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Ülmtülp
Von der langen Wanderung ermüdet, bot ihm das Fest der Elfen willkommenen Anlass zur Rast. Ülm wartete höflich, und als die Musikanten eine Pause einlegten, fragte er, ob er willkommen sei. Es waren Lichtelfen, die dort fröhlich tanzten. Noch nie hatten sie einem Zwerg die Gastfreundschaft verweigert, und so ward er eingeladen.
Rasch nahm er seine Beinprothesen ab, die schon heftig gedrückt hatten, und setzte sich zu den bezaubernden Elfen. Bald fand er sich in ein lebhaftes Gespräch vertieft.
„Ach ja“, sagte er, „die Prothesen. Nein, das war kein Unfall. Ich bin von Geburt so missgestaltet. Meine Familie ist im Erzgebirge seit Jahrhunderten heimisch; auch ich stamme von dort“.
„Oh!“, rief vorlaut Paila, eine junge Elfe, „ich kann mir schon denken, warum du verkrüppelt zur Welt gekommen bist. Ihr habt sicher in einem Schacht gewohnt, den die Menschen zur Gewinnung von Pechblende angelegt hatten. Die Menschen haben auch unter solchen Erscheinungen zu leiden“.
Ülm lächelte nachsichtig. ’Was für ein Kind!’, rief er in Gedanken aus, ’naiv und unwissend wie alle Kinder’. Dann sagte er: „Das Uran kann uns nichts anhaben, es schadet uns so wenig, wie es euch Elfen schadet. Bei Menschen ist das anders, sie sind so überempfindlich, erkranken und sterben sehr schnell. Obgleich sie größer sind als wir und große Stücke auf sich halten. Wenn du erwachsen bist, wirst du das auch wissen“.
Etwas verlegen fragte die kleine Paila: „Und willst du uns nicht erklären, wie das gekommen ist, das mit ... mit deinen Beinen?“.
„Wenn es euch nicht langweilt“, gab Ülm nach. „Es ist eine böse Geschichte, die sich vor meiner Geburt zugetragen hat“.
Inzwischen waren alle Elfen auf das Gespräch aufmerksam geworden. Sie rückten näher zusammen und bildeten einen Kreis um den Zwerg. „Bitte erzähle uns die Geschichte“, baten sie ihn.
„Unser Erzgebirge ist reich an Bodenschätzen, wie der Name schon sagt. Da gibt es außer Uran, Wismut und Nickel auch Kobalt. In der Kobalt-Mine aber herrschen die Kobolde. Es sind rachsüchtige Gesellen, die nur Schaden stiften mit den dämonischen Kräften, über die sie verfügen. Einer von ihnen hatte es auf meine Mutter abgesehen, denn ihr Liebreiz war über unsere Gegend hinaus bekannt. Da sie ihm nicht zu Willen war, ersann er eine List. Er versuchte, ihr eine Kobalt-Essenz zu trinken zu geben.
’Ist sie erst einmal blau, dann werde ich schon leichtes Spiel mit der Spröden haben’, dachte sich der Kobold.
Meine Mutter aber war nicht nur von lieblicher Gestalt, sondern auch sehr klug, und so durchschaute sie die Ränke des Kobolds. «Es gibt nichts, worauf ich mit dir anzustoßen hätte», beschied sie dem Kobold, «also nimm deine Essenz und beglücke eine andere damit».
Da verfluchte der Kobold meine Mutter. «Zur Strafe soll dein Kind ohne Beine geboren werden!», schrie er in seiner Wut und stampfte so heftig auf, dass es einen Gebirgsschlag gab.
So kam es, dass ich missgestaltet auf die Welt kam. Weil wir Zwerge aber Meister in jeglichem Metallhandwerk sind, hat mein Vater mir diese kunstvollen Prothesen gefertigt und es mir ermöglicht, mich durch die Welt zu bewegen. Und nun bin ich bis zu euch liebem Völkchen gewandert und werde weiter ziehen, bis ich einen Berg finde, der meine neue Heimat werden soll.“
Als Ülm geendet hatte, schwiegen alle noch einen Moment, aber dann schwatzten sie durcheinander und sprachen über die bösen Taten, die von den Kobolden verübt wurden. Bald darauf waren sie dieses leidigen Themas überdrüssig. Ihr Frohsinn rief sie wieder zu Tanz und Spiel. Allein die kleine vorlaute Paila war ganz nachdenklich bei Ülm sitzen geblieben.
