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Überleben!
„Mach die Klappe zu. Mach die Klappe zuuu. Oh yeah, that’s right“, singt Roy und beginnt zustimmend im Takt zu nicken, als Adrian sich wie ein rothaariger Gecko durch die Minimalöffnung der Mückenschleuse windet.
Roy trommelt mit der leeren Plastikflasche, freut sich über deren befriedigende Sprungkraft und nickt. „Mückenschleuse, Baby.“
Adrian macht ein bisschen musikalisches Ritscheratsche mit den letzten Reißverschlusszentimetern und lässt seinen Kopf zucken, als sei dieser nur provisorisch auf den blassen Hals gestapelt worden. „Prekär“, denkt sich Roy zu dieser Verbindung.
Außerdem hört Roy innerlich den Soundtrack: Wilde Trommeln, düsteres ritualhaftes Gemurmel und dieses unrhythmische Gehechel.
Roy ist stolz auf das Gehechel, denn er hat es selbst eingeatmet, hat das Licht im Tonstudio dimmen lassen und so lange auf den braungeränderten Palmwedel in der Ecke gestarrt, bis ihm daraus ein Dschungel erwuchs. Eine grüne, vielarmige Hölle, die das Sonnenlicht verschluckte und deren warme Feuchte sich wie ein Spinnennetz auf seinen kahlen Kopf legte. Roy hetzte durch ungastliches Dornengestrüpp und robbte durch fötide Egelpfützen – alles innerlich, im Geiste. Aus den Kopfhörern trommelte und zirpte es dazu. Roys Atem sagte „Jagd“. Sein Atem sagte „Flucht“. Er sagte „Überleben!“.
Beide Tontechniker waren tief beeindruckt, als der Produzent und Moderator von „Überleben!“ schließlich von apart glitzernden Schweißperlen bedeckt am Mikrofonständer zu Boden glitt. Er hatte sich schwindelig geatmet.
Melissa sprach später unter Roys Regie den von Roy gedichteten Text ein: Schöpfung. Ein Gebirge bricht auf, teilt das Land in zwei Hälften. Die Erde zittert. Im Innern gebären Feuer und Stein neues Leben. Himmelsriesen schleudern Sternenstaub. Er fällt herab. Wasser löscht die Glut. Gold. Ein Fluch. Zehn Monate. Zehn Kanditaten. Im Rausch des Goldes – im Kampf ums Überleben!
Roy hört ihre wichtige Stimme, sieht innerlich den Trailer, wie so oft, wenn er trommelt und an den Soundtrack denken muss: Schwarzroten Erdmassen wogen urtümlich. Und wenn Melissa "Überleben!" sagt, mit kleiner Pause davor und Nachdruck dahinter, wie Roy es sich damals im Tonstudio gewünscht hat, bricht die zähe Lavahaut auf und das Gold gleißt mit eindrucksvollem Strahlenkranz heraus, um das ganze Bild zu füllen und Hintergrund für die rot mäandernden Lettern des Titels zu werden. „Überleben!“ pulsiert es vor Roys innerem Auge und er fühlt sein Herz mitklopfen.
Melissa springt aus der Hängematte und drischt unrhythmisch auf ihre nackten Unterschenkel ein. Ihre Moderationskarten segeln zu Boden und Roy kommt mit dem Tommeln durcheinander.
„Ich hab’ immer noch Phantommücken,“ sagt sie und betrachtet die roten Klatschflecken auf ihren Beinen.
Sie hat von allen am meisten leiden müssen, bevor die Plattform endlich notdürftig übernetzt wurde. Roy litt mit und kommentierte tröstend jeden der Stiche, die auf ihrer weißen Haut zu handtellergroßen Quaddeln anschwollen und die Maske hilflos machten: „Du hast eben süßes Blut.“
Melissa schimpfte: „Das hast du jetzt von deinem Geschrei: Mehr Kerbtiere! Wir brauchen mehr Kerbtiere! Die Schweinemücken vermehren sich wie schlimme Kaninchen und in der Kamera kann man sie nicht mal sehen.“
Die Kandidaten sahen auch nicht schön aus und äußerten Roy gegenüber Sorge, die vorübergehende Verpustelung könne sich nachteilig auf die Chancen ihrer After-Show-Projekte auswirken.
