir gerne etwas zu essen machen, aber der Kühlschrank ist leer und in meiner Brieftasche nur Münzen.
So bleibt es bei einem Glas Wasser und ein paar alten Chips. Das Zähneputzen verschieb ich nochmals auf später und suche meine Zigaretten. Mit ein wenig Glück hab ich mir gestern noch ein paar übrig gelassen. Statt den Zigaretten finde ich mein Handy. Keine Anrufe. Keine Nachrichten. Keine gewählte Nummer. Ich blättere durch die Kontakte. Ich telefoniere nicht gerne und so lege ich das Telefon auch bald wieder aus der Hand und suche weiter meine Zigaretten.
Keiner ihrer Männer hat je geraucht. Vom Rauchen stirbt man. Aber das stimmt so nicht ganz, denn ihre Männer haben zwar nicht geraucht, sind aber trotzdem gestorben.
Sie hat einmal an einer Zigarette gezogen, aber nicht mit der Brust. Der Rauch brachte sie zum Husten und der Geschmack war einfach widerlich. Sie glaubt auch nicht, dass Rauchen wirklich sinnvoll ist. Aber was ist heutzutage schon sinnvoll? Kinder sind es, wie sie betont.
Leider hat sie aber nie das Glück gehabt schwanger zu werden. Sicher, in der damaligen Zeit gab es noch keine Verhütungsmittel, wie es sie heutzutage gibt, dennoch, schwanger wurde sie nie.
Kinder sind ein Gottesgeschenk. So ein Geschenk kann man gar nicht hoch genug einschätzen.
Wenn ich mal eine Freundin habe, werde ich verstehen was sie meint, ist sie sich sicher.
Ob ich Kinder mag?
Ich setze mich zurück an den Laptop und checke meine Mails.
Ich hab Post:
Ein Newsletter. Eine Zahlungserinnerung. Eine Antwort auf meinen Forenbeitrag und ein gewisser Stephan Blue, Angestellter bei der nigerianischen Botschaft, bietet mir fünf Millionen Dollar an. Dazwischen noch eine Zahlungserinnerung, noch ein Newsletter und eine E-Mail von Claudia: „Heute ist der fünfundzwanzigste. Bist du traurig?“
Ich klicke auf antworten.
Zögere.
Die Nachricht wurde gestern Abend um 23:42 Uhr erstellt. Dass es gestern einen Moment lang 23:42 gewesen sei, ist für mich kaum vorstellbar, wird aber von mehr vorbehaltlos akzeptiert.
Meine Antwort: „Ja.“
Ihre Antwort folgt postwendend, ohne Zögern: „Arschloch!“
Ich klappe den Laptop wieder zu und suche weiter meine Zigaretten.
Im Vorzimmer finde ich sie. Glücklicherweise haben, obwohl die Packung sehr mitgenommen aussieht, drei Zigaretten den gestrigen Abend überlebt. Doch zum Rauchen ist mir jetzt nicht mehr zu Mute.
Ich werfe die Schachtel auf die Couch und putze mir nun endlich die Zähne. Unterdessen höre ich wie im Nachbarhaus der kleine Junge mit den schwarzen Haaren von seinem Vater verprügelt wird und schließe die Balkontüre. Ich mag das Schreien der Kinder nicht.
Ihre Mutter sei neunundneunzig Jahre alt geworden und bis zum Schluss nie krank gewesen.
Auch sie sei sehr selten krank! Darauf braucht man nicht stolz zu sein, man muss aber auf Holz klopfen.
Sie sei ein typisches Bauernkind gewesen, wie man so schön sagt. Im Dreck aufgewachsen. Das hat sie sicher abgehärtet. Allergien kannte man damals keine. Traurig nur, dass die Mütter heutzutage den Kindern alles verbieten. Tu dies nicht, tu das nicht, greif das nicht an, nimm das nicht in den Mund, wasch dir die Hände, zieh dich warm an, zieh dich nicht zu warm an!
In ihrer Kindheit kannte man es nicht, dass man für jedes Wetter eigenes Schuhwerk besaß. Sie nannte nur ein Paar ihr Eigen und dieses zog sie nur sehr selten an. Sie wurden geschont. Für die Kirche. Den Gottesdienst. Später für die Versammlungen. Und natürlich fürs Tanzen. Dabei muss sie lächeln.
