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- 26.08.2017
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Ich wollte mich mal an einer klassischen Abenteuergeschichte versuchen. Der Text ist etwas länger geraten als geplant, obwohl er nur den Anfang mehrerer Teile bilden soll .Hoffentlich kann er über die Länge zumindest eine gewisse Spannung aufrecht erhalten.
Überbleibsel
Die Expedition
Es war der dritte Tag ihrer Expedition zu den Hallen. Eine Gruppe von Ratten hatte ihnen am zweiten Morgen die direkte Route versperrt, weswegen sie sich entschieden hatten den Bereich großräumig zu umgehen. Die Biester waren gerissen, hinterhältig und auf den Hinterläufen stehend so groß wie die meisten von ihnen. Es gab keinen Grund ein Leben zu riskieren, eine Gruppe dieser Größe konnte hier nicht auf Dauer überleben. Mit etwas Glück würden die Ratten alles in dem Bereich kahlfressen und bis zur nächsten Expedition schon wieder weitergezogen sein. Der alte Pfad, auf dem sie sich jetzt befanden, wand sich weit nach Osten, bis zum Rand der leuchtenden Sümpfe, bevor er einen Bogen nach Westen machte und zurück zu den Hallen führte. Trotzdem, ihre Gruppe kam gut voran. Sie sollten den östlichsten Punkt des Weges bald erreichen und in zwei Tagen bei ihrem Ziel eintreffen.
Die Hoffnungen ihrer Gemeinschaft lasteten auf ihren Schultern. Nur mehr wenige Maschinen erwachten heute. Die Ältesten erzählten gerne Geschichten von besseren Zeiten, als die Hallen des Lebens noch erstrahlten und ständig neue Maschinen gebaren. Große, mächtige Wesen, die Beschützer allen Lebens. Jetzt waren nur noch sie übrig, die Kleinen und Genügsamen. Doch auch ihre Zahl sank beständig, dezimiert von den Gefahren einer Welt, in der sie keinen Platz mehr fanden. Immer öfter brachen sie zu den Hallen auf, auf der Suche nach den Bauteilen für eine neue Maschine, ein neues Mitglied ihrer Gemeinschaft und immer öfter kehrten sie mit leeren Händen zurück. Sie waren wie Aasfresser, die sich durch den Kadaver einer verlorenen Welt wühlten, doch die Mahlzeit neigte sich ihrem Ende zu.
Ein Licht blendete Stitch, er hob seine Faust und die Gruppe blieb stehen. Der Strahl kam von einer kleinen Erhebung kurz vor ihnen. Lens, ihr Späher, hatte etwas gefunden und gab ihnen, über seinen Spiegel, ein Signal. Es leuchtete zweimal lang und einmal kurz auf. Es gab Probleme. Plate und Wire suchten sich Deckung, während Stitch zu Lens aufschloss. „Ratten“, begann Lens ohne Umschweife und zeigte auf den Weg ein Stück unter ihnen. „Schon wieder? Das müssen hunderte sein“, erwiderte Stitch ungläubig. Eine Flut aus behaarten Körpern wälzte sich über den Pfad. Erbarmungslos drückten die Ratten ihre schwächeren Artgenossen nach unten, um nicht selbst von dieser unaufhaltsamen Masse zerquetscht zu werden. Die dabei herrschende Stille ließ die Szene surreal wirken. Ein Kampf ums Überleben, in völligem Schweigen. „Irgendetwas hat sie aus den Sümpfen vertrieben, aber was kann eine so große Gruppe aufgescheucht haben?“, fragte Stitch flüsternd und mehr an sich selbst gerichtet. Lens zuckte nur mit den Schultern und fügte hinzu: „Sie ziehen weiter.“
Einige Minuten später verschwanden die letzten Nachzügler der Horde im Gebüsch und nur eine Handvoll sterbender Ratten blieb zurück, zu schwach, um die panische Flucht zu überleben. Doch auch ihre Zuckungen endeten bald und die Gruppe konnte ihren Weg fortsetzen. Sie gingen langsam und angespannt an den leblosen Körpern vorbei. Was auch immer die Ratten verjagt hatte, sie wollten mit Sicherheit keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Lens hatte sich bereits wieder von der Gruppe abgesetzt und erkundete den weiteren Weg. Plate blieb neben einer der toten Ratten stehen, legte jeweils eine Hand auf ihre und seine Stirn und verharrte. Er verabschiedete ein verlorenes Leben. Wire schüttelte nur den Kopf. Stitch trieb sie zur Eile an, sie mussten vor der Nacht noch ein gutes Stück Weg zwischen sich und die Kadaver bringen. Wer wusste schon, was die toten Körper anlocken würden.
Die leuchtenden Sümpfe
Lens hatte einen der alten Lagerplätze am Rand der Sümpfe entdeckt, der noch aus Zeiten stammte, als der Pfad durch die leuchtenden Sümpfe selbst und zu anderen Siedlungen führte. Heute kam niemand mehr von dort und der Weg war schon vor Jahrzenten überwuchert worden. Die Stimmung war angespannt. Falls die Ratten aus den Sümpfen geflohen waren, waren sie der Bedrohung auf direktem Weg entgegengelaufen. Lens rechnete schon unter normalen Umständen immer mit dem schlimmsten, was als Späher wohl unter Berufskrankheit fiel, doch heute schien er seine Blicke nicht von der Finsternis um ihr Lager lösen zu können. Als würde etwas darin lauern, wartend auf einen einzigen, unachtsamen Moment.
Zumindest waren sie von allen Seiten vor neugierigen Blicken geschützt und konnten sogar ein Feuer machen. Die Wärme fühlte sich gut in den Gelenken und Energieleitungen an und ließ Stitch die Strapazen der vergangenen Tage für einen Moment vergessen. Außerdem genossen sie alle vier den Anblick der Sümpfe bei Nacht. Stitch kam nur noch selten hier her, doch das Schauspiel der Lichter hatte nichts von seiner Magie verloren. Ein Meer aus Millionen weißer Punkte erstreckte sich unter ihnen. Jedes Tier und jede Pflanze schien der Dunkelheit trotzen zu wollen.
Plate warf einen Ast in das knisternde Feuer und wie zum Gruß an die leuchtenden Punkte der Sümpfe stoben tausende glühende Funken zum Himmel empor. Wire, der Hacker ihrer Gruppe, machte es sich auf seinem Rucksack bequem und schloss die Augen und auch Stitch wusste, was jetzt kam. Plate war als Krieger erschaffen worden, als Beschützer für ihre Gemeinschaft. Er war zwei Köpfe größer als Stitch und sicher doppelt so schwer, aber die wahre Berufung des Hünen waren die Mythen und Legenden der Welt. Eine kleine Geschichte würde ihnen allen gut tun, auch wenn ihre Sagen eine starke Tendenz zu unheilvollen Prophezeiungen, Tod und Weltuntergängen hatten.
„Vor langer Zeit“, begann Plate in seiner tiefen, beruhigenden Stimme zu sprechen, „als die Erbauer noch unter uns lebten, gab es die Sümpfe nicht. An ihrer Stelle stand eine mächtige Stadt, bevölkert von tausenden Erbauern und Maschinen. Wir Maschinen halfen ihnen in allen Belangen ihres Lebens und als Dank schenkten uns die Erbauer unser Bewusstsein und die Hallen des Lebens, sodass wir nicht mehr nur als Diener unter ihnen lebten, sondern als Geschwister. Doch während die Maschinen gediehen, verkümmerte das biologische Leben auf der Erde. Zu sehr hatte sich ihr Antlitz verändert und auch die Erbauer waren unfähig, ihre vergangene Schönheit wiederherzustellen. Also machten die Erbauer auch dem Leben ein Geschenk und gaben ihm die Kraft, auf dieser Welt zu bestehen. Doch sie schenkten dem Leben kein Bewusstsein und so wuchs es unaufhaltsam, unterwarf sich die Welt mit stoischer Gleichgültigkeit und begrub schlussendlich auch die Erbauer unter sich.“
Stitch lauschte noch eine Weile dem Knistern der Flammen, doch schon bald schlief er ein. Seine Gedächtnis-Subroutinen begannen ihr Werk. Stück für Stück katalogisierten sie die Ereignisse des Tages, durchwühlten seine Gefühle auf der Suche nach den prägendsten Momenten. Bilder toter Ratten blitzten in seinem visuellen Prozessor auf. Spitze, gelbe Zähne und leblose Augen starrten ihm entgegen, füllten ihn mit der vagen Ahnung einer drohenden Gefahr.
