Was ist neu

451

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04.08.2002
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451

Noch drei Jahre

Attarin wankte den schmalen Pfad zwischen Krommbach und Waldstatt entlang. In der Dunkelheit nach einem festen Halt suchend, fuhren seine Finger durch die taunassen Zweige der Bäume am Wegesrand. Im letzen Moment fanden sie einen festen, glatten Baumstamm. Der junge Brukterer übergab sich zum dritten Mal. Die gallige Flüssigkeit brannte in seinem Mund. Attarin war im Streit vor Gerhard aus Krombach geflohen. Zwar hatte Gerhards Nase geblutet und vielleicht fehlte ihm jetzt ein Zahn, doch am Ende waren die Krombacher Freunde von Gerhard herbeigeeilt, und gegen die zehnfache Übermacht hatte selbst der starke Attarin keine Chance gehabt. Noch einige harte Schläge austeilend war er am Schluss aus dem Kreis der Angreifer geflüchtet. Er drehte sich um, um sicher zu gehen, dass er nicht mehr verfolgt wurde. Nach Waldstatt, seinem Heimatdorf, waren es zwei Stunden. In seinem Zustand hätte es auch zwei Tage entfernt liegen können. Er taumelte vom Weg und fiel über einen niederen Busch ins dichte Unterholz. Attarin raffte sich auf, stolperte erneut und blieb auf dem Rücken liegen. Der Weg war nicht mehr zu sehen. Gerhard und seine Freunde würden ihn hier nicht finden. Erleichtert schloss er die Augen und schlief sofort tief und fest. Selbst als kurze Zeit später Reiter den Pfad entlang ritten, wachte er nicht auf.

Attarins Kopf schmerzte. Seine Kleidung war feucht vom Tau, und übelriechendes Erbrochenes klebte an seinem Fellwams. Er reinigte sich mit Gras so gut es ging, spuckte mehrmals aus, und schwor sich, in Zukunft weniger zu trinken. Als er auf den Weg zurücktrat, fielen ihm zahlreiche Hufspuren auf. Attarin wunderte sich, was so viele Reiter hier gemacht hatten. Erst nach einigen Schritten keimte ein schrecklicher Verdacht in ihm: Hunnen!
Die Römer nannten sie Tataren. Nach den Dämonen ihrer Unterwelt. Wer sich ihnen nicht unterwarf, so wie die Ostgoten, wurde umgebracht. Die Ältesten hatten sich in den letzten Wochen mehrmals beraten, und gemeint, Waldstatt drohe keine Gefahr, weil die Hunnen viel zu weit weg wären und ihr Dorf ohnehin durch Boten aus den östlich gelegenen Dörfern gewarnt würde. Attarin hatte sich nicht dafür interessiert. Wie alle Burschen seines Alters stand sein Sinn ausschließlich nach Frauen. In seinem Fall nach der schönen Gerhild, auf die auch Gerhard aus Krombach ein Auge geworfen hatte. Er ging jetzt schneller. Ein noch schrecklicherer Gedanke ließ ihn in einen leichten Trab fallen. Hildchen! Seine kleine Schwester mit dem Hinkebein. Hildchen vergötterte ihren großen Bruder, da sie ohne Mutter hatte aufwachsen müssen. Bei einem Angriff wäre Hildchen mit ihrem Hinkebein viel zu langsam gewesen, um in den umgebenden Wäldern vor den Angreifern Schutz zu suchen. Attarin begann zu zittern und rannte los. Schon bald stach seine Lunge, doch er nahm sein Tempo nicht zurück. Noch gestern hatte er sie böse zurückgestoßen, weil sie wie eine Klette an ihm hing.
„Mach dir doch selber ein Pferd, dumme Kuh.“
Er hatte seine heftigen Worte sofort bereut, doch zurücknehmen wollte er seine Beschimpfung auch nicht. Noch auf dem Weg nach Krombach hatte er die Idee gehabt, wie er Hildchen ein ansehnliches Pferd basteln könnte. Eines aus Stroh mit einer angedeuteten Mähne und mit Augen aus blank poliertem Holz.
Als er Waldstatt erreichte, übergab er sich erneut. Nur noch qualmende Ruinen waren vom großen Dorf geblieben. Am Platz vor dem einzigen steinernen Haus lagen mehrere Leichen. Blutlachen hatten sich um sie gebildet und waren in einem kleinen Bach in Richtung des Brunnens geflossen. Hildchens blonde Haare schwammen aufgefächert in einem See aus Blut. Ihr dünnes Nachthemd war zerrissen. Ihr Geschlecht blutig. Die blau verfärbte Zunge hing ihr aus dem Mund. Am Hals die Abdrücke der Hände des Mörders. Die Augen standen weit aufgerissen. Die Todesqualen für immer festgehalten. Attarin flossen Tränenströme über die Wangen und vermischten sich mit Hildchens Blut. Schluchzend drückte er ihre Augen zu und hob sie hoch. Er streichelte ihre Wangen und stammelte: „Nein, das kann nicht sein. Nein, nicht so.“
Im Dorf fand er keinen Überlebenden. Fürst Ottokar lag von Pfeilen durchbohrt am Eingang seines Hauses. Zwei Pfeile steckten mitten im Gesicht. Gefühllos nahm Attarin wahr, dass Blut an seinem Schwert klebte. Der Fürst hatte wohl als Einziger versucht zu kämpfen. All die anderen Toten waren nicht gerüstet. Einige hatten im Nachtgewand mit Schild dem tödlichen Pfeilhagel entgegengestanden, andere waren beim Versuch davonzulaufen, von hinten erschossen worden. Attarin bemerkte erst jetzt den Geruch von verbranntem Fleisch. Viele hatten es nicht einmal aus den Häusern geschafft.
Wie taub ging er zum Friedhof und grub mit bloßen Händen ein Grab für Hildchen. Dann machte er sich auf zum heiligen Hain.
„Warum?“, schrie er Wotan den Weltenherrscher an. „Wofür bestrafst du uns?“
Die großen Eichen antworteten ihm mit Schweigen, als trauerten sie selbst.
„Warum hast du uns nicht gewarnt? Warum gab es keine Zeichen? Wir hätten gekämpft.“ Attarin drehte sich im Kreis, sah von einer Eiche zur anderen.
„Sprich zu mir! Ich bin der Letzte.
Wotan?
