10 Minuten
Ich stehe in der Eingangshalle der städtischen Polizeistation, tippele unruhig auf der Stelle vor und zurück, hin und her und schaue immer wieder hektisch auf meine Armbanduhr.
Noch fünf Minuten.
Noch vier.
Noch drei.
Langsam halte ich es nicht mehr aus. Oder, was heißt hier langsam. Ich halte es nicht mehr aus.
Halte dieses ewige ungewisse Warten einfach nicht mehr aus.
Ich will jetzt sofort in dieses Zimmer stürtzen, in das sie meine kleine Tochter gebracht haben.
Sie können sie mir doch nicht einfach wegnehmen. Sie braucht mich doch.
Mein Kopf ist leer mit Ausnahme von dem Gedanken daran, dass ich jetzt sofort zu Jessie will, dass ich sie in die Arme schließen und ihr sagen will, dass alles gut werden wird. Dass so etwas nie wieder passieren wird, dass ich in Zukunft besser auf sie aufpassen werde.
Es tut mir so leid, so unglaublich leid und ich wünschte ich wäre an ihrer Stelle.
Warum habe ich nicht besser auf mein kleines Mädchen aufgepasst.
Ich hätte wissen müssen, dass sie mit dreizehn noch viel zu jung ist um abends mit Freunden in die Diskothek zu gehen.
Sie ist doch noch viel zu jung. Viel zu klein, mein armes süßes Mädchen.
Noch eine Minute, dann gehe ich hinein.
Ich habe mir ein Zeitlimit gesetzt.
" Nach zehn Minuten Warten gehe ich hinein. ", habe ich zu denen gesagt.
Und gleich sind zehn Minuten vorbei. Ich muss doch zu meiner Kleinen. Es ist meine Schuld. Ich weiß, dass es so ist. Ich hätte wissen müssen, dass Jessica statt auf mich zu warten, alleine nach Hause laufen würde, wenn es ihr nicht gefiel. Ich hätte es doch wissen müssen.
Zehn Minuten sind rum.
Ich setze mich automatisch und zielsicher in Bewegung, doch genau in dem Moment, als ich die Tür aufreißen will, öffnet sie der junge Polizist von innen.
Er hat geweint.
Ich habe nicht oft Männer weinen sehen. Wenn selbst die stärksten Männer weinen, ist das ein schlechtes Zeichen.
Tausende grausame Möglichkeiten, was dieser Kerl mit meiner Tochter getan haben könnte, schießen mir in den Kopf und ich dränge die Bilder so gut es geht zur Seite, als ich anfange zu würgen.
Ich stolpere über den Türabsatz in den Raum und schaue mich suchend nach Jessie um. Meine arme kleine Jessie.
Zunächst sehe ich sie nicht, doch dann richtet sich mein Blick auf die kleine zusammengekauerte Gestalt, die in der Ecke des Raumes auf einem schwarzen Sessel sitzt und das Gesicht in die Hände gestützt hat.
Ich renne auf den unscharfen Punkt zu - die Tränen fließen inzwischen lautlos aber unaufhörlich und verschleiern meinen Blick - und reiße das kleine Mädchen, das so brutal und grauenvoll zur jungen Frau gemacht wurde, in meine Arme.
Sie ist viel zu früh erwachsen geworden. Meine arme Kleine.
Ich wiege sie in meinen Armen hin und her, wie ich es früher immer getan habe.
Ich höre ihr qualvolles Schluchzen, das aus den Tiefen ihrer Seele zu kommen scheint und wünschte ich könnte sie einfach an meine Wange drücken, ihr die unsichtbare Wunde wegpusten, einfach fortstreicheln, so wie ich das früher immer getan habe, als sie noch ein Baby war.
Es geht nicht mehr und die Verzweiflung drückt mir schwer auf die Brust und schnürt mir die Kehle zu.
Ich ringe einen kurzen aber endlos scheinenden Moment nach Luft und besinne mich dann wieder darauf, dass meine Jessie mich braucht.
Sie braucht mich jetzt. Ich muss stark für sie sein und das werde ich auch.
Ihre kleinen Hände, fast noch die eines Kindes, klammern sich an meinen Rücken und graben ihre Fingernägel fest in mein Fleisch.
Ich halte sie fest. Halte sie, bis ihr kein Laut mehr entrinnt.
Einen bangen Moment habe ich die idiotische Angst, sie erdrückt zu haben, doch dann spüre ich, wie sich ihre Brust langsam an meiner senkt und hebt.
Sie ist eingeschlafen.
Ich werde über ihre Träume wachen, er wird sie nicht auch noch dorthin verfolgen.