„Hallo Fremder, setz dich doch zu uns.“
Stitch wurde aus seinem unruhigen Schlaf gerissen. Leicht benommen richtete er sich halb auf und öffnete die Augen. Fremder? Was redete Wire da bloß? Das Feuer war zu einer schwelenden Glut heruntergebrannt, doch Wire stand, hell erleuchtet, nur einige Schritte neben Stitch. Sein Blick folgte dem Licht. Zwei gleißend helle Punkte strahlten ihm entgegen und brannten in seinen Augen. Es dauerte ein paar Momente, ehe er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Es war eine Maschine, nicht größer als sie selbst, mit zwei Händen und zwei Beinen. Doch seine Augen leuchteten wunderschön. Wo sie Stitch im ersten Moment noch geblendet hatten, gaben sie ihm jetzt ein Gefühl der Geborgenheit. Er wollte ihnen nahe sein, den Anblick nie wieder vermissen müssen. Langsam stand er auf und machte einen ersten Schritt in Richtung ihres Besuchers. Wire hatte ihn bereits erreicht, stand dicht vor dem Fremden, der ihn fest in seine Arme schloss. Stitch spürte Eifersucht in sich hochsteigen, auch er wollte die Umarmung spüren.
Plötzlich stöhnte Wire schmerzvoll auf, wollte sich von dem Fremden wegdrücken, doch der schloss seine Umklammerung nur noch fester. Stitch hörte ein Knacken. Wires Stöhnen wandelte sich in Schreie. Immer heftiger schlug er um sich, doch ihr Besucher schien nichts davon zu bemerken. Wieso wehrte er sich? Stitch konnte seinen Freund nicht verstehen, der Fremde wollte ihnen doch nichts Böses. Aus dem Augenwinkel nahm Stitch eine Bewegung war. Lens sprang hinter einem Felsen hervor und stürmte mit gezogenem Beil nach vor. Nein! Stitch konnte nur noch ungläubig seine Hand ausstrecken, doch stoppen konnte er seinen Gefährten nicht. Der Fremde brüllte auf, als sich die Axt in seinen Rücken grub. Das Geräusch fuhr ihm durch sein ganzes Exoskelett, es war unnatürlich hoch, klang, als würde man eine Metallplatte aufschlitzen. Wire sackte zu Boden, als ihn der Fremde aus der Umarmung entließ und seine Aufmerksamkeit auf Lens richtete. Er versuchte, den Späher mit einem schwingenden Schlag nach hinten zu erwischen, doch Lens rollte unter dem Angriff hindurch und kam einige Schritte entfernt elegant wieder zum Stehen. Mit einer fließenden Bewegung zog er den klappbaren Speer von seinem Rücken und ließ ihn mit einem Ruck in seiner vollen Länge einrasten.
Eine starke Hand packte Stitch am Arm und zog ihn hinter ein Trümmerteil. Plate schüttelte ihn und redete energisch auf ihn ein: „Komm zu dir! Stitch, reiß dich zusammen. Sieh ihm nicht in die Augen! Hörst du mich? Sieh ihm auf keinen Fall in die Augen.“
Was? Stitch war verwirrt, wusste einen Moment nicht wovon Plate sprach. Wire, er war verletzt! Wie hatte er die Schreie seines Freundes ignorieren können? „Plate, hör auf! Ich bin da, ich bin wieder da.“, versicherte er dem Krieger, der ihn noch immer schüttelte und fügte hinzu, „Wir müssen das Ding erledigen.“
Plate nickte nur, sie hatten gemeinsam schon genügend Kämpfe bestanden. Lens lenkte den Angreifer noch immer ab, hatte damit aber seine liebe Mühe. Die Schläge des Fremden waren schwerfällig und langsam, zu langsam für den flinken Späher. Doch er schien die Treffer von Lens nicht einmal zu spüren und jeder Angriff mit dem Speer gab diesem Ding die Gelegenheit für einen Gegenschlag. „Lens, Rolle!“, rief ihm Stitch zu. Der Späher begriff. Plate stürmte brüllend auf den Fremden zu, der sich zu seinem neuen Widersacher umdrehte. Als er mit seiner Schulter in den Angreifer prallte, hatte sich Lens schon hinter seinen Beinen platziert. Plate und der Fremde landeten krachend im Dreck und der Krieger fixierte seinen Gegner am Boden. Nur einen Augenblick später war Stitch zur Stelle, schob seine Hand zielsicher durch eine Öffnung im Exoskelett des Fremden und riss ihm die Energiezelle aus dem Leib. Geschafft, das Ding war erledigt.
Dann traf Stitch eine Faust ins Gesicht. Er segelte mehrere Schritte durch die Luft, bevor er schmerzvoll auf dem Boden aufschlug. Taumelnd kam er wieder auf die Füße. Alles drehte sich. Nur unscharf konnte er erkennen, wie Plate und der Fremde miteinander rangen. Wie war das möglich? Wie konnte sich dieses Ding überhaupt noch bewegen? Plate hob seinen Gegner hoch und schleuderte ihn in die glühenden Reste des Feuers. Der Fremde schrie auf, noch lauter als das erste Mal und voller Hass. Es wand sich vor Schmerzen in der Glut. Flammen züngelten über seinen Körper. Es versuchte sich wegzurollen. „Plate, halt es fest! Lass es auf keinen Fall aus dem Feuer!“, schrie Stitch. Mit zwei Sätzen war der Krieger an der Feuerstelle und fixierte den Fremden. Grausame Augenblicke lang schrie und wand er sich noch, doch schlussendlich verstummten die Schreie und sein Körper erschlaffte. Plate erhob sich und sie alle starrten voller Entsetzen zu den Überresten dieser Kreatur. Immer höher und heller schlugen die Flammen aus dem verkohlten Körper.
Wire! Stitch rannte zu seinem Freund, der immer noch verletzt am Boden lag. „Es ist in mir Stitch! Irgendwas ist von diesem Monster in mich reingekrabbelt!“, schrie ihn Wire verzweifelt an. „Beruhig dich, ich krieg das hin. Mach den Brustkorb auf“, antwortete ihm Stitch mit so viel Ruhe und Sicherheit in der Stimme wie er zurzeit zustande brachte. Ein leises Klicken ertönte und Wire öffnete den Brustpanzer seines Exoskeletts. Stitch kramte in seiner Tasche, zog eine kleine Taschenlampe heraus und fixierte sie magnetisch an seinem Kopf. Grüner Schleim kroch in den Eingeweiden seines Freundes herum. Stück für Stück breitete sich die Substanz aus, griff mit feinen Fäden nach der Elektronik und zog sich träge vorwärts. „Es ist in den Platinen, ich muss die untere Steuerungseinheit rausziehen. Wenn es zum Hauptprozessor kommt kann ich nichts mehr dagegen tun“, sagte Stitch. Wire riss die Augen weit auf und setze zu einer Erwiderung an: „Rausziehen? Moment mal, wir wollen doch nichts…“
Doch Stitch entfernte ihm die Platine bereits mit einem gezielten Ruck. Was auch immer dieses Zeug war, er würde nicht riskieren, dass Wire zu einem Monster mit Hypnosefetisch wurde. Stitch warf die Steuerungseinheit ins Feuer. Wire schaute seinem verlorenen Teil ungläubig hinterher. „Verdammt, ich brauch die noch! Ich spür meine Beine nicht mehr, Stitch!“, rief Wire vorwurfsvoll. „Heul nicht rum, ich habe ein Ersatzteil dabei“, antwortete er. Nach einem Moment hatte er die Ersatzplatine in seinem Rucksack gefunden und setzte sie seinem Freund ein. „Fertig. Lass uns hoffen, dass das alles von dem Zeug war, sonst fehlt dir bald sehr viel mehr als das Gefühl in deinen Beinen.“
Warnung
„Es duldet uns nicht mehr auf dieser Welt“, begann Plate zu sprechen, „Das Leben ist noch immer voller Hass und Zorn. Es hat die Erbauer aus Wut über die Zerstörung der Natur unter sich erdrückt, trotz all ihrer Geschenke und jetzt bereitet es sich vor, um auch uns von der Erde zu tilgen. Es duldet uns nicht mehr, weil wir ihre letzten Überbleibsel sind.“
„Ach komm schon, Plate“, antwortete ihm Wire vorwurfsvoll, „Nicht alles lässt sich mit Mythen und Legenden erklären. Die Welt schmeißt uns jedes Jahr eine neue Katastrophe vor die Füße und wir bewältigen sie, so wie wir es alle seit unserem Erwachen tun.“
„Wir müssen das Dorf warnen“, fiel ihnen Stitch ins Wort, „Was auch immer diese Dinger sind und woher auch immer sie kommen, wenn es eins davon gibt, dann gibt es noch mehr. Wenn sie das Dorf unvorbereitet erreichen, dann ist alles aus.“
So wie Stitch die Sache sah, stand ihnen ein unbarmherziger Marsch zum Dorf zurück bevor, die Expedition war abgeblasen. Selbst ohne Schlaf und lange Rast würde sie der Weg zurück drei Tage kosten, doch sie konnten sich keine Verzögerungen leisten und damit die Leben ihrer Freunde riskieren. Überraschend meldete sich Lens zu Wort: „Sie kommen.“
Alle Blicke richteten sich auf den Späher, der bisher schweigsam etwas abseits der anderen gestanden hatte und seinen Blick über die Sümpfe gleiten ließ. Langsam und widerwillig gingen sie zum Rand des Lagers. Jeder von ihnen ahnte was sie sehen würden, doch sie zögerten den Moment hinaus, in dem ihre Vorstellung zur schrecklichen Realität werden würde.