„Gibt es denn gar kein Mittel, dass dir helfen könnte?“, wollte sie wissen.
Ülm dachte nach, dann sagte er: „Nein, kein Mittel. Der Bann eines Kobolds ist für uns Zwerge nicht zu brechen, leider“.
Inzwischen war Mitternacht längst vorbei und es ging auf den Morgen zu. Die Musikanten beendeten ihr Spiel und die Elfen ihren Reigen. Es war Zeit, zur Ruhe zu gehen. Die Elfen begaben sich in luftige Höhen auf ihre Schlafplätze in den Bäumen. Paila machte es sich auf einem Haselnusszweig bequem, und Ülm schlüpfte zwischen dessen Wurzeln, wo er sogleich einschlief.
Tülp hatte einen langen Weg hinter sich und sie war müde. Mit ihrem Fischunterleib sah sie aus wie eine Nixe, doch in Wirklichkeit war sie eine Elfe. Nur schwer konnte sie sich an ihre veränderte Gestalt gewöhnen. Im Augenblick war sie nur froh, dass sie dem Satyr Lüs-Wüs entkommen war, der sie verzaubert hatte. Kurz vor dem Morgengrauen gelangte sie an eine Waldlichtung, auf der noch vor kurzen Elfen gefeiert hatten. Goldener Puderstaub von der Flügelschminke war hier und da an den Blättern der Bäume zu sehen gewesen. Erschöpft ließ sie sich auf dem Zweig eines Haselstrauches nieder und schlummerte ein, bevor noch die Sonne aufgegangen war.
Kaum war die Sonne wieder untergegangen, erwachte die Lichtung zu neuem Leben. Die Elfen begrüßten sich und die neue Nacht. Gut gelaunt tauschten sie Scherzworte mit den Musikanten, die ihre Instrumente stimmten.
Plötzlich rief die kleine Paila aufgeregt:
„Holla, wir haben Besuch bekommen! Schaut nur, ein seltener Gast. Noch nie sah ich eine Nixe außerhalb der Gewässer!“.
Tülp wurde ganz verlegen als sie merkte, dass sich aller Aufmerksamkeit auf sie richtete. „Ich bin keine Nixe“, erklärte sie, „sonst müsste doch Wasser aus meinen Sachen tropfen. Ich bin eine verwunschene Elfe“.
Über diese Erklärung staunten die Elfen nicht minder, als wenn sie doch eine Nixe mitten auf einer Waldlichtung gesehen hätten. Aufgeregt umringten sie Tülp und baten, dass sie von ihrem Schicksal erzählen möge.
Nun, das war schnell erledigt:
„Ich komme aus dem Harz“, sagte sie, „oben auf dem Brocken war ich zuhause. Während ich ein paar Figuren für eine neue Aufführung zur Walpurgisnacht einübte, sprach mich plötzlich Lüs-Wüs, der Satyr, an. Eigentlich heißt er Lüsterner Wüstling, doch wir nannten ihn immer nur Lüs-Wüs. Er wollte, dass ich auf der Stelle ihm Befriedigung verschaffe, ich sei so recht nach seinem Geschmack. Vernaschen wollte mich der Bock, der ...“, und sie fügte zur Bekräftigung noch das „g-Wort“ hinzu. „Mit Mühe und Not konnte ich mich ihm entwinden, doch um mich zu strafen, verwandelte er mich vom Bauche abwärts in eine Nixe. Ich bin froh, dass ich noch meine Flügel habe und fliehen konnte“, schloss sie ihre traurige Geschichte.
Rufe der Empörung hallten weit über die Lichtung. Gestern schon erzürnten sie sich über den bösen Streich des Kobolds, jedoch betraf es dieses Mal eine aus ihrem eigenen Volk! Nur ganz langsam legte sich die Aufregung wieder.
„Kann dich niemand von diesem Fluch befreien?“, fragten besorgt die Elfen.
Tülp schüttelte traurig den Kopf und sagte: „Ihr wisst doch selbst, dass wir nicht in der Lage sind, den Zauber von Waldgöttern zu brechen. Lüs-Wüs aber ist ein Waldgott“.
Ülm hatte von seiner Ruhestätte zwischen den Wurzeln des Haselstrauches alles mit angehört und ging nun langsam zu den um Tülp versammelten Elfen hinüber. Was für eine Schönheit war Tülp! Auf der Stelle verliebte sich Ülm in sie. Ach, wenn sie doch beide nicht von einem Fluch betroffen wären!