Wotan!“
Er legte alle Kraft in seine Stimme:
„Wotan, ich rufe dich.
Antworte mir!“
Attarin zog seinen Dolch und drohte den Bäumen.
„Antworte mir. Warum hast du das nicht verhindert?“
Den heiligen Hain zu verletzen war ein Frevel, der die sofortige Strafe des Allwissenden nach sich zog.
„Warum soll ich leben und sie tot sein?“
Er suchte nach einem Zeichen.
„Tut doch irgendetwas, oder habt ihr keine Macht mehr?“
Noch einmal schrie er gequält auf. Dann rammte er den Dolch in die Eiche. Er zitterte, erwartete einen Blitz, doch es blieb still um ihn. Er hieb wieder und wieder in die bemooste Rinde und verunstaltete auch den nächsten Baum. Als er sie alle aufgeritzt hatte, verrichtete er in der Mitte seine Notdurft.
Mit erstickter Stimme sprach er.
„Ihr seid ohne Macht. Ihr seid keine Götter mehr. Gewöhnliche Sterbliche seid ihr geworden. Und ich werde eure Namen niemals wieder aussprechen.“
Als er weinend aus dem Hain ging, schwor er noch zwei weitere Dinge.
Erstens wollte er sich nie wieder betrinken und zweitens würde er so viele Hunnen töten, wie er konnte.


Noch ein Jahr

Das Lagertor stand offen. Die jungen Rekruten warteten in langen Reihen vor den Einschreibern. Überall marschierten schwer gepanzerte Trupps und immer wieder wurden Befehle gebrüllt, doch das sonst so geordnete Lager, mit den schnurgeraden Straßen und den streng rechteckigen Baracken war an diesem Tag in ein heilloses Chaos verwandelt. Aufgeregte Zivilisten strömten in vier Reihen zu den Einschreibern. Dazwischen versuchten Soldaten hektisch die aufgenommenen Rekruten zu ihren Baracken zu führen. Daneben trafen Reiter mit staubüberzogenen Mänteln ein und mehrere schwere Ochsenkarren warteten vor dem Tor, durch das es wegen der vielen Wartenden kein Durchkommen gab.
Die meisten Soldaten trugen einen blauen Schild mit silbernen Streifen. Das waren die Rispenses, die Verteidiger von Colonia.
Immer wieder sah er dazwischen Lanzenreiter mit einem schwarzen Drachen auf gelbem Grund. Er kannte diese Truppen nicht. Sie ritten auf schweren Pferden und machten auf Attarin den Eindruck, um vieles gefährlicher zu sein als die Colonier Rispenses.
„Das sind Palatini“, raunte ihm sein Hintermann zu, ein schwarzhaariger Colonier, dessen Latein sich durch einen weichen Akzent auszeichnete.
„Sie unterstehen Aetius. Dem Heermeister des Imperators.“
„Werben die auch Rekruten an?“
Der Colonier lachte. „Nein. Unsereins nehmen die nicht. Die nehmen höchstens erfahrene Soldaten. Oder deren Söhne. Unsereins kann froh sein, wenn wir in Colonia Dienst schieben dürfen. Scheint mir auch angenehmer zu sein. Besser gut genährt hinter einer hohen Mauer, als im Pfeilhagel gegen die Hunnen.“
Ganz vorne, am Tisch des Schreibers erklang lautes Geschrei. Die Rekrutierung war viel schneller vorbei als üblich. Attarin brachte vor Schreck kein Wort heraus. Er hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass sie ihn nicht aufnähmen. Immerhin war er einer der Größten. Vor ihm dachten einige Germanen ähnlich und es kam zu einer chaotischen Rauferei. Befehle wurden gebrüllt und noch mehr Soldaten eilten herbei. Die ovalen Schilde hochgehoben und den Speer eingelegt marschierten sie im Gleichschritt los. Schnell wurden die Raufbolde zurückgedrängt. Attarin versuchte stehen zu bleiben, doch die Masse der Flüchtenden riss ihn mit sich vor das Lagertor.
Wütend biss er die Zähne zusammen und wartete. Einige andere Germanen taten es ihm gleich, doch so sehr sie auch riefen, das Tor wurde geschlossen und die Wächter beschimpften sie nur. Attarin tat, als ginge er zurück in die Stadt. Außer Sichtweite der Torwächter machte er einen weiten Bogen, um ans Tor auf der gegenüberliegenden Seite zu kommen. Er lächelte, als er sah, dass niemand sonst auf die Idee gekommen war.
„Ich will zu einem Centurio“, erklärte er den beiden Wachen am Eingang.
Einer war ein Germane, mit blonden Zöpfen, die unter seinem Helm hervorstanden. Ein Friese, vermutete Attarin.
„Die Musterung ist vorbei. Komm nächstes Jahr wieder. Bist nicht der Einzige, der glaubt, schlauer zu sein, als die anderen.“
„Ich mach dir einen Vorschlag“, sprach er den Friesen an. „Wir ringen. Wenn ich dich besiege, darf ich hinein.“
Die beiden lachten höhnisch.
„Ich mach dir einen besseren Vorschlag. Ich steche dich mit dem Schwert nieder und dann darfst du tot sein.“ Der Friese fand seinen Witz so komisch, dass er sich vor Lachen bog.
Attarin starrte sie finster an. Dann wartete er eben, bis sie abgelöst würden.
“Was glotzt du so blöd? Scher dich fort.“ Der kleinere der beiden rempelte ihn an. Attarin trat einen Schritt zurück, zog den Soldaten mit sich und warf ihn zu Boden. Der fasste nach seinem Schwert, doch bevor er es schwingen konnte, schlug ihm Attarin zweimal ins Gesicht. Dann musste er sich zurück ziehen, denn der Friese war herangekommen und hieb mit dem Schwert nach ihm.
Die Drei umkreisten sich, Attarin wich langsam zurück, doch der Kleine wollte unbedingt die Faustschläge rächen. Er stürmte vor. Attarin wich zur Seite aus und ließ ihn erneut stolpern. Der Friese schlug nach seinem Kopf, doch Attarin duckte sich im letzten Moment und drosch mit einem Fuß gegen dessen Unterleib. Leider fing der Panzer den größten Teil der Wucht ab. Attarin rannte los. Die schwer gerüsteten Soldaten konnten ihn ohnehin nicht einholen.