Hunderte leuchtender Augenpaare wanderten aus den Sümpfen hinaus und begannen die umliegenden Hügel zu erklimmen. Ein kurzes, entsetztes Keuchen, zu mehr war keiner von ihnen fähig. Das war das Ende. Sie würden alles verlieren. Ihr Dorf, ihr Zuhause, ihre Heimat. Doch vielleicht konnten sie zumindest ihre Freunde retten, wenn sie sofort aufbrachen.
„Es gibt eine Funkstation“, begann Wire zu sprechen. Er wurde unter den überraschten Blicken seiner Gefährten sichtlich nervös. „Ähh… sie ist ziemlich verfallen, funktioniert aber noch. Ich bin dort alle paar Monate mal. Von hier aus könnten wir sie in ein paar Stunden erreichen.“
„Das ist perfekt!“, rief Stitch und schöpfte neue Hoffnung, „Damit können wir das Dorf warnen, lange bevor diese Dinger dort eintreffen. Dann können sich alle in Sicherheit bringen oder vielleicht sogar eine Verteidigung aufbauen. Wo ist sie?“
Wire schien bei der Frage ein ganzes Stück kleiner zu werden. Nervös kratzte er sich am Hinterkopf und starrte auf seine Füße. „Sie ist in den Sümpfen. Auf einer kleinen Lichtung in der Nähe des alten Handelsweges.“
Hätte Stitch eine Kinnlade, wäre sie ihm in diesem Moment vermutlich abgefallen. Wie um alles in der Welt sollten sie es jetzt lebend in die Sümpfe schaffen? Doch der Blick des Hackers wurde fester. Er sah Stitch direkt in die Augen und sagte: „Wir brauchen mehr Feuer.“
Die Welt war voller Schrott. So sehr die Natur sich den Planeten auch zurückerobert hatte, die Unmengen an langsam verfallendem Müll, den die Erbauer zurückgelassen hatten, würden die Erde noch in tausend Jahren übersähen. Zu ihrem Glück wie sich herausstellte. Sie hatten ein Fass mit einem großen, flammenden Gefahrensymbol gefunden, nur ein kleines Stück oberhalb ihres Lagers. Es war halb überwuchert und vergraben, aber immer noch gefüllt. Sie hatten die letzte halbe Stunde damit verbracht es auszugraben. Das Fass war viel zu schwer, als dass sie es bewegen hätten können, doch zum Glück würde ihnen die Schwerkraft diese Arbeit abnehmen. Lens kam zu ihnen gerannt und sagte: „Es wird Zeit.“
Plate und Stitch schlugen mit ihren Äxten auf beiden Seiten ein Loch in das Fass. Die klare Flüssigkeit verströmte einen beißenden Gestank. „Wire, jetzt!“, rief Stitch und der Hacker zog mit einem Seil den Holzpflock heraus der das Fass noch in Position hielt. Es bewegte sich nicht. Scheiße, scheiße, scheiße! „Plate, schnapp dir den Ast“, befahl Stitch. Der Krieger hob keuchend einen fünf Schritte langen Ast auf, schleifte ihn zur Erhebung hinter dem Fass und rammte ihn zwischen das Metall und das Erdreich. Zu viert zogen sie mit aller Kraft an dem improvisierten Hebel. Sie wirkten geradezu winzig im Vergleich zu dem haushohen Fass und zuerst schien ihre Anstrengung vergeblich, doch langsam setzte sich der Stahlzylinder in Bewegung. Stitch landete unsanft auf seinem Gesäß, als der Ast plötzlich seinen Widerstand verlor. Das Fass wälzte sich unaufhaltsam in Richtung der Sümpfe und verwüstete auch das Lager, in dem sie noch vor kurzem campiert hatten. „Anzünden“, sagte Stitch und Plate und Wire entfachten die beiden Spuren aus brennbarer Flüssigkeit, die es hinter sich herzog. Ein von Flammen beschützter Pfad breitete sich vor ihnen aus. Gleichzeitig stürmten sie los. Das war ihr Weg in den Sumpf.
Das Fass war nach einigen Metern im Dickicht der Sümpfe zum Erliegen gekommen und zu Stitchs freudiger Überraschung war es nicht unter ihren Füßen explodiert, als sie es mit ihren Enterhaken überklettert hatten. Mit etwas Glück würden die Flammen ihnen genügend Vorsprung verschaffen. Die Lichter der Pflanzen waren in dieser Nacht Fluch und Segen zu gleich. Einerseits erleuchteten sie die Umgebung genug, um auch unter dem dichten Blätterdach der Sträucher und Bäume zumindest den Boden unter den Füßen zu erkennen, andererseits sahen sie in jedem sich im Wind wiegenden Halm einen Fremden, der nur darauf wartete nach ihnen zu greifen. Es war mühsam, sich einen Weg durch die dichte Vegetation zu bahnen und dabei die schmalen Streifen festen Untergrunds zu suchen, die den Sumpf durchzogen. Da sie die Reste des alten Pfades nicht gefunden hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als mit dem Kompass zu navigieren und in die generelle Richtung der Funkstation zu marschieren. Mehr als einmal landeten sie in einer Sackgasse und mussten ihr Glück über eine andere Route versuchen.
