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Zwischen hier und jetzt

PHE

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25.08.2001
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Zwischen hier und jetzt

„Sie finden sich hier.“

Er musste noch einmal auf das Schild schauen. Es stand wirklich dort: „Sie finden sich hier“, dort, auf diesem Plan des Hotels, auf dem die Fluchtwege eingetragen waren. Unwillkürlich musste er sich umblicken. Vielleicht konnte er sich wirklich hier finden.

Er wusste, dass Übersetzungen in ausländischen Hotels immer etwas holprig waren und dieser kleine Fehler gefiel ihm ganz besonders. Er war erst seit wenigen Minuten im Hotel, aber das erste, was er in einem Hotel immer tat, war, sich die Fluchtpläne anzuschauen. Er liebte Pläne, jede Art von Plänen: Landkarten, Stadtpläne und auch Fluchtpläne.

Nun war er hier, hier vor diesem Plan und konnte sich hier finden ... vielleicht. Er war hier angekommen, nein ... Das würde suggerieren, er hätte bewusst und gewollt dieses Hotel angesteuert. Als wäre es geplant gewesen, in diesem Hotel die Nacht zu verbringen. Nein, das war es ganz und gar nicht. Es hätte jedes Hotel sein können. Er war also – besser gesagt – hier gestrandet, ziellos, ohne Plan. Er reiste umher. Mal hierhin, mal dorthin, immer irgendwie dazwischen. Nun war er also in diesem französischen Hotel gelandet.

Er wusste nicht, wovor er floh, oder, ob er etwas suchte. Etwas, das er mit diesem sich ständig bewegen müssen zu finden hoffte. Noch einmal las er dieses Schild, diesen Satz. War er es selbst, vor dem er floh, und dass er vielleicht gerade dadurch sich selbst zu finden hoffte?

Was war geschehen, dass er es in seinem alten Leben nicht mehr aushielt? Immer wieder dasselbe! Wenn er einen Neuanfang versuchte, stand er sich nach geraumer Zeit doch nur wieder selbst im Wege. Und ihm dämmerte langsam, dass auch ein Ortswechsel nicht helfen würde, denn er nahm sich selbst überall hin mit. Aber vielleicht, wenn er ständig in Bewegung bleiben würde, wenn er so schnell fliehen würde, dass sein Selbst nicht mehr mitkam? Er las noch einmal den Satz: „Sie finden sich hier“. Sein Selbst war immer dabei. Immer.

Sein Leben war zum Stillstand gekommen, nein, es war eigentlich nie richtig in Schwung gekommen. Jede Lebensplanung war hinfällig geworden. Es war wie diese Reise, er war immer irgendwie dazwischen. Er konnte sich nicht auf sich verlassen und auf andere schon gar nicht.

Und nun verhieß ihm dieses Hotel, er könne sich hier finden. Hatte vielleicht ein gütiges Schicksal ihn hierher geführt? Aber hieß es nicht, wer auf das Schicksal vertraut, ist nur zu feige, das Leben selbst in die Hand zu nehmen? Jedoch, auch wer nicht auf das Schicksal baut, kann diese Feigheit besitzen.

Nun war er hier. Ob nun durch das Schicksal oder durch Zufall (und wer kann den Unterschied nennen?) ist unerheblich. Er war nun hier und er würde sich hier finden. Das Hotel hat es ihm gesagt.

Er musste endlich etwas für seine Seele tun.

 

In der Kürze liegt die Würze!
Die GEschichte gefällt mir gut, sie ist ansprechend, stimmt nachdenklich und zeigt ein Problem unserer Gesellschaft auf: Die Ruhelosigkeit des Einzelnen, das Gefühl, nie ganz bei sich zu sein.
Das alles an einem kleinen Tippfehler auf einem Schild im Hotel aufzuhängen, efällt mir ganz besonders gut, da die Situation dadurch sehr realistisch wirkt.
Lieben Gruß

chaosqueen

 

Auch mir gefällt deine Geschichte und vorallem die Idee, die dahintersteckt sehr gut.
Einen kleinen Verbesserungsvorschlag hätte ich dennoch:
Es wäre glaubwürdiger, wenn dein Prot nicht sofort auf den Gedanken "vielleicht konnte er sich wirklich hier finden" kommen würde.
Niemand würde auf Anhieb beginnen ernsthaft über die unbeabsichtigte Aussage des Schildes nachzudenken, sondern sich zunächst wundern oder darüber lustig machen.
Tut der Qualität deiner Geschichte aber keinen großen Bruch :-)

lg, Babelfish

 

Hallo Babelfish,
vielen Dank, daß dir die Geschichte gefällt.
Zu deinem kleinen Kritikpunkt sein erwähnt, daß der Prot ja nicht "sofort", sondern erst nach nochmaligem Lesen auf den Gedanken kommt. Und zum anderen kommt mit diesem "ersten" Gedanken seine unbewußte Sinnsuche, seine Suche nach sich selbst an die Oberfläche und er beginnt darüber nachzudenken.
lg, PHE

 

Interessant, wirklich interessant :)

Spiegelt irgendwie meine Eigene Einstellung teilweise wieder,
da ich mich mehr als Weltbürger sehe und überall zu hause bin.

Hätte ich die finanziellen Mittel, würde ich vielleicht zwischen
einem Appartement in New York, London und Nürnberg pendeln.

David.

 

Hallo PHE,
auch mir hat die Gesachichte sehr gut gefallen. Sie bringt einen zum nachdenken.
Auch deine Idee, die Story an dem Schild "aufzuhängen" hat mir gefallen und ich musste an meine letzte Toskana-Reise denken, als an einem Ufer ein Schild stand, betitelt mit der Übersetzung "Bitte nicht zur Nähe kommen"...
Liebe Grüße
WibiB

 

Hi WibiB,

das ist auch ein guter Satz, an dem man eine Geschichte aufhängen kann, irgend etwas über Zwischenmenschlichkeit und Beziehungen ...

Gruß

PHE

 

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