Als er nach einigen Metern aufblickte, kam ein einzelner Reiter mit angelegtem Speer auf ihn zu. Auf seinem Schild prangte der schwarze Drache. Attarin rannte sofort von der gepflasterten Straße. Leider war der Wald noch einige hundert Schritte entfernt. Attarin beschleunigte. Er raste über ein abgeerntetes Weizenfeld. Das Getrampel des Pferdes hinter ihm war deutlich zu hören. Anstatt ihn von hinten anzugreifen, ritt der Reiter an ihm vorbei und stoppte direkt vor ihm.
„Bleib stehen. Warum rennst du davon?“ Die schwere Spitze des Speeres zeigte auf Attarin
Attarin blieb stehen. Er konnte nicht mehr an ihm vorbei.
„Seid ihr ein Palatini?“, fragte er keuchend.
„Ein Scholae Palatinae“, korrigierte ihn der Reiter hochmütig. Unter einem weiten roten Mantel konnte Attarin Teile eines schweren Plattenpanzers erkennen. Der Reiter beugte sich vor. Sein Gesicht war breit und kantig.
„Warum bist du vor den Soldaten davongerannt?“
„Verzeihung. Ich wollte um die Aufnahme in die Armee des Imperators bitten. Mein größter Wunsch ist es, gegen seine Feinde, die Hunnen, zu kämpfen, und so viele zu töten wie nur möglich. Doch die Wachen machten sich einen Spaß daraus, mich zu verhöhnen. Als sie mich dann noch angriffen, verteidigte ich mich nur.“
„Die Rispenses der Colonia? Ich werde dir etwas erklären, damit du deine Torheit begreifst: Dass ist die Armee des Präfekten von Germania inferior. Sie werden niemals ausziehen, um in einem Krieg gegen die Hunnen zu kämpfen. Viel eher halten sie Diebe und Räuber davon ab, Unruhe in der Colonia zu stiften. Ganz abgesehen davon, dass es die Hunnen niemals wagen werden, das Weströmische Reich anzugreifen. Wenn du trotzdem zur Armee unseres glorreichen Imperators Valentinian des Dritten willst, musst du nach Lugdunum.“
„Lugdunum? Verzeihung. Ich kenne die Stadt nicht.“ Der Reiter ließ sein Ross zu Attarin vorschreiten. Attarin musste den Kopf heben, um in sein Gesicht zu sehen.
„Ich wäre euch sehr dankbar, wenn ihr mir den Weg dorthin beschreiben würdet. Meine Familie wurde von den Hunnen ermordet. Und ich verspreche, dem Imperator bis in den Tod zu dienen.“
Der Reiter sah ihn lange an. Attarin erwiderte fest seinen Blick.
„Du sollst eine Chance bekommen. Aetius stellt in der siebten Legion einige zusätzliche Kohorten mit Bogenschützen auf. Sagittarii. Sie werden mit skythischen Kompositbögen ausgestattet. Die einzigen Bögen, die besser sind, als die der Hunnen. Komme morgen zu Mittag hierher. Ich werde dir eine Reisegelegenheit verschaffen.“
„Ihr seid sehr gut zu mir. Wie lautet euer Name?“
„Ich bin Rinold. Mein Vater war Vandale, doch ich bin ein Untertan des Imperators.“
Der Reiter trieb sein Pferd wieder an.
„Ich stehe in eurer Schuld, Rinold. Wenn es etwas gibt, das ich für euch tun kann, dann sagt es“, schrie ihm Attarin nach.
Rinold zügelte sein Pferd und starrte Attarin an.
„In Lugdunum steht eine Kirche Jesu Christi des Erlösers. Geh dort hin und bete für deine Familie.“

Noch zwei Tage

Attarin hörte das Geschrei des Centurios schon von weitem. Die Sonne stand tief im Westen und Attarin konnte seine Füße kaum noch heben.
Aurelian verstummte, als Attarin sich ans Ende der Reihe stellte. Alle starrten auf ihn. Attarin schwitzte fürchterlich in seinem Kettenhemd und dem Eisenhelm, den er sich noch vor dem Lagereingang auf den Kopf gestülpt hatte. Der Riemen hing offen herunter. Noch nie hatte er sich eines derartigen Vergehens schuldig gemacht.
Ängstlich sah er den breit gebauten Centurio an. Aurelian atmete hörbar ein und aus.
Er schloss kurz die Augen, dann begann er mit leiser Stimme.
„Immerhin bist du nicht desertiert. Dass kann man dir zugute halten.“ Er stellte sich direkt vor Attarin, der seinen Atem zu beruhigen versuchte. Sorgfältig musterte er ihn, zupfte schließlich einige Grasbüschel aus dem Kettenhemd und ließ ihn durch ein Zeichen mit der Hand einmal um die eigene Achse drehen. Attarin überlegte, zu welchem Spaß das jetzt der Auftakt sein sollte. Die anderen Bogenschützen der zweiten Centurie der zweiten Kohorte Scorpio sahen schweigend zu. Attarin bemerkte, dass einige fehlten.
„Ich werde dir erzählen, was geschehen ist, während du weg warst. Du musst mir nicht erzählen, was du in der Zwischenzeit gemacht hast. Ich weiß genug“, begann der Centurio und wurde dabei allmählich lauter.
„Attila hat Civitas und Caesaromagus zerstört. Nun steht er vor Aurelanium. Wir werden ihm entgegeneilen, und möge Gott die Stadt so lange durchhalten lassen, so werden wir sie befreien und die Hunnen und ihre kriecherischen Verbündeten zurück in den Tartarus jagen.“ Aurelian lächelte, was bei ihm allerdings nichts Gutes hieß.
„Du bist während dieser Zeit mit einem Mädchen in der Wiese gelegen und hast es ihr ordentlich gegeben. Deswegen stehst du jetzt auch nur mehr schlapp da.“ Einige der anderen Soldaten grinsten, wurden jedoch schnell wieder ernst.
Attarin richtete sich auf.
