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überrasch
von M. Glass
Mein Körper schreit nach Bewegung. Ich laufe. Der Laut erstickt. Jeden Morgen. Immer wieder.
Die Isar ist seicht in München. Sie ich begleitet mich und nicht selten stelle mir vor, sie triebe mich in ihrem langsamen, aber unaufhaltsamen Strom. Dunkel schlängelt sie sich unter Brücken hindurch, wo die Finsternis lauert und von den künstlichen Lichtern verschont bleibt. Die Ungewissheit projiziert Ängste des Unterbewusstseins in diese schwarzen Löcher Münchens. Alles und jeder könnte sich in den Schatten verbergen. Hier, in diesen frühen Stunden des Tages.
Jugendlicher Leichtsinn lässt Füße zu tödlichen Waffen werden. Alkohol reizt das Böse im Menschen, macht es fahrlässig und übermütig. Berauschende Gifte eröffnen das Tor zur Phantasie und lösen zu leichte Ketten. Der Drang zum Trieb zwingt Männer zur unsittlichen Tat. Welch Glück soll solch ein Unheil begleichen?
Endorphin ist das Zauberwort. Besser gesagt: das Glück beim Lauf. Mein Körper ist süchtig danach. Ich fühle mich, als kaufte ich eine Spritze, wenn ich mit neuen Schuhen aus dem Sportgeschäft trete und wenn ich mich Schritt für Schritt in Bewegung setze, dann fühle ich das Elixier in meinen Adern wirken.
Mit einem Lächeln im Gesicht lief ich einem Mann entgegen. Er schien so klein, doch mit dieser Vermutung lag ich falsch. Seine Finger waren in schwarze Handschuhe gehüllt, sein Gesicht ganz rot vor Anstrengung. Er läuft nicht wie ich zum Genuss, sondern um dem männlichem Ideal näher zu kommen. Er würdigte mich wenigstens mit einem flüchtigem Blick. Peinlich, vermut ich, war es ihm. Beim Vorbeilaufen inhalierte ich seinen schwitzigen Atem, seinen übel riechenden Geruch.
Ich wandte mich um. War es der Gedanke an all die Gewalttaten der Großstadt, die Empfehlung meiner Freunde oder einfach nur eine routinierte Geste: ich blickte zurück. Was ich erwartet hatte, war ein durchfeuchteter Rücken eines übergewichtigen Herren. Was ich zu sehen bekam, war ein hellrot erleuchtetes Gesicht, das auf mich zukam. Galt der flüchtige Blick etwa meinen hüpfenden Brüsten? Wollte er jetzt mehr als nur einen Blick wagen? Sein Gesicht war nichtssagend. Als wolle er eine Antwort auf meine stummen Fragen geben, öffnete sich sein Mund. Fahl stieß er seine Trockenheit in mein Gesicht und krächzte nach Flüssigkeit. Wasser nennt er sie. Emotionslos brachte ich ihm bei, dass ich keines hätte. Ich lief weiter.
Mir war, als wäre ich ihm nie begegnet. Leise schwebten Blätter Mäusen gleich über den provisorisch angelegten Weg. Zwei Stunden laufe ich für gewöhnlich, doch auch wenn die Erinnerung an den Mann mehr und mehr verstrich, hat mich diese ungewollte Begegnung aus dem Rhythmus geworfen.
Ein Schritt zu wenig, ein Herzschlag zu viel. Ich beschloss, noch eine weitere Stunde zu laufen. Der Gedanke daran fühlte sich verdammt gut an.
Das erfrischende Grün, dieses lebendig pflanzliche Gestrüpp provozierte ungeahnte Kräfte in mir. Ich wusste, dass es nicht mehr weit war, mein Haus war gerade mal ein paar hundert Meter entfernt. Da wurde ich erneut in meiner Sucht gestört.
Ein Geräusch. Kein Rascheln. Kein Wind. Nichts natürliches. Sondern ein weiblicher Schrei, der Laut einer schreienden Frau. Ich drosselte mein Tempo und blieb stehen, schaute mich um. Ich sensibilisierte meine Sinne und da vernahm ich es erneut. Diesmal glich es erschöpftem Kreischen. Ich verließ den geschotterten Pfad und wagte mich ins nasse Gras, dessen Feuchtigkeit unmittelbar danach in meinen Sportschuh eindrang und mich schaudern ließ.
Langsam näherte ich mich dem unbekannten Ursprung des Geräusches. Es ertönte schmerzhaftes Stöhnen, leiser, aber für mich nun deutlich. Es folgte eine unscheinbare Bewegung des Busches. Fand hier soeben ein Verbrechen statt? Eines, vor dem ich mich am meisten fürchtete?
Das rauschende Glücksgefühl meines Sprints schwand. Ich stand. Meine Angst versuchte mich zum Weiterlaufen zu bewegen, während meine vermeintliche Zivilcourage eine Aktion forderte. Ich stand. Meine Sportschuhe sogen die Feuchtigkeit in sich. Ich stand. Wusste nicht, was zu tun war. Ich stand. War hilflos. Ich stand.
Nach langer Qual meiner Unentschlossenheit krochen zwei nackte, begraste und vom Dreck befleckte Menschen hervor. Sie lächelten und scherzten. Er streifte sich sein Hemd über, schüttelte die Blätter aus seinem Haar. Sie schnallte sich ihren Büstenhalter um und kramte ihre Socke aus dem Gebüsch hervor.
Als sie im Begriff war, sich aufzurichten, erblickte sie mich. Sah, wie ich stand und sie beobachtete. Unverzüglich griff sie nach ihrem Slip und eilte hinweg. Der Mann drehte sich zu mir, sah mir in die Augen und sagte mir so, wie sehr ihm meine Anwesenheit missfiel.
Ich lief weiter.
Mir war, als wäre ich ihm nie begegnet.