Überleben untersagt!
„Eigentlich hätte die Polizei dich nicht befragen dürfen, jedenfalls nicht in dem Zustand. Aber nun ist es, wie es ist. Ich denke, wir bekommen das wieder hin." Er schob ein Kärtchen seiner Kanzlei über den Tisch und blätterte in seinen Papieren. Es war ihr selbst unbegreiflich, dass sie sich anfangs nicht an den silbernen Audi erinnern konnte. Kati hatte gerade am Radio herumgespielt, als es passierte. Sekunden und ihr Auto hatte sich gedreht, überschlagen, war die Böschung hinunter gekullert und mit der vorderen Dachkante gegen den Baum geschlagen. Dann war alles still. Sie meinte Rauch gesehen zu haben und hatte geschrien: „Scheiße! Kati, wir müssen hier raus." Beim Überrollen waren sie beide nach hinten geschleudert worden, weil sie sich nicht angeschnallt hatten. Das war wohl ihr Glück. Die Polizei bestätigte es: „Ihr hattet Glück! Vorne hätte keiner überlebt." Die beiden Typen, die ihnen aus dem Auto geholfen hatten, kannte sie nicht. Sie hätten den Hergang bezeugen können. Sie waren ihnen aus dem Black Inn gefolgt und hatten den Audi gesehen. Den Spuren zur Folge war aber allein ihr Auto ins Schleudern geraten und von der Straße abgekommen. Nun hatte sie es so im Protokoll unterschrieben. Nach Zeugen hatte niemand gefragt. „Beruhig dich erst mal und setz dich her...“, hatte der eine gesagt, „Willst du ne Zigarette?", den Arm um sie gelegt und die Hand unter ihr T-Shirt geschoben. Ihr war jetzt bestimmt nicht nach Zigaretten und schon gar nicht danach zumute. Der andere hatte gesagt, es sei ein silberner Audi gewesen. Das Schwein sei einfach abgehauen. „Der hat dich ganz schön geschnitten äi, aber du bist rasant links vorbeigezogen. Coole Leistung!" Beim Versuch sich von seiner Hand zu befreien, hatte sie ihn angefasst. „Scheiße äi, du blutest ja! Da, deine Hände sind ja voller Blut. Deine Hose auch." Der andere hatte ihre Handtasche durchwühlt, um mit ihrem Händy die 112 zu verständigen. „Ihr versteht doch, dass wir uns verpissen, bevor die Bullen kommen." - „Jaja, schon klar!"
Jetzt meinte ihr Anwalt: „Wir müssen unbedingt diese Zeugen finden! Kannst du dich noch an irgendetwas erinnern? Und warum hast du gegenüber der Polizei nicht einfach die Aussage verweigert?" Sie wusste es nicht. „Nun gut, es ist wie es ist." Kati hatte gar nichts gesagt. Sie hatte völlig unter Schock gestanden. In der Notaufnahme hatten sie sie gleich dabehalten. Gehirnerschütterung. Sie selbst hatte lediglich Schnittwunden von den Seitenairbags, die Rettungssanitäter hatten sie bereits versorgt. Komisch, erst hatte sie überhaupt keinen Schmerz gespürt, doch jetzt tat immer noch alles weh. Ihre Mutter hatte gesagt: „Ihr hattet einen Schutzengel.“ Ihr Vater: Es sei ja nur ein Blechschaden. Aber jetzt diese Amtsschimmel. Sie würde um eine Nachschulung nicht herumkommen. „Aber ich konnte doch nichts dafür!" Achselzucken. Sie habe den Führerschein noch auf Probe und nach den Fakten sähe es so aus, als habe sie in der Kurve die Kontrolle über ihr Fahrzeug verloren und sich überschlagen, nach nichts sonst. Von dem mysteriösen Dritten fehle jede Spur, von den beiden Zeugen ebenfalls, bis auf die Stimmaufzeichnung in der Notrufzentrale, allerdings von ihrem eigenen Handy aus. Da ließe sich nichts verfolgen. Die Versicherung erhob Ansprüche, weil sie nicht angeschnallt gewesen waren. Außerdem sei es das Fahzeug ihres Vaters gewesen, das sie aus versicherungsrechtlichen Gründen gar nicht hätte fahren dürfen, lediglich im Notfall, der sich natürlich nicht nachweisen ließ. Die Leitplanke sei kaputt, das würde teuer. Die Krankenkasse monierte, dass ihr Transport im Rettungswagen nicht erforderlich gewesen sei. Bezüglich Katis Verletzungen, die nun wohl doch noch länger im Krankenhaus würde bleiben müssen, gab es eine Anzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung. Sie habe als Fahrerin dafür Sorge zu tragen, dass sich ihre Mitfahrer anschnallten. Die Ausbildungsstelle würde sie wohl vergessen können. Mobilität war die Voraussetzung. Den Vertrag hätte sie morgen unterschreiben können. Eben hatte die Firma angerufen, da gäbe es Probleme, wenn sie keinen Führerschein hätte. „Was hab ich denn falsch gemacht?" Ihr Anwalt grinste in die Mundwinkel. „Falsch war, dass ihr überlebt habt." - „Und, das ist verboten?“ - „Es klingt grotesk, ich weiß, aber Überleben, weil man gegen eine bestehende Vorschrift verstößt, ist eben in unserer Rechtsprechung nicht vorgesehen.
Prätorius