„Es tut mir wirklich leid, Centurio. Es wird nicht wieder vorkommen.“
Aurelian ließ nicht erkennen, ob er seine Antwort gehört hatte. Stattdessen fragte er:
„Wie war ihr Name?“
„Julia.“
„Ein römischer Name. Woher kommt sie?“
„Aus Colonia. Sie ist eine der Flüchtlinge, welche die Stadt vor den Hunnen verlassen haben.“
„Das war klug von ihr. Stammte sie aus einer angesehenen Familie?“
„Ihr Vater war Baumeister. Er und ihre beiden Brüder sind in der Stadt geblieben, um sie zu verteidigen.“
„Sie werden nicht mehr leben. Armes Mädchen. Ist sie hübsch?“
„Ja.“
„Liebst du sie?“
Attarin schluckte, wusste nicht, was er sagen sollte.
„Ich nehme an, ja. Du riskierst wegen ihr ausgepeitscht zu werden.“
„Ich habe sie gesehen und war wie verzaubert. Ich vergaß alles um mich.“
Aurelian grinste.
„Das ist gut. Dann wirst du sie ja hoffentlich beschützen wollen.“
Attarin nickte, ohne zu verstehen, was diese Befragung sollte.
Aurelian wandte sich wieder zu den anderen und schickte gleichzeitig Attarin zurück in die Reihe.
„Haltung!“
Alle Soldaten nahmen Haltung an.
„Wenn wir die Hunnen nicht aufhalten, werden sie Julia und eure Freundinnen zuerst vergewaltigen und dann langsam den Bauch aufschlitzen. Vielleicht nehmen sie eure Frauen auch mit und vergnügen sich mit ihnen in ihren dreckigen Zelten. Eure Mädchen werden schreien und um Gnade flehen. Julia wird versuchen sich umzubringen, bevor sie das auch nur ein einziges weiteres Mal aushält, doch es wird ihr nicht gelingen. Sie wird langsam innerlich verbluten. Armes Mädchen.“
Aurelian erschien blitzschnell vor Attarin.
„Denk daran, wenn die Hunnen auf dich zureiten. Nur du stehst zwischen ihnen und Julia.“
Er ging zwei Schritte zurück und sah seinen Männern nacheinander in die Augen:
„Weicht nicht zurück. Seht ihnen ins Auge, zielt sorgfältig. Eure Bögen sind besser als die ihren.“ Er sah seine Soldaten einige Zeit lang an. Dann brüllte er:
„Bereitmachen zum Abmarsch. Wir werden diese Nacht durchmarschieren und den ganzen morgigen Tag. Der Heermeister des Imperators, Aetius wird Attila vernichten. Und ihr werdet dabei sein. Ein dreifaches Hoch auf Imperator Valentinian den Dritten und Aetius seinen Heermeister.“
Attarin stürmte zu Baldus, dem dicklichen Anführer ihres Kontuberniums. Sie umarmten sich überschwänglich.
„Törichter Brukterer. Du hast sie gekriegt. Und ich dachte schon, du wärst getürmt.“
Attarin hielt seiner kräftigen Umarmung stand. Dann versuchte er seinerseits den beleibten Baldus zu erdrücken.
„Ja, sie wird auf mich warten. Gott sei Dank habe ich ihr gesagt, dass wir jederzeit abrücken könnten. Wenn wir wieder zurück sind, wird sie meine Frau. Ihre Familie ist reich. Wenn Colonia wieder aufgebaut wird, werde ich dorthin gehen. Stell dir das vor! Ich, ein Bürger von Colonia.“
„Nur mal langsam. Musst ja nicht die erste Frau nehmen, die für dich die Beine breit macht.“
„Sie ist nicht die Erste. Sie ist die Beste.“ Attarin stopfte hastig seine Sachen in den Marschrucksack.
Aurelian brüllte:
„Schneller Männer! Den Letzten peitsch ich eigenhändig aus!“
Wütend zeigte er auf Marcus. „Aus deinem Kontubernium fehlen zwei Leute. Dafür stehst du in der ersten Reihe.“
Dann stapfte er auf Attarin zu.
„Und du wirst neben ihm stehen. Du wolltest ja immer gegen die Hunnen kämpfen.
Und du Baldus: Geh zu den Flüchtlingen. Finde ein paar Jungen, am besten Waisenknaben, oder welche, die Verwandte verloren haben. Wir brauchen Pfeilsammler. Mindestens ein Dutzend. Es könnte mehr Hunnen geben, als wir Pfeile haben.“
Baldus sah Attarin ernst an.
„Viel Glück“, sagte Attarin, umarmte ihn und flüsterte: „Suche Julia und sage ihr, dass ich losziehe. Sie soll hier auf mich warten. Ich komme zurück.“
Baldus nickte und eilte mit zwei weiteren Sagittarii in Richtung des Flüchtlingstrecks.


Noch ein Tag

Graue Wolkenfetzen zogen schnell über sie hinweg und immer wieder begann es zu nieseln. Das Signum der Kohorte, ein schwarzer Skorpion auf rotem Tuch mit einer römischen Zwei daneben, hing traurig herab. Die Reiter waren alle längst vorausgeritten.
Die Menge der Soldaten war unüberschaubar. Wie ein riesiger, stacheliger Wurm schoben sie sich auf Aurelianium zu.
Am Wegesrand lagen die ersten Toten. Allesamt nackt und ausgeplündert. Waren es Bürger aus der Stadt gewesen oder römische Soldaten? Attarin konnte sie nicht unterscheiden. Nur ganz selten sah er einen hunnischen Kopf.
Ein Reiter mit dem purpurnen Signum des Imperators preschte heran. Er mahnte alle schneller zu marschieren. Die Nachhut der Hunnen war in der Nähe der Stadt gestellt und in Kämpfe verwickelt worden. Aetius wollte die Lage ausnutzen und so viele wie möglich töten, bevor sie sich geordnet zurückzogen. Der Reiter gab seinem Pferd die Sporen und ritt wieder vorwärts. Aus dem Nieseln wurde ein stetiges Tröpfeln.
„Lasst die Bögen nicht nass werden“, herrschte Aurelian die Sagittarii an.
Attarin hatte seinen Bogen sorgfältig in wasserdichtes Leder eingebunden, doch einige der anderen Soldaten hielten dies für Zeitverschwendung. Jeder musste vortreten und Aurelian seinen verpackten Bogen zeigen.
„Du kannst deine Pfeile selber werfen, wenn er nass wird. Ihr holt die Bögen erst raus, wenn ich es sage. Ist das klar?“
Vor den rauchenden Trümmern der zerstörten Stadt blieb die ganze Legion stehen.