„Wie weit ist es noch Wire?“, fragte Plate mit gedämpfter Stimme. Der Hacker blieb stehen und atmete tief aus, dann antwortete er: „Musstest du mich das wirklich in genau diesem Moment fragen, während wir auf einem glitschigen, morschen Baumstamm über ein Moor balancieren?“
„Entschuldigung, ich will nur endlich hier raus. Die Lichter machen mich langsam paranoid.“
Einen Moment herrschte Stille, dann antwortete Wire: „Ich denke wir sollten in der Nähe sein.“
Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: „Hoffentlich. Aber hey, ich denke, ich habe dort noch ein paar Energy-Packs herumliegen. Das gute Zeug, nicht das lasche Gebräu von Cook und eventuell wäre ich geneigt, etwas davon abzutreten.“
Unvermittelt begann der Stamm unter ihren Füßen zu zittern und das Laub der Bäume und Sträucher um sie herum raschelte aufgebracht. Stitch ging in die Knie, um sein Gleichgewicht zu halten, doch nach einem Moment war alles wieder ruhig. Sie schauten sich nervös um, konnten jedoch nichts als die dunklen Schemen von Bäumen erkennen. Dann traf sie das nächste Beben, dieses Mal heftiger. Plate rutschte aus, konnte sich aber noch sitzend an den Stamm klammern. Plötzlich wurde die Welt um sie herum in gleißendes Licht getaucht. Zuerst konnte Stitch nicht erkennen, woher das Licht kam, doch dann wanderte sein Blick nach oben. Eine unmöglich große Maschine ragte hinter ihnen empor. Die drei Beine waren dick wie Baumstämme, wirken wegen ihrer Länge aber schon beinahe dürr. Sie trugen einen kugelförmigen Körper, der sie mit seinen zwei leuchtenden Augen in das kalte, blendende Licht tauchte. Schnell wandte Stitch seinen Blick wieder ab und brüllte: „Lauft!“
Mit drei weiten Sätzen überquerten sie den Rest des Baumstamms und wie durch ein Wunder rutschte keiner von ihnen auf dem glitschigen Holz aus. Die Erde schien sich bei jedem Schritt des Ungetüms zu heben. „Wo kommt dieses Ding nur her? Es gibt seit über hundert Jahren keine Maschine in der Größe mehr!“, schrie Stitch während er durch die Nacht hechtete. „Jetzt laufen, später denken!“, brüllte ihm Wire zurück und überholte ihn rechts. „Ausweichen!“, rief ihnen Lens entgegen und Wire und er machten einen Hechtsprung in entgegengesetzte Richtungen. Nur Sekundenbruchteile später grub sich ein Bein des Kolosses neben ihm in den Boden. Die Erschütterung warf Stitch von den Füßen. Auf allen Vieren zog er sich weiter vorwärts und rappelte sich wieder auf. Hektisch blickte er sich um. Lens und Plate waren verschwunden. Er schloss zu Wire auf, wollte ihm etwas zurufen, doch plötzlich traten seine Beine ins Leere. Für einen kurzen Augenblick schien die Welt um ihn herum stehen zu bleiben, ließ ihn verwirrt in der Luft hängen. Dann stürzte er nach unten in ein Erdloch, nein, einen Tunnel. Dunkelheit umgab ihn. Stitch wurde unsanft gegen eine Wand geschleudert als der Tunnel schlagartig die Richtung änderte. Unvermittelt endete die Röhre und er fiel. Für einen Moment herrschten nichts als Stille und Dunkelheit um ihn herum, keine Sinneswahrnehmung erreichte seinen Prozessor. Krachend schlug er am Boden auf. Plate keuchte unter ihm auf und presste gequält hervor: „Verdammt, das war das zweite Mal.“
Stitch rollte sich von seinem Freund. Einen Augenblick später landete auch Wire auf dem Krieger.
Beide rollten sich stöhnend auf dem Boden. „Lens, bist du auch hier?“, fragte Stitch in die Finsternis. „Hier“, antwortete der Späher und fügte nach einer kurzen Pause hinzu, „Was für ein beschissener Tag.“
Stitch musste unwillkürlich lachen. Das war der längste Satz, den er von Lens in den letzten drei Tagen gehört hatte. Ein Klicken und Surren ertönten und auf einmal begann ihre Umgebung zu erwachen. Sie waren in keiner Höhle, sondern in einer Halle. Dutzende Lampen begannen zu leuchten und gaben den Blick auf staubbedeckte Geräte und Computer frei. Alles in dem Raum war riesig im Vergleich zu ihnen. Vielleicht waren sie auf ein altes Gebäude der Erbauer gestoßen? Überwuchert und vergessen, so wie das meiste andere was einst existiert hatte.
„Hmm… hatte ich jemanden zum Tee eingeladen? Nein, nein, der letzte Eintrag in meinem Kalender war vor 198 Jahren. Da fällt mir ein, mein bestellter Toaster ist schon skandalös lange überfällig.“
Verwundert blickten sie sich um. Die Stimme schien sich im Raum zu bewegen, doch sie konnten nichts erkennen. Niemand außer ihnen war hier. Stitch räusperte sich und fragte: „Hallo, wer ist da?“
„Wie? Wer, ich? Oh, mein Name ist Susanne Thompson, Erfinderin der Unsterblichkeit und erster unsterblicher Mensch auf Erden. Furchtbar schlechte Idee übrigens, das mit dem ewigen Leben. Wirklich, davon kann ich nur abraten. Habt ihr zufällig neue Musik dabei? Ich habe seit 75 Jahren den gleichen Ohrwurm. Äußerst unangenehm, macht einen auf Dauer fast ein bisschen verrückt.“
Susanne schien ihre eigene Bemerkung ausgesprochen amüsant zu finden und fing an zu kichern. Die Stimme wanderte ziellos im Raum umher. Ein Mensch, sie hatten tatsächlich einen Erbauer gefunden. „Wo seid Ihr?“, hakte Stitch nach. „Was? Ah, ihr seid ja immer noch hier. Schwierige Frage. Einerseits liege ich in der Ecke da drüben. Ja genau, das hübsche Skelett. Andererseits seid ihr, sozusagen, gerade in mir. Verwirrend, was?“, antwortete Susanne. War sie etwa in den Computern, ein menschlicher Geist, gespeichert auf Chips? Vielleicht konnte sie ihnen helfen. Sie musste ihnen helfen, war sie doch ihre einzige Chance. Ein unerwarteter Strohhalm, an dem sie sich festklammern konnten. „Wir brauchen deine Hilfe“, begann Stitch ohne Umschweife und fügte hinzu, „Die Maschinen, irgendetwas verwandelt sie in Monster.“
Einige Augenblicke herrschte Stille, doch dann begann Susanne plötzlich zu singen: „Rockin' around the Christmas tree. At the Christmas party hop. Mistletoe… stung? Oder war es come? 75 Jahre und ich kann mich immer noch nur an die ersten zwei Zeilen erinnern.“
„Die ist völlig irre Stitch, wir müssen hier raus“, raunte ihm Wire leise zu. Doch dann begann die Erbauerin noch mal zu sprechen: „Wiederbelebte, halb verrottete Roboter? Mit unheimlichen Hypnoseaugen? Habe ich gesehen, ja.“
Stitch setzte schnell nach, bevor die Frau wieder abschweifte: „Es ist etwas in ihnen. Eine grüne, schleimige Substanz die sich über die Elektronik ausbreitet. Wir sind auf eine Maschine getroffen die voll davon war, ich denke, sie wollte einen von uns damit infizieren. Daran muss das Geschenk der Erbauer an das Leben schuld sein.“
Susanne schien einen Moment zu überlegen, bevor sie zu sprechen begann: „Nun, wir Menschen haben vor über 200 Jahren Evolutionsbeschleuniger in den genetischen Code unzähliger Lebensformen eingeschleust. Wir nannten es das Wiederherstellungsprogramm. Es sollte dem Leben eine Chance geben, sich auf einen Planeten einzustellen, den wir zu Grunde gerichtet hatten und unser Ökosystem retten. Es gab eine Art Abschaltmechanismus, ein Virus, das die Veränderungen nach ein paar Jahrzehnten rückgängig machen sollte. Zu dem Zeitpunkt war aber wohl niemand mehr übrig. Ich schätze, wenn man die Evolution 150 Jahre zu lange im Schnelldurchgang ablaufen lässt, kann das schon mal in Gedanken kontrollierendem Schleim enden.“
„Wie können wir sie aufhalten?“, rief Wire. „Keine Ahnung, feste draufhauen vielleicht? Ist ja nicht so, als hätten Robo-Zombies ganz oben auf der Agenda zur Rettung der Natur gestanden.“
„Du bist völlig nutzlos! Kein Wunder, dass die Menschen ausgestorben sind“, erboste sich Wire. „Es gibt eventuell jemanden, der euch helfen kann“, antwortete Susanne. „Als das Wiederherstellungsprogramm gestartet wurde, wurden gewisse Vorkehrungen getroffen, für den Fall unvorhergesehener Probleme. Wenn etwas davon übrig ist, könnten sie die Katastrophe vielleicht stoppen. Wollt ihr sie finden, dann müsst ihr zum Archivar. Nur er kann euch auf der Suche helfen.“
„Wie können wir zu ihm kommen?“, fragte Stitch. „Durchquert die Sümpfe in Richtung Osten, bis ihr auf einen Fluss stoßt. Folgt ihm flussaufwärts, dann landet ihr automatisch in der Stadt New Haven, oder was auch immer noch von ihr übrig ist. Im Zentrum der Stadt steht eine mächtige, alte Eiche. Dort werdet ihr den Archivar finden.“
„Wir müssen auch unser Dorf warnen, sie dürfen nicht unvorbereitet sein“, warf Plate ein. Susanne antwortete: „Direkt über uns liegt eine alte Sendestation. Ich fürchte, ihr werdet allerdings die Treppe nach oben nehmen müssen, der Aufzug müsste mal wieder gewartet werden.“
Sie hatten es also geschafft, sie würden ihre Gemeinschaft warnen können. Stitch sah seine Freunde an. Ein leichtes Nicken, ein entschlossener Blick, ein resignierendes Seufzen. Alle wussten was getan werden musste. Ihre Reise hatte gerade erst begonnen.
