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… außer der Furcht an sich
Mein bisheriges Leben bestand aus einer raschen Abfolge von Herzinfarkten, aufgereiht wie bei einer Perlenkette, aber mir geht die Schnur bald aus.
Als Kind hatte ich Angst vor dem Mann unter meinem Bett. Das ist die erste Perle, an die ich mich erinnere. Ich hatte Angst einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen, dass etwas mit mir passiert, dass mich wer holt. Meine Mutter hat mir gesagt, Oma sei eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Der Mann unter meinem Bett – ich hatte Angst davor, dass er nach mir greift, seine Klauen durch die Matratze hindurch nach oben stößt, mit vor Kälte klirrenden Fingern durchs Mark greift, nach meinem Herzen. Ich schrie.
Ich hatte Angst einzuschlafen, aus dem Bett zu fallen und mir den Kopf zu stoßen, nachdem ich den Wickeltisch meines Bruders gesehen und meine Mutter gefragt hatte, warum da Gitter dran wären? Und wenn bei ihm, warum dann nicht auch bei mir?
In der Grundschule hatte ich Angst vor Raufereien. Ich weiß noch, so ein Junge stand vor mir, ich war nicht sehr beliebt damals, ein feister Junge stand vor mir, mit Sommersprossen übers ganze Gesicht verteilt und roten Haaren, roten, irgendwie dünnen Haaren. Er hielt einen Bleistift vor meine Augen, einen grünen, mit einer Hand hielt er ihn am linken Ende und mit der anderen am rechten fest. Er sagte: „Ich kann mit deinem Arm das hier machen.“ Dann hat er den Bleistift in der Mitte zerbrochen. Ich hatte Angst vor morschen Knochen, vor Brüchen und Splittern, vor kleinen Knochen-Torpedos, die sich durch mein Fleisch bohren.
In der Pubertät hatte ich Angst vor Krebs. Ausgemergeltes, marodes Fleisch, weil ich Benn gelesen hatte, weil wir Benn lesen mussten. Achte Klasse, Deutsch, Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke. Fleisch schwillt an Fleisch. Ich bin ohnmächtig geworden. Das Mädchen, das das Gedicht vorgelesen hat, wusste, was mit mir los war, wir verstanden uns gut, sie war meine Freundin, aber sie hat einfach weiter gelesen.
Später dann Aids, Freddy Mercury, ein Fünfzig-Kilo-Gerippe. Viren, unsichtbare Killer, Fleisch fressende, geifernde Mäuler.
Ich fürchtete, dass mich ein Blitz treffen könnte, ein herabfallender Ast mich erschlüge, bibberte vorm Flammentod im Schlaf, weil der Sicherungskasten Funken fing. Ich hatte Angst vor der Musterung, vorm Autofahren und davor, aus Angst mein Leben zu verschwenden.
Ich lege Karten, nur für mich selbst, Solitär, das beruhigt mich. Wenn meine Gedanken auf Wanderschaft sind, treffen sie auf schlimme Dinge am Wegesrand. Karten beruhigen mich. Solitär ist ein kompliziertes Spiel, wenn man es mit vier Kartendecks spielt. Jede einzelne Karte ist in Folie eingeschweißt. Ich hab mal gelesen, man kann über Nacht zum Bluter werden.
Aber das ist alles bald vorbei, die Schnur geht mir aus.
Ich weiß, was ich jetzt habe, ich bin kein Idiot, ich bin keine Witzfigur. Ich leide unter Phobiaphobie. Das ist medizinisch. Ich habe Angst vor der Angst. Ich habe Angst davor, mich so zu erschrecken, dass ich sterbe.
Aber das ist bald vorbei. So oder so.
Seit Jahren derselbe Traum: Die Gastwirtschaft aus dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, ich laufe jemandem nach, ich sehe nur seinen Rücken, manchmal ist es ein Mann, manchmal eine Frau, aber wer auch immer es ist, er hat rote Haare, irgendwie dünne rote Haare. Wir laufen durch den Schankraum, vorbei an der Theke, dann durch einen Flur, durch eine Küche. Die Küche ist hell, sie strahlt richtig, Töpfe und Pfannen stehen silbern auf den Herdplatten, wir gehen weiter, nach draußen, eine kleine Treppe hinunter in den Hinterhof, mir wird schwindlig, ich lockere meinen Kragen, meine Knie werden weich, ich atme schwer, wir gehen die Treppe nach unten, da ist eine kleine Treppe und da sind noch ein paar Meter und eine Ecke. Da ist eine Ecke irgendwo. Rechts von mir ist eine Garage und ein Auto steht darin, ein blauer oder brauner Kleinwagen und hinter dieser Garage ist eine Ecke, um die ich nicht sehen kann. Mein Begleiter bleibt stehen und zeigt mit einer Hand in die Richtung der Ecke und ich gehe um diese Ecke und sterbe.
