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Zwischen hier und jetzt
„Sie finden sich hier.“
Er musste noch einmal auf das Schild schauen. Es stand wirklich dort: „Sie finden sich hier“, dort, auf diesem Plan des Hotels, auf dem die Fluchtwege eingetragen waren. Unwillkürlich musste er sich umblicken. Vielleicht konnte er sich wirklich hier finden.
Er wusste, dass Übersetzungen in ausländischen Hotels immer etwas holprig waren und dieser kleine Fehler gefiel ihm ganz besonders. Er war erst seit wenigen Minuten im Hotel, aber das erste, was er in einem Hotel immer tat, war, sich die Fluchtpläne anzuschauen. Er liebte Pläne, jede Art von Plänen: Landkarten, Stadtpläne und auch Fluchtpläne.
Nun war er hier, hier vor diesem Plan und konnte sich hier finden ... vielleicht. Er war hier angekommen, nein ... Das würde suggerieren, er hätte bewusst und gewollt dieses Hotel angesteuert. Als wäre es geplant gewesen, in diesem Hotel die Nacht zu verbringen. Nein, das war es ganz und gar nicht. Es hätte jedes Hotel sein können. Er war also – besser gesagt – hier gestrandet, ziellos, ohne Plan. Er reiste umher. Mal hierhin, mal dorthin, immer irgendwie dazwischen. Nun war er also in diesem französischen Hotel gelandet.
Er wusste nicht, wovor er floh, oder, ob er etwas suchte. Etwas, das er mit diesem sich ständig bewegen müssen zu finden hoffte. Noch einmal las er dieses Schild, diesen Satz. War er es selbst, vor dem er floh, und dass er vielleicht gerade dadurch sich selbst zu finden hoffte?
Was war geschehen, dass er es in seinem alten Leben nicht mehr aushielt? Immer wieder dasselbe! Wenn er einen Neuanfang versuchte, stand er sich nach geraumer Zeit doch nur wieder selbst im Wege. Und ihm dämmerte langsam, dass auch ein Ortswechsel nicht helfen würde, denn er nahm sich selbst überall hin mit. Aber vielleicht, wenn er ständig in Bewegung bleiben würde, wenn er so schnell fliehen würde, dass sein Selbst nicht mehr mitkam? Er las noch einmal den Satz: „Sie finden sich hier“. Sein Selbst war immer dabei. Immer.
Sein Leben war zum Stillstand gekommen, nein, es war eigentlich nie richtig in Schwung gekommen. Jede Lebensplanung war hinfällig geworden. Es war wie diese Reise, er war immer irgendwie dazwischen. Er konnte sich nicht auf sich verlassen und auf andere schon gar nicht.
Und nun verhieß ihm dieses Hotel, er könne sich hier finden. Hatte vielleicht ein gütiges Schicksal ihn hierher geführt? Aber hieß es nicht, wer auf das Schicksal vertraut, ist nur zu feige, das Leben selbst in die Hand zu nehmen? Jedoch, auch wer nicht auf das Schicksal baut, kann diese Feigheit besitzen.
Nun war er hier. Ob nun durch das Schicksal oder durch Zufall (und wer kann den Unterschied nennen?) ist unerheblich. Er war nun hier und er würde sich hier finden. Das Hotel hat es ihm gesagt.
Er musste endlich etwas für seine Seele tun.