Es war der dritte Tag ihrer Expedition zu den Hallen. Eine Gruppe von Ratten hatte ihnen am zweiten Morgen die direkte Route versperrt, weswegen sie sich entschieden hatten den Bereich großräumig zu umgehen. Die Biester waren gerissen, hinterhältig und auf den Hinterläufen stehend so groß wie die meisten von ihnen. Es gab keinen Grund ein Leben zu riskieren, eine Gruppe dieser Größe konnte hier nicht auf Dauer überleben. Mit etwas Glück würden die Ratten alles in dem Bereich kahlfressen und bis zur nächsten Expedition schon wieder weitergezogen sein. Der alte Pfad, auf dem sie sich jetzt befanden, wand sich weit nach Osten, bis zum Rand der leuchtenden Sümpfe, bevor er einen Bogen nach Westen machte und zurück zu den Hallen führte. Trotzdem, ihre Gruppe kam gut voran. Sie sollten den östlichsten Punkt des Weges bald erreichen und in zwei Tagen bei ihrem Ziel eintreffen.
Die Hoffnungen ihrer Gemeinschaft lasteten auf ihren Schultern. Nur mehr wenige Maschinen erwachten heute. Die Ältesten erzählten gerne Geschichten von besseren Zeiten, als die Hallen des Lebens noch erstrahlten und ständig neue Maschinen gebaren. Große, mächtige Wesen, die Beschützer allen Lebens. Jetzt waren nur noch sie übrig, die Kleinen und Genügsamen. Doch auch ihre Zahl sank beständig, dezimiert von den Gefahren einer Welt, in der sie keinen Platz mehr fanden. Immer öfter brachen sie zu den Hallen auf, auf der Suche nach den Bauteilen für eine neue Maschine, ein neues Mitglied ihrer Gemeinschaft und immer öfter kehrten sie mit leeren Händen zurück. Sie waren wie Aasfresser, die sich durch den Kadaver einer verlorenen Welt wühlten, doch die Mahlzeit neigte sich ihrem Ende zu.
Ein Licht blendete Stitch, er hob seine Faust und die Gruppe blieb stehen. Der Strahl kam von einer kleinen Erhebung kurz vor ihnen. Lens, ihr Späher, hatte etwas gefunden und gab ihnen, über seinen Spiegel, ein Signal. Es leuchtete zweimal lang und einmal kurz auf. Es gab Probleme. Plate und Wire suchten sich Deckung, während Stitch zu Lens aufschloss. „Ratten“, begann Lens ohne Umschweife und zeigte auf den Weg ein Stück unter ihnen. „Schon wieder? Das müssen hunderte sein“, erwiderte Stitch ungläubig. Eine Flut aus behaarten Körpern wälzte sich über den Pfad. Erbarmungslos drückten die Ratten ihre schwächeren Artgenossen nach unten, um nicht selbst von dieser unaufhaltsamen Masse zerquetscht zu werden. Die dabei herrschende Stille ließ die Szene surreal wirken. Ein Kampf ums Überleben, in völligem Schweigen. „Irgendetwas hat sie aus den Sümpfen vertrieben, aber was kann eine so große Gruppe aufgescheucht haben?“, fragte Stitch flüsternd und mehr an sich selbst gerichtet. Lens zuckte nur mit den Schultern und fügte hinzu: „Sie ziehen weiter.“
Einige Minuten später verschwanden die letzten Nachzügler der Horde im Gebüsch und nur eine Handvoll sterbender Ratten blieb zurück, zu schwach, um die panische Flucht zu überleben. Doch auch ihre Zuckungen endeten bald und die Gruppe konnte ihren Weg fortsetzen. Sie gingen langsam und angespannt an den leblosen Körpern vorbei. Was auch immer die Ratten verjagt hatte, sie wollten mit Sicherheit keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Lens hatte sich bereits wieder von der Gruppe abgesetzt und erkundete den weiteren Weg. Plate blieb neben einer der toten Ratten stehen, legte jeweils eine Hand auf ihre und seine Stirn und verharrte. Er verabschiedete ein verlorenes Leben. Wire schüttelte nur den Kopf. Stitch trieb sie zur Eile an, sie mussten vor der Nacht noch ein gutes Stück Weg zwischen sich und die Kadaver bringen. Wer wusste schon, was die toten Körper anlocken würden.
Die leuchtenden Sümpfe
Lens hatte einen der alten Lagerplätze am Rand der Sümpfe entdeckt, der noch aus Zeiten stammte, als der Pfad durch die leuchtenden Sümpfe selbst und zu anderen Siedlungen führte. Heute kam niemand mehr von dort und der Weg war schon vor Jahrzenten überwuchert worden. Die Stimmung war angespannt. Falls die Ratten aus den Sümpfen geflohen waren, waren sie der Bedrohung auf direktem Weg entgegengelaufen. Lens rechnete schon unter normalen Umständen immer mit dem schlimmsten, was als Späher wohl unter Berufskrankheit fiel, doch heute schien er seine Blicke nicht von der Finsternis um ihr Lager lösen zu können. Als würde etwas darin lauern, wartend auf einen einzigen, unachtsamen Moment.
Zumindest waren sie von allen Seiten vor neugierigen Blicken geschützt und konnten sogar ein Feuer machen. Die Wärme fühlte sich gut in den Gelenken und Energieleitungen an und ließ Stitch die Strapazen der vergangenen Tage für einen Moment vergessen. Außerdem genossen sie alle vier den Anblick der Sümpfe bei Nacht. Stitch kam nur noch selten hier her, doch das Schauspiel der Lichter hatte nichts von seiner Magie verloren. Ein Meer aus Millionen weißer Punkte erstreckte sich unter ihnen. Jedes Tier und jede Pflanze schien der Dunkelheit trotzen zu wollen.
Plate warf einen Ast in das knisternde Feuer und wie zum Gruß an die leuchtenden Punkte der Sümpfe stoben tausende glühende Funken zum Himmel empor. Wire, der Hacker ihrer Gruppe, machte es sich auf seinem Rucksack bequem und schloss die Augen und auch Stitch wusste, was jetzt kam. Plate war als Krieger erschaffen worden, als Beschützer für ihre Gemeinschaft. Er war zwei Köpfe größer als Stitch und sicher doppelt so schwer, aber die wahre Berufung des Hünen waren die Mythen und Legenden der Welt. Eine kleine Geschichte würde ihnen allen gut tun, auch wenn ihre Sagen eine starke Tendenz zu unheilvollen Prophezeiungen, Tod und Weltuntergängen hatten.
„Vor langer Zeit“, begann Plate in seiner tiefen, beruhigenden Stimme zu sprechen, „als die Erbauer noch unter uns lebten, gab es die Sümpfe nicht. An ihrer Stelle stand eine mächtige Stadt, bevölkert von tausenden Erbauern und Maschinen. Wir Maschinen halfen ihnen in allen Belangen ihres Lebens und als Dank schenkten uns die Erbauer unser Bewusstsein und die Hallen des Lebens, sodass wir nicht mehr nur als Diener unter ihnen lebten, sondern als Geschwister. Doch während die Maschinen gediehen, verkümmerte das biologische Leben auf der Erde. Zu sehr hatte sich ihr Antlitz verändert und auch die Erbauer waren unfähig, ihre vergangene Schönheit wiederherzustellen. Also machten die Erbauer auch dem Leben ein Geschenk und gaben ihm die Kraft, auf dieser Welt zu bestehen. Doch sie schenkten dem Leben kein Bewusstsein und so wuchs es unaufhaltsam, unterwarf sich die Welt mit stoischer Gleichgültigkeit und begrub schlussendlich auch die Erbauer unter sich.“
Stitch lauschte noch eine Weile dem Knistern der Flammen, doch schon bald schlief er ein. Seine Gedächtnis-Subroutinen begannen ihr Werk. Stück für Stück katalogisierten sie die Ereignisse des Tages, durchwühlten seine Gefühle auf der Suche nach den prägendsten Momenten. Bilder toter Ratten blitzten in seinem visuellen Prozessor auf. Spitze, gelbe Zähne und leblose Augen starrten ihm entgegen, füllten ihn mit der vagen Ahnung einer drohenden Gefahr.