Man lernt, mit der Angst umzugehen. Ich bin ein Experte für die Angst. Wäre die Angst ein Schwert, ich könnte sie schlucken. Aber es ist nichts Heldenhaftes daran zu erdulden. Es ist kein Mut nötig, um weiterzuleben. Man tut es einfach. Man legt Karten, isst, schläft und wacht wieder auf. Man denkt nicht an gestern, so wie man nicht an morgen denkt. Aber man träumt und man merkt, dass die Schnur ausgeht, dass das Herz schwächer wird, dass alles platzt und porös wird, dass Blut verklumpt und Gedanken wuchern. Wenn mein Verstand ein Garten wäre, ich könnte dabei zusehen, wie das Unkraut ihn überwuchert. Wie es mich infiziert und verschlingt, wie es mich verdorrt und aushöhlt, wie mir die Schnur ausgeht.
Die Tür zum Schankraum ist schwer. Das weiß ich noch von früher, als wir hier gewohnt haben, aber da war ich ein Kind, als Kind kommt einem alles größer und schwerer vor. Als Kind hatte ich Angst, dass ich die Tür aufmache und sie, noch während ich hindurchgehe, zufällt und mich von hinten zerquetscht. So wie ich Angst hatte, im falschen Moment aus dem Schulbus zu steigen. Wenn der Fahrer mal nicht schaut und die Tür schon schließt und ich mitgeschleift werde.
Links vor der schweren Tür steht ein Zigarettenautomat, noch so wie früher. Aber jetzt ist ein Schlitz für Personalausweise darin und er ist kleiner. Früher war er auf Augenhöhe, heute reicht er mir nur bis zur Brust. Ich wische mir über die Stirn, sie ist nass. Ich drücke meinen Rücken durch und fasse die Klinke mit beiden Händen an, mit einem Ruck reiße ich sie auf, die ganze Busfahrt über hab ich mir das vorgestellt. Ja, ich bin Bus gefahren, ich hatte nur vierzehn Euro achtzig dabei, damit ich nicht aussteigen konnte. Während der Fahrt hab ich die Busfahrkarte in der Tasche meiner Jacke gestreichelt und zerknittert wie eine Spielkarte ohne Folie. Ich reiße die schwere Tür mit beiden Händen auf und husche hinein, bevor sie zufallen und mich erschlagen kann.
Drinnen sitzt eine rothaarige Frau an einem runden Tisch. Sie schaut nach oben, mit der linken Hand löffelt sie gerade etwas, das ich aber nicht sehen kann, weil sie mit der rechten Hand in der Zeitung blättert. Sie schaut mich an und ich erkenne sie sofort. Meine Freundin von damals, die, die weiter gelesen hat, obwohl sie mich kannte. Sie schaut mich an, ihre Augen sind grün, und sie sagt: „Bist du’s?“
Ich nicke.
„Schön“, sagt sie. „Setz dich doch, ich bin gleich fertig.“
Ich ziehe einen Stuhl weg, er schrammt über den Boden, und ich setze mich zu ihr. Sie hat die Zeitung weggelegt und ich kann den Teller sehen. Sie isst Frikadellen mit Apfelkompott. Sie sticht mit ihrem Löffel ein Stück Frikadelle ab, taucht ihn dann in den gelben Kompott, führt ihn zur anderen Seite des Tellers und tippt Apfelkompott auf die Frikadelle. Sie sagt: „Ist schon komisch, ob der Apfel jemals daran gedacht hat, mal mit einem Schwein verspeist zu werden?“ Dann führt sie den Löffel an ihren Mund, schließt die Augen, während sie kaut und schluckt. „Ich weiß noch“, sagt sie. „Das hast du früher mal zu mir gesagt, als du gehört hast, dass in Katzenfutter Rindfleisch ist. Du hast gesagt: Stell dir mal vor, wie so eine Katze vor einer Kuh steht und sagt, morgen fress ich dich. Das weiß ich noch, daran hab ich oft gedacht. Du hast mich zum Lachen gebracht.“
Wir reden, währenddessen schaue ich aus dem Fenster und suche nach braunen oder blauen Kleinwagen, die in eine Garage passen. Meine Hose klebt am Stuhl und ich höre, wie mein Knie gegen die Unterseite des Tisches schlägt, aber wir reden.