Die Schuhe, die sie zum Tanzen anzog, waren die schönsten in der ganzen Stadt, ist sie sich sicher, man beneidete sie darum.
Ob ich zum Tanzen gehe?
Ich stelle mich unter die Dusche.
Die Hitze des Wassers und der Dampf bringen mich fast um und ich suche umgehend das Weite. Manchmal ist es einfach besser zu stinken, als zu leiden.
Beim Verlassen des Bades stolpere ich über meine Schuhe. Auch diese stinken bestialisch nach Erbrochenen, was nach einer langen Nacht schon mal vorkommt.
Ob das Erbrochene von mir ist? Ich weiß es nicht und will es auch nicht wissen.
Ich werfe die Schuhe in den Müll, binde den Sack umständlich zu und bin damit vorerst einmal zufrieden.
Mein Kopf schmerzt von der Anstrengung und ich öffne eine Flasche Wein; vorher noch schnell eine Kopfschmerztablette, auf nüchternen Magen sollte man nicht trinken.
Aus meinen Hosentaschen fische ich einen Flyer: Dance in the House Party! Ein ärgerlicher Titel. Ich bräuchte dafür aber neues Schuhwerk. Ich werfe den Flyer zu den Schuhen in den Müll.
Angst vor dem Tod habe sie nicht. Zu gottgläubig sei sie dazu.
Manchmal, so sagt sie, habe sie aber so ein Gefühl! Jeder kennt dieses Gefühl: Man weiß nicht genau was es ist, doch dass etwas ist, weiß man genau.
Das wären die Vorboten allen Übels.
Selten hat sie ihr Gefühl getäuscht. Ihr zweiter Mann nannte sie einen Bauchmenschen. Das ärgert sie noch heute, denn rein aus dem Bauch heraus hat sie nie gehandelt.
Auf ihrem Grab wünscht sie sich weise Rosen. Nicht üppig, nur einen einfachen Stock. Sie mag es nicht, wenn die Gräber so überladen sind. Bei den Gräbern ihrer Männer hält sie es genau so, obwohl sie diese schon sehr lange nicht mehr besucht hat. Ihre Beine!
Ob ich über den Tod nachdenke?
Es wird Abend.
Schön langsam wird es Zeit und ich beeile mich frische Kleidung anzuziehen.
Ein Hemd reicht, dazu Jeans.
Ich hoffe bloß, dass ich es heute Abend bis ins Bett schaffe, aber die Chancen dazu stehen eher schlecht.
Die Flasche Wein ist gelehrt und in meinem Magen breitet sich langsam ein wohlig warmes Gefühl aus, auch die Zigaretten hab ich nun geraucht. Alles in allem ein Tag, wie jeder andere.
Eines stört mich jedoch heute besonders: Die Fragen meiner Nachbarin!
Ob ich schreibe? Ob ich Freunde habe? Ob ich Kinder mag? Ob ich zum Tanzen gehe? Ob ich über den Tod nachdenke?
Nein. Die Zeiten haben sich geändert.
Ich schreibe bloß noch auf Pinwände, Freunde sind mir lieb, wenn ich sie nicht sehe, über Kinder denke ich nicht nach, getanzt habe ich in meinem ganzen Leben noch nie und warum zum Teufel sollte ich über den Tod nachdenken?
Kein Mensch wird je auf die Idee kommen meinen Facebook Account zu löschen und so lange es diesen gibt, bin ich unsterblich.
Doch auch wenn mich die Fragen meiner Nachbarin nerven, die nervigste Frage hat sie mir nie gestellt:
Was machst du gerade?
Das muss ich ihr zu Gute halten und deswegen darf sie mich auch jeden Montag, Mittwoch und Donnerstag im Stiegenhaus aufhalten und mir von früher und von damals erzählen und jeden Montag, Mittwoch und Donnerstag werde ich mit dem Kopf nicken, darauf wartend, dass ich am Wochenende wieder ausgehen kann, um so wenigstens die Antwort auf die Frage zu finden, die mir mein Account morgen wieder stellen wird: Was machst du gerade?
Für heute poste ich: Ausgehen…