„Hallo Fremder, setz dich doch zu uns.“
Stitch wurde aus seinem unruhigen Schlaf gerissen. Leicht benommen richtete er sich halb auf und öffnete die Augen. Fremder? Was redete Wire da bloß? Das Feuer war zu einer schwelenden Glut heruntergebrannt, doch Wire stand, hell erleuchtet, nur einige Schritte neben Stitch. Sein Blick folgte dem Licht. Zwei gleißend helle Punkte strahlten ihm entgegen und brannten in seinen Augen. Es dauerte ein paar Momente, ehe er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Es war eine Maschine, nicht größer als sie selbst, mit zwei Händen und zwei Beinen. Doch seine Augen leuchteten wunderschön. Wo sie Stitch im ersten Moment noch geblendet hatten, gaben sie ihm jetzt ein Gefühl der Geborgenheit. Er wollte ihnen nahe sein, den Anblick nie wieder vermissen müssen. Langsam stand er auf und machte einen ersten Schritt in Richtung ihres Besuchers. Wire hatte ihn bereits erreicht, stand dicht vor dem Fremden, der ihn fest in seine Arme schloss. Stitch spürte Eifersucht in sich hochsteigen, auch er wollte die Umarmung spüren.
Plötzlich stöhnte Wire schmerzvoll auf, wollte sich von dem Fremden wegdrücken, doch der schloss seine Umklammerung nur noch fester. Stitch hörte ein Knacken. Wires Stöhnen wandelte sich in Schreie. Immer heftiger schlug er um sich, doch ihr Besucher schien nichts davon zu bemerken. Wieso wehrte er sich? Stitch konnte seinen Freund nicht verstehen, der Fremde wollte ihnen doch nichts Böses. Aus dem Augenwinkel nahm Stitch eine Bewegung war. Lens sprang hinter einem Felsen hervor und stürmte mit gezogenem Beil nach vor. Nein! Stitch konnte nur noch ungläubig seine Hand ausstrecken, doch stoppen konnte er seinen Gefährten nicht. Der Fremde brüllte auf, als sich die Axt in seinen Rücken grub. Das Geräusch fuhr ihm durch sein ganzes Exoskelett, es war unnatürlich hoch, klang, als würde man eine Metallplatte aufschlitzen. Wire sackte zu Boden, als ihn der Fremde aus der Umarmung entließ und seine Aufmerksamkeit auf Lens richtete. Er versuchte, den Späher mit einem schwingenden Schlag nach hinten zu erwischen, doch Lens rollte unter dem Angriff hindurch und kam einige Schritte entfernt elegant wieder zum Stehen. Mit einer fließenden Bewegung zog er den klappbaren Speer von seinem Rücken und ließ ihn mit einem Ruck in seiner vollen Länge einrasten.
Eine starke Hand packte Stitch am Arm und zog ihn hinter ein Trümmerteil. Plate schüttelte ihn und redete energisch auf ihn ein: „Komm zu dir! Stitch, reiß dich zusammen. Sieh ihm nicht in die Augen! Hörst du mich? Sieh ihm auf keinen Fall in die Augen.“
Was? Stitch war verwirrt, wusste einen Moment nicht wovon Plate sprach. Wire, er war verletzt! Wie hatte er die Schreie seines Freundes ignorieren können? „Plate, hör auf! Ich bin da, ich bin wieder da.“, versicherte er dem Krieger, der ihn noch immer schüttelte und fügte hinzu, „Wir müssen das Ding erledigen.“
Plate nickte nur, sie hatten gemeinsam schon genügend Kämpfe bestanden. Lens lenkte den Angreifer noch immer ab, hatte damit aber seine liebe Mühe. Die Schläge des Fremden waren schwerfällig und langsam, zu langsam für den flinken Späher. Doch er schien die Treffer von Lens nicht einmal zu spüren und jeder Angriff mit dem Speer gab diesem Ding die Gelegenheit für einen Gegenschlag. „Lens, Rolle!“, rief ihm Stitch zu. Der Späher begriff. Plate stürmte brüllend auf den Fremden zu, der sich zu seinem neuen Widersacher umdrehte. Als er mit seiner Schulter in den Angreifer prallte, hatte sich Lens schon hinter seinen Beinen platziert. Plate und der Fremde landeten krachend im Dreck und der Krieger fixierte seinen Gegner am Boden. Nur einen Augenblick später war Stitch zur Stelle, schob seine Hand zielsicher durch eine Öffnung im Exoskelett des Fremden und riss ihm die Energiezelle aus dem Leib. Geschafft, das Ding war erledigt.
Dann traf Stitch eine Faust ins Gesicht. Er segelte mehrere Schritte durch die Luft, bevor er schmerzvoll auf dem Boden aufschlug. Taumelnd kam er wieder auf die Füße. Alles drehte sich. Nur unscharf konnte er erkennen, wie Plate und der Fremde miteinander rangen. Wie war das möglich? Wie konnte sich dieses Ding überhaupt noch bewegen? Plate hob seinen Gegner hoch und schleuderte ihn in die glühenden Reste des Feuers. Der Fremde schrie auf, noch lauter als das erste Mal und voller Hass. Es wand sich vor Schmerzen in der Glut. Flammen züngelten über seinen Körper. Es versuchte sich wegzurollen. „Plate, halt es fest! Lass es auf keinen Fall aus dem Feuer!“, schrie Stitch. Mit zwei Sätzen war der Krieger an der Feuerstelle und fixierte den Fremden. Grausame Augenblicke lang schrie und wand er sich noch, doch schlussendlich verstummten die Schreie und sein Körper erschlaffte. Plate erhob sich und sie alle starrten voller Entsetzen zu den Überresten dieser Kreatur. Immer höher und heller schlugen die Flammen aus dem verkohlten Körper.
Wire! Stitch rannte zu seinem Freund, der immer noch verletzt am Boden lag. „Es ist in mir Stitch! Irgendwas ist von diesem Monster in mich reingekrabbelt!“, schrie ihn Wire verzweifelt an. „Beruhig dich, ich krieg das hin. Mach den Brustkorb auf“, antwortete ihm Stitch mit so viel Ruhe und Sicherheit in der Stimme wie er zurzeit zustande brachte. Ein leises Klicken ertönte und Wire öffnete den Brustpanzer seines Exoskeletts. Stitch kramte in seiner Tasche, zog eine kleine Taschenlampe heraus und fixierte sie magnetisch an seinem Kopf. Grüner Schleim kroch in den Eingeweiden seines Freundes herum. Stück für Stück breitete sich die Substanz aus, griff mit feinen Fäden nach der Elektronik und zog sich träge vorwärts. „Es ist in den Platinen, ich muss die untere Steuerungseinheit rausziehen. Wenn es zum Hauptprozessor kommt kann ich nichts mehr dagegen tun“, sagte Stitch. Wire riss die Augen weit auf und setze zu einer Erwiderung an: „Rausziehen? Moment mal, wir wollen doch nichts…“
Doch Stitch entfernte ihm die Platine bereits mit einem gezielten Ruck. Was auch immer dieses Zeug war, er würde nicht riskieren, dass Wire zu einem Monster mit Hypnosefetisch wurde. Stitch warf die Steuerungseinheit ins Feuer. Wire schaute seinem verlorenen Teil ungläubig hinterher. „Verdammt, ich brauch die noch! Ich spür meine Beine nicht mehr, Stitch!“, rief Wire vorwurfsvoll. „Heul nicht rum, ich habe ein Ersatzteil dabei“, antwortete er. Nach einem Moment hatte er die Ersatzplatine in seinem Rucksack gefunden und setzte sie seinem Freund ein. „Fertig. Lass uns hoffen, dass das alles von dem Zeug war, sonst fehlt dir bald sehr viel mehr als das Gefühl in deinen Beinen.“
Warnung
„Es duldet uns nicht mehr auf dieser Welt“, begann Plate zu sprechen, „Das Leben ist noch immer voller Hass und Zorn. Es hat die Erbauer aus Wut über die Zerstörung der Natur unter sich erdrückt, trotz all ihrer Geschenke und jetzt bereitet es sich vor, um auch uns von der Erde zu tilgen. Es duldet uns nicht mehr, weil wir ihre letzten Überbleibsel sind.“
„Ach komm schon, Plate“, antwortete ihm Wire vorwurfsvoll, „Nicht alles lässt sich mit Mythen und Legenden erklären. Die Welt schmeißt uns jedes Jahr eine neue Katastrophe vor die Füße und wir bewältigen sie, so wie wir es alle seit unserem Erwachen tun.“
„Wir müssen das Dorf warnen“, fiel ihnen Stitch ins Wort, „Was auch immer diese Dinger sind und woher auch immer sie kommen, wenn es eins davon gibt, dann gibt es noch mehr. Wenn sie das Dorf unvorbereitet erreichen, dann ist alles aus.“
So wie Stitch die Sache sah, stand ihnen ein unbarmherziger Marsch zum Dorf zurück bevor, die Expedition war abgeblasen. Selbst ohne Schlaf und lange Rast würde sie der Weg zurück drei Tage kosten, doch sie konnten sich keine Verzögerungen leisten und damit die Leben ihrer Freunde riskieren. Überraschend meldete sich Lens zu Wort: „Sie kommen.“
Alle Blicke richteten sich auf den Späher, der bisher schweigsam etwas abseits der anderen gestanden hatte und seinen Blick über die Sümpfe gleiten ließ. Langsam und widerwillig gingen sie zum Rand des Lagers. Jeder von ihnen ahnte was sie sehen würden, doch sie zögerten den Moment hinaus, in dem ihre Vorstellung zur schrecklichen Realität werden würde.