Er musste ihnen erklären, dass man eben nicht einfach das gesamte Dschungelgelände einnebeln konnte, wollte man nicht auch die edlen Spinnen vergasen. Und nicht auszudenken, wenn eine der ungleich teureren Albinopythen eine solcherart vergiftete Arachnide zu sich nähme.
Roy ergänzt im Geiste die schnellen Trippelgeräusche, als er die Vogelspinne auf dem Monitor sieht. Er ergänzt auch das Schmatzgeräusch, als er beobachtet, wie Rabea unten im Dschungel ihren Dolch in den Körper des stummen Tieres bohrt. "Ein fieses Quietschgefauch muss noch drübergelegt werden," denkt er. Es ist ihm zweite Natur.
„Schlucken, nicht spucken, Süße,“ krächzt Adrian, während Rabea sich mit den oberen Schneidezähnen Spinnenmatsch von der Zunge schabt. Roy boxt ihm in die Rippen, weil er solche Rohheiten nicht dulden mag.
„Halt die Fresse, A’drian“, sagt Melissa. Seit sie das Klackgeräusch gemeistert hat, wird sie es nicht mehr los.
Die Kamera zoomt jetzt auf N’samirs bemaltes Gesicht ein und Roy kommentiert leise vor sich hin: „Dunkle Augen verfolgen die weiße Frau.“ Diesen Kontrast stellt er oft heraus. Ebensogern vergleicht er die Dunkelheit des Dschungels mit der Schwärze des Eingeborenen, lässt beides poetisch ineinanderfließen.
Man hat ihm beim Züchter einen ganzen Schwung Neandertalartiger angeboten, mit schönen Augenbrauenwülsten, aber schütterem Haar. Sonderposten. Doch Roy wusste, dass die Eingeborenen nur schwarz sein konnten - Pygmäentyp. Das ergibt besonders in Kombination mit den blonden Kandidatinnen ein erregendes Unbehagen, das Roy „archaisch“ nennt.
Es hat lange gedauert bis N’samir und sein Stamm hungrig genug waren, sich wenigstens in die Nähe der Kandidaten zu trauen. Bis dahin hat Roy ihnen Bilderbücher für die Gruppenidentität gegeben. Sie zeigten glückliche N’samirs mit aufrechten Penisfutteralen auf der Jagd im reichhaltigen Eingeborenenparadies. Dann schlimme Pocken und Pusteln und dürre Babies am Röststöckchen, die Roy sich selbst gar nicht angucken mochte.
Viele Meter unter dem Baumhaus bricht Rabea nun aus dem Dickicht, das Roy gerne als grünen Vorhang beschreibt. Rabea will ihren Preis reklamieren. Dabei hat Roy ihr schon zwanzigmal erklärt, dass es für’s Ausspucken keine Punkte gibt.
„Jetzt singt sie schon wieder“, seufzt Melissa und zuckt zusammen, als habe sie Phantommücken im Ohr. „Ich hab ihr gesagt, dass wir das alles schneiden, dass es nicht zum Sendungsprofil passt."
Roy nickt und trommelt ein Zustimmungssolo. „Versaut die Authentizität.“
Und dann geht alles ganz schnell: Ein krummer Speer surrt meterweit an Rabea vorbei – zumindest ergänzt Roy im Geiste dramatisches Surren. N’samir wirft sich mit schreckverzerrter Weißmaske auf den Boden. Er ist religiös. Das ließ sich nicht vermeiden, da Roy ihn mit rudimentärer Kultur und telegenen Eingeborenentänzen bestellt hat. Rabea vergräbt ihr Messer tief in der Kehle des winzigen Mannes.
„Oh mein Gott“, sagt Roy.