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Über den Wert des Lebens
Unauffällig liegen die Zigarettenpackungen auf dem festlich dekorierten Holztisch. Es ist egal, auf welche Seite man sie legt, an einem Spruch kommt man nie vorbei. Raucher sterben früher. Rauchen macht impotent. Wenn du nicht aufhörst zu rauchen wirst du sterben du Idiot!
Offensichtlicher kann man nicht gewarnt werden, aber dennoch schenkt niemand diesem stillen Alarm Aufmerksamkeit. Unauffällig, aber präsent, wie ein Krebsgeschwür im Anfangsstadium.
„Willst du eine?“, fragt Bernd, der schon wieder so betrunken ist, dass er gar nicht merkt, dass ihm Spucke an den Wangen hinunterläuft.
„Nein Danke, Bernd. Ich hänge an meinem Leben, weißt du?“
„Ich doch auch“, lacht er und steckt sich eine Marlboro an.
Gierig schlingt seine Ehefrau Petra ihr Hähnchen hinunter und wird immer dicker, auch wenn dies auf den ersten Blick gar nicht mehr möglich ist. Ich frage mich, wie viel Fett ihr Körper noch vertragen kann, bevor er einfach explodiert.
„Was starrst du denn so auf mein Essen“, fragt sie und die Frage ist berechtigt denn mit einer Mischung aus Ekel und Erstaunen beobachte ich noch immer Petras Teller.
„Ich,… ich hab mich nur gefragt, ob das wohl schmeckt was du da isst“, lüge ich.
„Das ist doch ganz normales Hähnchen“, antwortet sie etwas verwirrt.
„Habe ich noch nie gegessen, weißt du“, sage ich zu ihr. Ohne es zu wollen klinge ich so, als wenn ich mich dafür schuldig fühlen sollte.
„Ach ja, du bist ja Vegetarier.“ Mitleidig guckt sie sich meinen Teller an, aber nur kurz, denn an ihrem Hähnchen sind noch Reste dran.
Judith sitzt allein vor Kopf des Tisches. Sie sieht traurig aus. Erst kürzlich sprangen ihr Ehemann und ihr Sohn in den riesigen See am Wald. Das Verbotsschild ignorierten sie genauso wie das komisch sprudelnde Wasser. Der Sog riss beide in die Tiefe.
Ich setze mich zu ihr, lege meinen Arm um sie.
„Hallo Judith“, fange ich an, „es ist schön, dass du heute gekommen bist. Unterhalt dich doch ein bisschen mit den anderen, das wird dir gut tun, dich auf andere Gedanken bringen.“
Doch sie hört nicht zu, starrt nur ins Leere. Meine Worte erreichen sie gar nicht.
Erst jetzt sehe ich das Blut an ihren Händen. Es fließt aus ihrem Handgelenk. Noch bevor ich etwas sagen kann, fällt sie in Ohnmacht.
„Oh mein Gott, oh mein Gott! Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten, wir brauchen einen Arzt!“ Ich drehe mich um und sehe Bernd und Petra. Sie gucken mich an, bewegen sich jedoch kein Stück.
„Lass mich noch kurz aufrauchen“, spricht Bernd leise und gemütlich. „Das Essen war nämlich köstlich und die Zigarette danach will ich genießen, verstehst du?“
Petra hat sich wieder ihrem Essen zugewandt. Das Hähnchen hat sie schon gegessen und jetzt leckt sie den Teller ab.
Mit offenem Mund hocke ich vor meiner sterbenden Freundin. Sie atmet noch leise. Wütend renne ich ins Haus und schnapp mir das Telefon. Am anderen Ende der Leitung erwartet mich eine Bandansage. „Sie rufen außerhalb der Gesprächszeiten an, bitte wenden sie sich an einen Notarzt.“ Ich suche die Nummer, doch die Zeit wird nicht reichen, das weiß ich.