Während die Soldaten gierig ihre Rationen verschlangen, eilte Aurelian zum Legaten der siebten Legion, um weitere Befehle zu empfangen.
Baldus nickte neben ihm ein, doch Attarin war nicht müde.
Gemeinsam mit Septimus, einem drahtigen, dunkelhaarigen Mann, ging er zur zerstörten Stadtmauer. Eine schwarze Rußschicht bedeckte Gras und Steine. Mehrere schwere Belagerungstürme waren von den Angreifern zurückgelassen worden.
Zwei Alanen traten aus dem Schatten des Nächsten zu ihnen. Ihre Pferde lahmten und sie sahen müde aus.
„Feroxan“, stellte sich der Ältere vor. Er deutete auf seinen Kameraden: „Saroban.“ Ihre Gesichter waren schmal und ihre Körper klein, doch muskulös. Das dunkelblonde Haar trugen sie zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden.
„Die Hunnen bringen den Tod. Wie schön war diese Stadt. Noch vor zwei Jahren haben wir mit ihren Bewohnern süßen Wein getrunken. Nun ist alles vernichtet.“
„Roms Armee wird Attilas Armeen zertreten.“ Septimus deutete auf seine Kameraden.
„Unsere Bögen sind besser als die der Hunnen.“
„Macht nicht den gleichen Fehler wie wir Alanen“, sagte Feroxan.
„Zur Zeit unserer Großväter beherrschten wir die weiten Ebenen im Osten. Wir dachten, niemand könne uns besiegen. Doch die Hunnen strömten heran wie ein tosender Gebirgsbach nach dem Gewitter. Sie töteten unsere Könige, nahmen viele Sklaven und vertrieben den Rest. Seit Generationen sind wir auf der Flucht, genauso wie unsere ehemaligen Nachbarn, die Goten.
Sangiban ist unser neuer König, doch wir sind verstreut wie die Federn im Wind. Nur noch wenige Tausende Krieger folgen ihm. Und das Schrecklichste ist: Attila raubte nicht nur Gold und Vorräte. Er raubte viele von uns Alanen. Wie auch die Goten, sind wir gezwungen gegen unsere Brüder zu kämpfen.“
„Seid unbesorgt“, sagte Septimus selbstsicher. „Aetius ist ein fähiger Feldherr. Er wird Attila vernichten. Niemand fordert ungestraft das römische Imperium heraus.“
Feroxan schüttelte entschieden den Kopf.
„Das römische Imperium ist kraftlos. Attila erhält jedes Jahr Tribut von eurem Imperator. Und Aetius benötigte die Hilfe hunnischer Truppen, um das Reich der Burgunder zu vernichten.“
Darauf wusste keiner etwas zu erwidern.
„Habt ihr gegen Hunnen gekämpft?“, fragte Attarin nach einigen Augenblicken unangenehmen Schweigens.
„Sie sind schnell wie der Wind. Reiten heran, schießen dir einen Pfeil zwischen die Augen und weg sind sie. Schießt eure Pfeile ab, bevor sie auf dreißig Schritte heran sind. Sonst durchschlagen ihre Pfeile eure Kettenhemden. Die Hunnen tragen keine Panzer. Das ist ihre einzige Schwäche. Aber zielt gut. Sie sind zäh und hören erst auf zu kämpfen, wenn sie tot sind.“
Attarin betrachtete sein arg zerschlissenes Kettenhemd. Im Brust- und Bauchbereich waren einige Einschusslöcher nur sehr notdürftig geflickt worden.
„Es ist zu kurz“, stellte Septimus fest. Die Alanen nickten.
„Sieh: “Septimus hob seinen Mantel hoch, sodass Attarin sehen konnte, das dessen Kettenhemd bis zu den Oberschenkeln reichte.“
„Schrott!“ Septimus spuckte aus. „Du musst dir während der Schlacht ein besseres besorgen. Nachher hat der Centurio seine Hand drauf.“
Eine Tuba blies zum Aufbruch. Hastig verabschiedeten sie sich von den Alanen, welche ihnen traurig nachsahen.
Auf Attarins großen Zehen hatten sich Blasen gebildet. Er biss die Zähne zusammen und marschierte weiter. Als die Dämmerung hereinbrach, wurden Fackeln angezündet, auf denen immer wieder Wassertropfen aufzischten. Die Fackelträger hatten alle Mühe die Flammen im Nieselregen vor dem Verlöschen zu bewahren. In ihrem Licht erkannte Attarin weitere Tote am Wegesrand. Fast allesamt Goten und Gepiden, zu unterscheiden nur durch ihre Haartracht. Die Gepiden ungekämmt und die Goten mit kunstvoll geflochtenen Zöpfen. Eugenius und Volusian, die Pfeiljungen ihres Kontuberniums wurden immer stiller. Attarin starrte auf einen zerschlagenen Schädel, aus dem die Hirnmasse ausgelaufen war wie Haferbrei. Ab und zu stöhnte am Wegesrand jemand auf, doch niemand schenkte den Sterbenden Beachtung.
„Ich hab was gehört, du auch?“, rief Volusian. Der dunkelhaarige Junge rannte im Gegensatz zu Eugenius immer wieder zu den Toten und hatte mittlerweile schon zwei Messer und zwei Pfeile erbeutet.
Attarin lauschte angestrengt, doch durch seinen Metallhelm vermochte er nichts zu hören. Im Osten machte sich jetzt die Morgendämmerung bemerkbar. Der Nieselregen hatte wieder aufgehört. Von den Bäumen fielen dicke Wassertropfen auf die Marschkolonne. Die ersten Karren, beladen mit Verwundeten und Toten, zogen ihnen entgegen und brachten die Marschordnung durcheinander. Die Karren wurden von alten, humpelnden Männern gezogen, die sie ausdruckslos anstarrten, wohl nur mit dem Gedanken beschäftigt, wie viel Arbeit ihnen durch diese Soldaten zusätzlich auferlegt würde.

Sie sahen direkt in die aufgehende Sonne, als sie an den Rand der Katalaunischen Felder gelangten. Der Großteil des römischen Heeres hatte in der Nacht bereits das Lager aufgeschlagen. Links vor einer Reihe großer Zelte, befand sich die römische Infanterie. Hinter ihnen zeugte ein Pferch mit vielen stattlichen Pferden von einer großen Anzahl Palatini. In der Mitte der Front, direkt vor ihnen, lagerten die Alanen unter Sangiban und rechts die große Streitmacht der Westgoten unter Theoderich. Ein leichter Wind bewegte Theoderichs blaues Banner mit dem goldenen Löwen. Attarin bemerkte auf der anderen Seite über dem größten Zelt das Banner von Valentinian dem Dritten.