Hunderte leuchtender Augenpaare wanderten aus den Sümpfen hinaus und begannen die umliegenden Hügel zu erklimmen. Ein kurzes, entsetztes Keuchen, zu mehr war keiner von ihnen fähig. Das war das Ende. Sie würden alles verlieren. Ihr Dorf, ihr Zuhause, ihre Heimat. Doch vielleicht konnten sie zumindest ihre Freunde retten, wenn sie sofort aufbrachen.
„Es gibt eine Funkstation“, begann Wire zu sprechen. Er wurde unter den überraschten Blicken seiner Gefährten sichtlich nervös. „Ähh… sie ist ziemlich verfallen, funktioniert aber noch. Ich bin dort alle paar Monate mal. Von hier aus könnten wir sie in ein paar Stunden erreichen.“
„Das ist perfekt!“, rief Stitch und schöpfte neue Hoffnung, „Damit können wir das Dorf warnen, lange bevor diese Dinger dort eintreffen. Dann können sich alle in Sicherheit bringen oder vielleicht sogar eine Verteidigung aufbauen. Wo ist sie?“
Wire schien bei der Frage ein ganzes Stück kleiner zu werden. Nervös kratzte er sich am Hinterkopf und starrte auf seine Füße. „Sie ist in den Sümpfen. Auf einer kleinen Lichtung in der Nähe des alten Handelsweges.“
Hätte Stitch eine Kinnlade, wäre sie ihm in diesem Moment vermutlich abgefallen. Wie um alles in der Welt sollten sie es jetzt lebend in die Sümpfe schaffen? Doch der Blick des Hackers wurde fester. Er sah Stitch direkt in die Augen und sagte: „Wir brauchen mehr Feuer.“
Die Welt war voller Schrott. So sehr die Natur sich den Planeten auch zurückerobert hatte, die Unmengen an langsam verfallendem Müll, den die Erbauer zurückgelassen hatten, würden die Erde noch in tausend Jahren übersähen. Zu ihrem Glück wie sich herausstellte. Sie hatten ein Fass mit einem großen, flammenden Gefahrensymbol gefunden, nur ein kleines Stück oberhalb ihres Lagers. Es war halb überwuchert und vergraben, aber immer noch gefüllt. Sie hatten die letzte halbe Stunde damit verbracht es auszugraben. Das Fass war viel zu schwer, als dass sie es bewegen hätten können, doch zum Glück würde ihnen die Schwerkraft diese Arbeit abnehmen. Lens kam zu ihnen gerannt und sagte: „Es wird Zeit.“
Plate und Stitch schlugen mit ihren Äxten auf beiden Seiten ein Loch in das Fass. Die klare Flüssigkeit verströmte einen beißenden Gestank. „Wire, jetzt!“, rief Stitch und der Hacker zog mit einem Seil den Holzpflock heraus der das Fass noch in Position hielt. Es bewegte sich nicht. Scheiße, scheiße, scheiße! „Plate, schnapp dir den Ast“, befahl Stitch. Der Krieger hob keuchend einen fünf Schritte langen Ast auf, schleifte ihn zur Erhebung hinter dem Fass und rammte ihn zwischen das Metall und das Erdreich. Zu viert zogen sie mit aller Kraft an dem improvisierten Hebel. Sie wirkten geradezu winzig im Vergleich zu dem haushohen Fass und zuerst schien ihre Anstrengung vergeblich, doch langsam setzte sich der Stahlzylinder in Bewegung. Stitch landete unsanft auf seinem Gesäß, als der Ast plötzlich seinen Widerstand verlor. Das Fass wälzte sich unaufhaltsam in Richtung der Sümpfe und verwüstete auch das Lager, in dem sie noch vor kurzem campiert hatten. „Anzünden“, sagte Stitch und Plate und Wire entfachten die beiden Spuren aus brennbarer Flüssigkeit, die es hinter sich herzog. Ein von Flammen beschützter Pfad breitete sich vor ihnen aus. Gleichzeitig stürmten sie los. Das war ihr Weg in den Sumpf.
Das Fass war nach einigen Metern im Dickicht der Sümpfe zum Erliegen gekommen und zu Stitchs freudiger Überraschung war es nicht unter ihren Füßen explodiert, als sie es mit ihren Enterhaken überklettert hatten. Mit etwas Glück würden die Flammen ihnen genügend Vorsprung verschaffen. Die Lichter der Pflanzen waren in dieser Nacht Fluch und Segen zu gleich. Einerseits erleuchteten sie die Umgebung genug, um auch unter dem dichten Blätterdach der Sträucher und Bäume zumindest den Boden unter den Füßen zu erkennen, andererseits sahen sie in jedem sich im Wind wiegenden Halm einen Fremden, der nur darauf wartete nach ihnen zu greifen. Es war mühsam, sich einen Weg durch die dichte Vegetation zu bahnen und dabei die schmalen Streifen festen Untergrunds zu suchen, die den Sumpf durchzogen. Da sie die Reste des alten Pfades nicht gefunden hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als mit dem Kompass zu navigieren und in die generelle Richtung der Funkstation zu marschieren. Mehr als einmal landeten sie in einer Sackgasse und mussten ihr Glück über eine andere Route versuchen.
„Wie weit ist es noch Wire?“, fragte Plate mit gedämpfter Stimme. Der Hacker blieb stehen und atmete tief aus, dann antwortete er: „Musstest du mich das wirklich in genau diesem Moment fragen, während wir auf einem glitschigen, morschen Baumstamm über ein Moor balancieren?“
„Entschuldigung, ich will nur endlich hier raus. Die Lichter machen mich langsam paranoid.“
Einen Moment herrschte Stille, dann antwortete Wire: „Ich denke wir sollten in der Nähe sein.“
Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: „Hoffentlich. Aber hey, ich denke, ich habe dort noch ein paar Energy-Packs herumliegen. Das gute Zeug, nicht das lasche Gebräu von Cook und eventuell wäre ich geneigt, etwas davon abzutreten.“
Unvermittelt begann der Stamm unter ihren Füßen zu zittern und das Laub der Bäume und Sträucher um sie herum raschelte aufgebracht. Stitch ging in die Knie, um sein Gleichgewicht zu halten, doch nach einem Moment war alles wieder ruhig. Sie schauten sich nervös um, konnten jedoch nichts als die dunklen Schemen von Bäumen erkennen. Dann traf sie das nächste Beben, dieses Mal heftiger. Plate rutschte aus, konnte sich aber noch sitzend an den Stamm klammern. Plötzlich wurde die Welt um sie herum in gleißendes Licht getaucht. Zuerst konnte Stitch nicht erkennen, woher das Licht kam, doch dann wanderte sein Blick nach oben. Eine unmöglich große Maschine ragte hinter ihnen empor. Die drei Beine waren dick wie Baumstämme, wirken wegen ihrer Länge aber schon beinahe dürr. Sie trugen einen kugelförmigen Körper, der sie mit seinen zwei leuchtenden Augen in das kalte, blendende Licht tauchte. Schnell wandte Stitch seinen Blick wieder ab und brüllte: „Lauft!“
Mit drei weiten Sätzen überquerten sie den Rest des Baumstamms und wie durch ein Wunder rutschte keiner von ihnen auf dem glitschigen Holz aus. Die Erde schien sich bei jedem Schritt des Ungetüms zu heben. „Wo kommt dieses Ding nur her? Es gibt seit über hundert Jahren keine Maschine in der Größe mehr!“, schrie Stitch während er durch die Nacht hechtete. „Jetzt laufen, später denken!“, brüllte ihm Wire zurück und überholte ihn rechts. „Ausweichen!“, rief ihnen Lens entgegen und Wire und er machten einen Hechtsprung in entgegengesetzte Richtungen. Nur Sekundenbruchteile später grub sich ein Bein des Kolosses neben ihm in den Boden. Die Erschütterung warf Stitch von den Füßen. Auf allen Vieren zog er sich weiter vorwärts und rappelte sich wieder auf. Hektisch blickte er sich um. Lens und Plate waren verschwunden. Er schloss zu Wire auf, wollte ihm etwas zurufen, doch plötzlich traten seine Beine ins Leere. Für einen kurzen Augenblick schien die Welt um ihn herum stehen zu bleiben, ließ ihn verwirrt in der Luft hängen. Dann stürzte er nach unten in ein Erdloch, nein, einen Tunnel. Dunkelheit umgab ihn. Stitch wurde unsanft gegen eine Wand geschleudert als der Tunnel schlagartig die Richtung änderte. Unvermittelt endete die Röhre und er fiel. Für einen Moment herrschten nichts als Stille und Dunkelheit um ihn herum, keine Sinneswahrnehmung erreichte seinen Prozessor. Krachend schlug er am Boden auf. Plate keuchte unter ihm auf und presste gequält hervor: „Verdammt, das war das zweite Mal.“
Stitch rollte sich von seinem Freund. Einen Augenblick später landete auch Wire auf dem Krieger.