Die Elfen aber fanden, es sei genug getrauert. Schon immer waren sie ein fröhliches Völkchen, und da Weinen auch nichts half, so wollten sie wieder tanzen und lustig sein. Allein Ülm und Tülp beteiligten sich nicht an dem ausgelassenen Treiben, welches nun anhub.
Bei ihnen blieb auch Paila, die kleine Elfe. Da sie sah, wie sympathisch die beiden Unglücklichen sich fanden trotz ihres Schicksals, wollte sie doch mit aller Macht helfen. Sie besann sich darauf, dass die Haselnuss als die „Schale der Weisheit“ galt und beschloss, den Haselstrauch zu fragen. Gesagt, getan, und kaum hatte sie ihre Frage gestellt, als die Blätter ihr zuraunten:
„Finde der Blumen Königin,
die nur voll erblüht im Schnee.
Aus der Wurzel Zeh für Zeh
Wird dir erwachsen. Such den Sinn!“
Wie hüpfte da ihr kleines Herz vor Freude! Eilig schwirrte sie zu dem Zwerg und der Nixen-Elfe und sagte das Verslein her, welches der Strauch ihr geflüstert. Aber so sehr sie auch überlegten, sie bekamen keinen vernünftigen Sinn in diese orakelhaften Worte. Plötzlich hatte Paila eine Idee.
’Finde der Blumen Königin’ – "Wer ist denn die Königin der Blumen?“, fragte Paila außer Atem.
„Die Rose doch!“, riefen die beiden anderen wie aus einem Munde.
„Eine Rose, die im Schnee blüht?“, forschte Paila weiter.
„Aber ja, das ist die Schneerose!“, rief Tülp.
„Ich kenne sie auch“, mischte sich Ülm ein, „wir nennen sie Nieswurz“.
„Der Rest ist einfach“, sann Paila weiter, „aus der Wurzel müssen wir ein Getränk brauen. Und wenn ihr das trinkt, dann werden euch wieder Zehen wachsen, Füße, Beine. Das ist der Sinn!“.
So zeigte es sich, dass es von Nutzen ist, Kinder ernst zu nehmen und auch, dass Kinder manchmal bessere Ideen haben als Erwachsene.
Tülp und Ülm waren außer sich vor Freude, fassten Paila unter, wirbelten sie hoch in die Luft und fingen sie wieder auf. Sie berieten sich mit den Elfen und alle fanden, dass das Orakel richtig gedeutet sei.
Bald fanden sie auch die begehrte Schneerose und baten sie, etwas von ihren Wurzeln abzugeben. Als die Schneerose den Zweck erfuhr, willigte sie freudig ein, denn sowohl die Elfen wie auch die Zwerge waren Freunde aller Pflanzen.
Ein Sud wurde gebraut, der Aufguss getrunken ... und siehe da: dem Zwerg wuchsen richtige Beine mit Füßen daran, und bei der verzauberten Elfe verschwand der Nixenleib. Nun wurde es erst ein richtiges Fest. Sie alle tanzten bis zur Erschöpfung fast bis in den Morgen hinein und begaben sich glücklich zur Ruhe.
Am nächsten Abend aber gaben Ülm und Tülp bekannt, dass sie für immer zusammen bleiben wollen. Die Elfen richteten die Hochzeit aus, und aus Ülm und Tülp wurden die Eheleute Ülmtülp. Denn das war anders als bei den Menschen: sie brauchten keinen Bindestrich zwischen ihren Namen.
Die Ülmtülps zogen weiter, nachdem sie ausgiebig mit den gastfreundlichen Elfen gefeiert hatten, und fanden ein Heim für sich im Elbsandsteingebirge nahe dem Städtchen Schmilka. Dort gibt es bis heute einen Gipfel, der den Namen Ülmtülp trägt. In dem Berg wohnen der Zwerg Ülm und die Elfe Tülp mit ihren zahlreichen Nachkommen, die weder Zwerge noch Elfen, sondern Ülmtülps sind. Doch je nach Erbanteil von den Eltern gibt es die Höhlen-Ülmtülps, die im Berg wohnen, und die Flug-Ülmtülps. Die wohnen auf den Gipfeln. Und alle sind glücklich und zufrieden.