Septimus zeigte auf die purpurrote Fahne mit dem Bildnis des Imperators. Auf halber Höhe daneben wirkten die Fahnen der einzelnen Legionen demütig.
„Dort sitzt Aetius. Der Heermeister regiert in Wirklichkeit das Reich. Vor vierzehn Jahren hat er sich noch mit Attila gegen die Burgunder verbündet. Theoderich weiß, dass es ihm in einigen Jahren wieder ganz anders ergehen kann. Er traut Aetius nicht über den Weg. Und Aetius weiß, das Theoderich lieber Rom angreifen und plündern würde, als hier die Hunnen abzuwehren. Er hofft noch immer, dass die Ostgoten zu ihm überlaufen, und gerade weil sie lieber unter Attila dienen als unter ihm, hasst er sie und will sie vernichten.“
Ein Kundschafter mit dem römischen Adler auf seinem Signum kam heran geritten und forderte Aurelian auf mitzukommen.
Aurelian übergab hastig seinem Fähnrich Valerian das Kommando. Der ging an den Rand der Zeltstadt, rammte das Feldzeichen in den Boden und ließ die zweite Centurie rasten. Attarin blickte sich um. Zu seiner Rechten, Richtung Süden, wurden die Katalaunischen Felder durch lichte Wälder begrenzt, die sich auf einige sanfte Hügel hinaufzogen. Gegen Norden, dort wo die römischen Truppen standen, fiel das Gelände ab. Am Ende lag ein Fluss, vor dem sich jedoch ein einziger breiter Hügel erhob, auf dessen Gipfel ein Banner stand, dessen Muster er nicht erkennen konnte. Vor ihnen war Gras und Getreide von den zurückziehenden Hunnen und ihren Verbündeten niedergetrampelt worden. Am anderen Ende der Felder, kaum zu erkennen auf einem sanften Hügel, stand Attilas Wagenburg. Einige der erfahrenen Soldaten setzten sich hin und manche begannen sogar zu schlafen, während die jüngeren wie Attarin aufgeregt nach allen Seiten sahen und sich die Feldzeichen der Verbündeten einzuprägen versuchten. Außer den Westgoten gab es noch eine stattliche Zahl von Alanen, Franken und Burgunder im römischen Heer.

451 – Tag der Entscheidung

Attarin schreckte hoch. Die Strapazen des Nachtmarschs hatte sich schnell bemerkbar gemacht, und er war trotz der bevorstehenden Schlacht eingeschlafen. Ringsum tönten Hörner und Reiter jagten die Frontlinie entlang. Viele Soldaten waren, so wie Attarin, in ihren Rüstungen eingeschlafen und schreckten hoch. Die Sonne hatte den Zenit schon überschritten und wurde jetzt wieder durch dunkle Wolken verdeckt, die von Westen her bedrohlich schnell heranzogen. Der Lagerplatz in einer Senke hatte den Wind abgehalten, doch jetzt, da Aurelian sie auf die kleine Kuppe führte, konnte Attarin seine auffrischende Kraft spüren. Er kam von Westen, blies also gegen die Hunnen. Attarin und viele seiner Kameraden bekreuzigten sich, als die Hunnen und ihre Verbündeten heranstürmten. Es schienen unendlich viele zu sein, die wie eine Flutwelle rasend schnell über die Hügel kamen. Der Pfeiljunge neben Attarin zog sich beim ersten Anblick zurück. Attarin lächelte, als er erkannte, dass die Attacke direkt auf sie geritten wurde. Er strich sanft über seinen Bogen und sah zu Aurelian. Ohne Befehl durfte nicht geschossen werden.
„Zweite Centurie: Vorrücken!“, brüllte Aurelian. Die Fußsoldaten, mit ihren langen Speeren und den großen ovalen Schilden bildeten Gassen, durch die Attarin und seine Kameraden durchschlüpften. Alle Speere zeigten jetzt auf die anstürmenden Hunnen. Die ganze Ebene schien schwarz vor ihnen zu sein.
“Auf mein Kommando schießt ihr drei Pfeile ab und dann zurück hinter die Reihen. Schießt schnell und zieht euch gleichzeitig zurück. Wer von euch den ersten Hunnen zur Hölle schickt, bekommt einen Solidus.“
Attarin war froh, dass Aurelians Brüllen mühelos alles Andere übertönte.
Er trat fünf Schritte vor die Schlachtreihe, legte einen Pfeil ein und sah auf die Schlachtlinie der Angreifer. Genauso wie die Römer und ihre westgotischen Verbündeten, bestand auch die Front der Angreifer aus zwei großen Blöcken.
Während die Hunnen auf deren linker Seite ritten, übernahmen die Ostgoten unter ihrem Anführer Alamir die rechte Flanke. Ihre vorderste Linie bestand aus schwer gepanzerten Reitern. Attarin hatte diese Panzerreiter auch schon aufseiten der Römer gesehen und kannte die Wucht dieses Angriffes.
Die Sagittarii spannten die Bögen. Attarin wurde mit einmal ruhig. Er dachte an seine Familie und an seinen Racheschwur. Während die Römer den Angriff stumm erwarteten, ritten die ebenfalls gut gepanzerten Westgoten den Ostgoten entgegen. Die Alanen in der Mitte folgten ihnen zögernd.
Attarin sah auf die Welle der Hunnen vor sich. Kleidung und Gesicht war schwarz. Manche ritten freihändig, den Bogen mit eingelegtem Pfeil auf sie gerichtet. Die Füße in Steigbügeln, die seitlich an den Sätteln angebracht waren. Neben sich sah er einige Kameraden zittern, sodass sie ihre Bögen kaum spannen konnten.
„Salve!“, brüllte Aurelian. Attarin sah seinem Pfeil nicht nach, legte den nächsten ein, verringerte den Winkel etwas, sah wieder dem Pfeil nicht nach, legte den dritten Pfeil ein und jetzt zielte er. Die Hunnen schossen zurück, doch im Umdrehen sah Attarin mit Genugtuung, dass sein dritter Pfeil einen von ihnen vom Pferd geholt hatte. Er sprang zurück hinter die Reihe der Fußkämpfer, welche mit ihren Schilden sofort einen Wall bildeten, auf den jetzt die Pfeile der Hunnen niederprasselten.