Beide rollten sich stöhnend auf dem Boden. „Lens, bist du auch hier?“, fragte Stitch in die Finsternis. „Hier“, antwortete der Späher und fügte nach einer kurzen Pause hinzu, „Was für ein beschissener Tag.“
Stitch musste unwillkürlich lachen. Das war der längste Satz, den er von Lens in den letzten drei Tagen gehört hatte. Ein Klicken und Surren ertönten und auf einmal begann ihre Umgebung zu erwachen. Sie waren in keiner Höhle, sondern in einer Halle. Dutzende Lampen begannen zu leuchten und gaben den Blick auf staubbedeckte Geräte und Computer frei. Alles in dem Raum war riesig im Vergleich zu ihnen. Vielleicht waren sie auf ein altes Gebäude der Erbauer gestoßen? Überwuchert und vergessen, so wie das meiste andere was einst existiert hatte.
„Hmm… hatte ich jemanden zum Tee eingeladen? Nein, nein, der letzte Eintrag in meinem Kalender war vor 198 Jahren. Da fällt mir ein, mein bestellter Toaster ist schon skandalös lange überfällig.“
Verwundert blickten sie sich um. Die Stimme schien sich im Raum zu bewegen, doch sie konnten nichts erkennen. Niemand außer ihnen war hier. Stitch räusperte sich und fragte: „Hallo, wer ist da?“
„Wie? Wer, ich? Oh, mein Name ist Susanne Thompson, Erfinderin der Unsterblichkeit und erster unsterblicher Mensch auf Erden. Furchtbar schlechte Idee übrigens, das mit dem ewigen Leben. Wirklich, davon kann ich nur abraten. Habt ihr zufällig neue Musik dabei? Ich habe seit 75 Jahren den gleichen Ohrwurm. Äußerst unangenehm, macht einen auf Dauer fast ein bisschen verrückt.“
Susanne schien ihre eigene Bemerkung ausgesprochen amüsant zu finden und fing an zu kichern. Die Stimme wanderte ziellos im Raum umher. Ein Mensch, sie hatten tatsächlich einen Erbauer gefunden. „Wo seid Ihr?“, hakte Stitch nach. „Was? Ah, ihr seid ja immer noch hier. Schwierige Frage. Einerseits liege ich in der Ecke da drüben. Ja genau, das hübsche Skelett. Andererseits seid ihr, sozusagen, gerade in mir. Verwirrend, was?“, antwortete Susanne. War sie etwa in den Computern, ein menschlicher Geist, gespeichert auf Chips? Vielleicht konnte sie ihnen helfen. Sie musste ihnen helfen, war sie doch ihre einzige Chance. Ein unerwarteter Strohhalm, an dem sie sich festklammern konnten. „Wir brauchen deine Hilfe“, begann Stitch ohne Umschweife und fügte hinzu, „Die Maschinen, irgendetwas verwandelt sie in Monster.“
Einige Augenblicke herrschte Stille, doch dann begann Susanne plötzlich zu singen: „Rockin' around the Christmas tree. At the Christmas party hop. Mistletoe… stung? Oder war es come? 75 Jahre und ich kann mich immer noch nur an die ersten zwei Zeilen erinnern.“
„Die ist völlig irre Stitch, wir müssen hier raus“, raunte ihm Wire leise zu. Doch dann begann die Erbauerin noch mal zu sprechen: „Wiederbelebte, halb verrottete Roboter? Mit unheimlichen Hypnoseaugen? Habe ich gesehen, ja.“
Stitch setzte schnell nach, bevor die Frau wieder abschweifte: „Es ist etwas in ihnen. Eine grüne, schleimige Substanz die sich über die Elektronik ausbreitet. Wir sind auf eine Maschine getroffen die voll davon war, ich denke, sie wollte einen von uns damit infizieren. Daran muss das Geschenk der Erbauer an das Leben schuld sein.“
Susanne schien einen Moment zu überlegen, bevor sie zu sprechen begann: „Nun, wir Menschen haben vor über 200 Jahren Evolutionsbeschleuniger in den genetischen Code unzähliger Lebensformen eingeschleust. Wir nannten es das Wiederherstellungsprogramm. Es sollte dem Leben eine Chance geben, sich auf einen Planeten einzustellen, den wir zu Grunde gerichtet hatten und unser Ökosystem retten. Es gab eine Art Abschaltmechanismus, ein Virus, das die Veränderungen nach ein paar Jahrzehnten rückgängig machen sollte. Zu dem Zeitpunkt war aber wohl niemand mehr übrig. Ich schätze, wenn man die Evolution 150 Jahre zu lange im Schnelldurchgang ablaufen lässt, kann das schon mal in Gedanken kontrollierendem Schleim enden.“
„Wie können wir sie aufhalten?“, rief Wire. „Keine Ahnung, feste draufhauen vielleicht? Ist ja nicht so, als hätten Robo-Zombies ganz oben auf der Agenda zur Rettung der Natur gestanden.“
„Du bist völlig nutzlos! Kein Wunder, dass die Menschen ausgestorben sind“, erboste sich Wire. „Es gibt eventuell jemanden, der euch helfen kann“, antwortete Susanne. „Als das Wiederherstellungsprogramm gestartet wurde, wurden gewisse Vorkehrungen getroffen, für den Fall unvorhergesehener Probleme. Wenn etwas davon übrig ist, könnten sie die Katastrophe vielleicht stoppen. Wollt ihr sie finden, dann müsst ihr zum Archivar. Nur er kann euch auf der Suche helfen.“
„Wie können wir zu ihm kommen?“, fragte Stitch. „Durchquert die Sümpfe in Richtung Osten, bis ihr auf einen Fluss stoßt. Folgt ihm flussaufwärts, dann landet ihr automatisch in der Stadt New Haven, oder was auch immer noch von ihr übrig ist. Im Zentrum der Stadt steht eine mächtige, alte Eiche. Dort werdet ihr den Archivar finden.“
„Wir müssen auch unser Dorf warnen, sie dürfen nicht unvorbereitet sein“, warf Plate ein. Susanne antwortete: „Direkt über uns liegt eine alte Sendestation. Ich fürchte, ihr werdet allerdings die Treppe nach oben nehmen müssen, der Aufzug müsste mal wieder gewartet werden.“
Sie hatten es also geschafft, sie würden ihre Gemeinschaft warnen können. Stitch sah seine Freunde an. Ein leichtes Nicken, ein entschlossener Blick, ein resignierendes Seufzen. Alle wussten was getan werden musste. Ihre Reise hatte gerade erst begonnen.
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