„Du warst nie so ängstlich“, lügt sie. „Du bildest dir das nur ein. So schlimm wie du tust, war es nie. Du bist nicht ohnmächtig geworden damals, dir wurde nur schwindelig. Weißt du das nicht mehr?“
Warum belügt sie mich?
„Komm“, sagt sie. „Da ist nichts.“
Sie steht auf, ich schaue auf ihren Teller, schaue dann wieder nach oben, hinter ihr her. Ich kann nur ihren Rücken sehen und ihr Haar, ihr irgendwie dünnes, rotes Haar, ich muss mich von der Tischplatte abstützen, um aufstehen zu können.
„Kommst du?“, fragt sie und ist schon an der Tür zum Flur hinaus, nach hinten. Ich gehe ihr nach, der Flur ist wirklich nur eine Zwischenstation, ganz winzig. Er riecht nach Cordmützen und Couchgarnituren, obwohl gar nichts darin steht, aber sie macht schon die Tür auf zur Küche und ich bin hinter ihr. Es ist viel zu schnell. Sie läuft zügig, mit zackigen Schritten, wir gehen an silbernen Töpfen vorbei, Kochlöffel hängen von oben nach unten hinab, wie Gitterstäbe. Zwischen Kochlöffeln und herabhängenden Pfannen sehe ich in das feiste Sommersprossengesicht eines Mannes, er lugt hindurch wie in einem Alptraum.
„Kommst du?“, ruft sie von der Tür.
Ich folge ihr, als ich bei der Tür bin, seh ich nach unten. Da ist eine kleine Treppe. Eine winzig kleine Treppe, nur drei Stufen. Sie hüpft schon hinunter, als wär es noch gestern und nicht mehr heute. „Er ist immer noch braun, genau wie früher“, sagt sie. „Nun komm schon“.
Ich sehe nach rechts, von meiner Treppe aus, und da steht ein brauner Kleinwagen in der Garage.
„Wir haben so viel zu bereden, ich hab dich ja total aus den Augen verloren“, sagt sie. Ich lockere meinen Kragen, mein Herz rast. Meine Knie werden weich.
„Nun komm schon“, sagt sie wieder, so als wäre es heute. „Bring es hinter dich, du hast es mir doch erklärt.“
Ich habe gar nichts gesagt. Das ist ein Traum. Ich hab nicht mit ihr geredet. Sie hat den Kompott gegessen und ist aufgestanden. Und der Mann arbeitet nicht in der Küche, das ist ein Traum.
„Nun komm“, sagt sie. „Schau um die Ecke“. Sie streckt eine Hand aus, ich kann jeden einzelnen Finger sehen und die Sonne, die sie von hinten beleuchtet.
Das ist ein Traum. Ich gehe die erste Treppenstufe nach unten. Das ist ein Traum. Ich träume das nur, ich habe es schon oft geträumt. Heute ist es anders.
Sie lacht glockenklar.
Mein Herz zerspringt, das Unkraut wuchert, der Traum sprengt mich. Da ist die Ecke, um die ich nicht sehen kann. Die Ecke, die mich tötet.
Ich schaue zu ihr, sie spitzt die Lippen wie zum Kuss, ich schaue nach rechts, der braune Kleinwagen steht da, ich schaue nach vorne. Ein Traum. Ich - nur noch ein paar Schritte, bis zur Ecke. Mein Hals schnürt sich zu. Ich schaue über meine Schulter, da ist die Treppe noch, wenn ich jetzt zurückgehe, ist da die Küche und der Flur und der Schankraum und der Zigarettenautomat und der Bus und Solitär. Der Bus.
Ein Traum. Noch einen Schritt, dann bin ich um die Ecke.
Ich greife in die Tasche meiner Jacke. Da ist die Busfahrkarte.
Mir brechen die Beine weg. Das letzte Grün meines Gartens ist verdorrt. Das geschluckte Schwert hat mich durchbohrt. Ich höre sie noch schreien.
Zu viele Perlen, zu wenig Schnur.