„Schneller, schießt, was ihr könnt“, brüllte Aurelian. „Und bevor sie euch überrennen, schießt auf die Pferde.“ Hinter ihnen schossen jetzt die Sagittarii der ersten Kohorte ebenfalls Salve um Salve auf die Angreifer. Die Luft war erfüllt vom Sirren der vielen Pfeile. Die ersten Pfeile der Hunnen schlugen zwischen den Sagittarii ein. Direkt neben Attarin fiel Marcus mit einem Pfeil im Hals zu Boden und wälzte sich röchelnd hin und her. Der Pfeil hatte seine Kehle durchschlagen und ragte aus seinem Nacken wieder heraus.
„Macht die Pilli bereit!“, schrie neben Aurelian Valens der Centurio der Fußtruppen.
Da Attarin direkt hinter den fünf Reihen Fußtruppen stand, konnte er sehr gut zielen. Die Hunnen brüllten, doch in ihr Kampfgeschrei mischte sich Wut und Schmerz, denn die Pfeilsalven der Sagittarii streckten ihre gesamte erste Reihe nieder. Attarin zielte sorgfältig und während er den nächsten Pfeil einlegte, konnte er erkennen, dass er den zweiten Hunnen direkt vom Pferd geschossen hatte.
„Werft die Pilli!“
Die leichten Speere durchbohrten Pferde und Hunnen gleichermaßen. Mehrere Pferde stürzten, andere dahinter mussten ausweichen und dort, wo ein schneller Reiter direkt durchzubrechen drohte, wurden er und sein Pferd von mehreren Pfeilen durchbohrt.
„Schießt, so schnell ihr könnt!“
Ein Hunne, in dessen Bein bereits ein Pfeil steckte, versuchte durch die Reihen zu brechen. Attarin schoss ihn im letzten Moment vom Pferd. Das Pferd brach durch die Linie der Fußkämpfer. Das arme Tier hatte einen Pfeil in der Flanke und Schaum floss aus seinem Maul. Die Fußsoldaten sprangen rasch beiseite und schlossen hinter ihm diszipliniert die Reihe.
Die Hunnen, die auf Grund der vielen gestürzten Pferde vor ihnen nicht weiter reiten konnten, schossen jetzt mehrere Pfeilsalven auf die Römer. Neben Attarin fielen weitere Sagittarii getroffen zu Boden. Attarin schoss einen weiteren Reiter vom Pferd, der versuchte über ein sich wiehernd am Boden wälzendes Pferd zu setzen. Schon war der Angriff der Hunnen völlig zusammengebrochen und die zurückflutende erste Welle wurde von der nächsten Angriffswelle abgelöst, als rechts von Attarin ein derartiges Geheul ausbrach, dass der junge Brukterer nicht anders konnte als zur Mitte des Schlachtfeldes zu blicken. Dort flohen die Alanen und hinter ihnen waren Hunderte Hunnen durch die römische Front gebrochen.
„Verdammte Feiglinge“, fluchte Baldus hinter ihm und sandte einen weiteren Pfeil in Richtung der Hunnen.
„Schützt die Flanken,“ rief ein Reiter mit dem purpurnen Signum und deutete Aurelian, ihm zu folgen.
„Zweite Kohorte: im Laufschritt! Alles mir nach!“ Aurelian rannte, wie Attarin ihn noch nie gesehen hatte. Die Knie hoch erhoben, immer wieder ins Rutschen kommend, hätte es zu einer anderen Gelegenheit komisch ausgesehen, doch selbst Valerian mit dem Signum der Kohorte konnte kaum Schritt halten.
Claudius und Constantin, die beiden anderen Centurionen folgten ihm nur zögernd mit ihren Truppen, denn eigentlich war der Tribun Albinus ihr Befehlshaber. Der war nirgends zu sehen. Als der Reiter mit dem purpurnen Signum noch einmal ins Signalhorn stieß, folgten sie nach. Die zweite Welle der Hunnen ließ einen Pfeilhagel auf die Linie der Römer nieder. Weitere Sagittarii wurden getroffen und blieben liegen. Aurelian ließ seine Leute brüllend weiter zurückgehen, während der Bote sein Pferd wendete und wieder zurück zu Aetius ritt. Ein Trupp fränkischer Kavallerie überholte sie und jagte ebenfalls zur Lücke, wo die Hunnen die Verfolgung der Alanen abgebrochen hatten und sich zum Angriff auf die Flanken der Westgoten sammelten.
Im hastigen Laufen konnte Attarin kurz die Schlachtordnung überblicken. Während hinter ihm die Römer und ihre Verbündeten den Angriff der Hunnen zum Stehen gebracht hatten, waren die Westgoten mit Theoderich praktisch umzingelt. Die Hunnen drängten von der Seite auf sie und von vorne waren die Linien durch die ostgotische Kavallerie eingedrückt. Attarin drehte sich noch einmal um. Das unbekannte Banner am Hügel stand bereits ein Stück weiter vorne. Offensichtlich wollte der dortige Befehlshaber durch einen Entlastungsangriff die Hunnen dazu zwingen, ihre Reiter von den Westgoten abzuziehen. Sollte es den Hunnen gelingen, die Westgoten einzukreisen, so war die Schlacht wohl verloren. Fünf schwer gepanzerte Franken jagten an ihnen vorbei und hielten auf einige Hunnen zu, die nach dem Durchbruch umgedreht hatten und den Tross des Heeres bedrohten. Zwei der Pferde wurden durch Pfeilsalven der Hunnen niedergestreckt. Ihre Reiter blieben nach dem Sturz regungslos liegen. Die anderen drei, deren Pferde besser gepanzert schienen, holten sie mit Lassos von den Pferden und schleiften sie hinter sich her. Die Hunnen schienen mit ihren Pferden verschmolzen. Die fränkischen Reiter wirkten dagegen fast tollpatschig. Attarin bemerkte genau, wie die Steigbügel den Hunnen bei ihren Manövern halfen. Er hob den Bogen, um einen von ihnen vom Pferd zu schießen, doch ließ es dann sein. Er besaß noch fünf Pfeile und die Chance, den Hunnen auf 250 Schritt Entfernung zu treffen, war viel zu gering.
Auf der römischen Seite der durchbrochenen Front war ein Haufen Hunnen mit den Fußsoldaten in einen erbarmungslosen Nahkampf verstrickt. Dort konnten die Bogenschützen nur wenig bewirken. Doch hinter ihnen strömten weitere Reiter durch die Lücke.
„Ihr müsst sie stoppen. Vorrücken und dabei feuern!“
Die Sagittarii hatten keine Zeit, sich in Formation aufzustellen, doch ihre Lage war sehr günstig. Die Hunnen hatten nur Augen für die Westgoten, die langsam zurückwichen. Die erste Salve der Sagittarii forderte einen hohen Zoll unter den völlig überraschten Hunnen. Ein hunnischer Anführer mit roten Bändern im Haar löste sich vom Gemetzel mit den Fußsoldaten und rief einige Reiter zu sich. Attarin ging noch zehn Schritte vor. Mittlerweile hatte er nur noch zwei Pfeile. Der erste Pfeil verfehlte den Anführer und bohrte sich weiter hinten in die aufgewühlte Erde. Der Anführer ließ sein Pferd hochsteigen und wollte es zum Angriff antreiben, als ihn Attarins Pfeil in die Brust traf. Das Pferd sprang vorwärts und galoppierte ohne seinen Reiter davon in Richtung Aurelianium. Attarin hastete zurück, während ihm weitere Salven der ankommenden zweiten und dritten Centurie das Leben retteten.
Ein Trupp von etwa hundert Hunnen löste sich von der Flanke der Westgoten und stürmte auf die Bogenschützen zu, die ungeschützt auf dem Feld standen.
Volusian brachte Attarin eine volle Pfeiltasche und nahm seine leere mit.
„Attarin muss immer Pfeile haben. Er kriegt sie als Erster“, brüllte Aurelian dem vorbeihastenden Jungen nach.
Die Hunnen schossen ihre Pfeile ab, während sie rasend schnell näher galoppierten. Der Boden war noch matschig und Schlammbrocken spritzten hinter den Pferden auf. Ihre erste Salve war schlecht gezielt und nur wenige Pfeile trafen. Dafür konnte Attarin drei Reiter aus dem Sattel schießen. Er war in Trance, stand in der ersten Reihe und jeder Pfeil traf. Trotz der dauernden Salven brachen einige Reiter durch. Unglaublich schnell wechselten sie vom Bogen zum Schwert und hieben im Vorbeireiten einige Sagittarii nieder. Attarin sah eine weitere Gruppe Hunnen von den Westgoten loslassen und in seine Richtung reitend. Bevor sie jedoch heran waren, brachen aus den Wäldern im Westen Hunderte schwer gepanzerte Reiter. Die Alanen waren auf das Schlachtfeld zurückgekehrt und machten die völlig überraschten Hunnen im Nahkampf nieder. Vom Zentrum der Front kam auch noch ein Trupp Palatini herangeritten. Ihr Anführer hielt die Fahne des Imperators. Sie ritten gegen die durchgebrochenen Hunnen an, die sich jetzt von allen Seiten bedroht sahen. Die schnellsten unter ihnen nahmen rechtzeitig Reißaus, nicht jedoch ohne sich im Davonreiten noch einmal umzudrehen und einige Pfeile auf ihre Verfolger abzuschießen.
Attarin schoss einen der letzten flüchtenden Hunnen vom Sattel.
„Bei Apollo. Ist der alte Gott wieder auferstanden und in dich gefahren?“, sagte Aurelian in normaler Lautstärke neben Attarin.
Im Zentrum der wankenden Front der Westgoten sah Attarin das Banner des Theoderichs vorwärts wandern. Theoderich selbst musste in den Kampf eingegriffen haben. Wo eben noch die Westgoten zur Flucht gewendet hatten, konnte Theoderich die Ostgoten nicht nur aufhalten, sondern sogar weiter zurücktreiben. Die ganze Front rückte Schritt für Schritt vor. Auch die Alanen versuchten wieder an ihren Platz in der Mitte der Front zu kommen. Für einen Augenblick sah es so aus, als würden die Hunnen wieder zurückgedrängt, doch dann bekamen sie Verstärkung von weiteren schwer gepanzerten Ostgoten, welche den Ansturm der Alanen aufhielten. Jetzt ging ein Aufschrei durch die Reihen der Westgoten. Das Zeichen Theoderichs fiel. Attarin blieb das Herz stehen.
„Mein Gott“, sagte Baldus neben ihm nur. Das Zeichen Theoderichs war nach einiger Zeit wieder zu sehen. Dreckverschmutzt und halb zerrissen. Die Westgoten wichen immer schneller zurück.
Das Brüllen der Westgoten wurde allmählich lauter. Veränderte sich von einem Durcheinander aus Wehklagen zu einem immer geordneteren Chor von wütenden Rufen. Jetzt kam der Rückzug der Westgoten zum Stillstand und Attarin verstand ihre Sprechchöre:
„The-o-derich! The-o-derich! The-o-derich.“
Der Himmel hatte sich völlig verdunkelt und es begann zu nieseln. Die Erde war ohnehin schon feucht gewesen und viele Hufe hatten das Feld in ein unwegsames Gelände verwandelt. Attarins Kohorte wechselte wieder zurück auf ihre alte Position. Oder zumindest in deren Nähe. Attarin bemerkte, dass sie beinahe vor Aetius Banner standen. Den Feldherren selbst vermochte er nicht zu sehen, aber dafür mehrere Fähnriche mit hoch erhobenen Signi.
Immer wieder brachen einzelne Hunnen durch und schossen blitzschnell ihre Pfeile in die Reihen der Sagittarii. Attarin wurde von einem Pfeil in der Seite erwischt, doch er drang kaum durch das Kettenhemd. Attarin verschwendete einige wertvolle Sekunden, im vergeblichen Versuch ihn herauszuziehen, und brach ihn dann ab. Neben ihm steckte ein Pfeil im Boden. Er zog ihn heraus und sandte ihn dem Reiter hinterher. Eugenius, der zweite Pfeiljunge, wurde in den Bauch getroffen. Zuerst brüllend und dann leise wimmernd lag er zwischen den Sagittarii, von denen jetzt kaum noch die Hälfte unverletzt war. Volusian lief zu seinem Freund und sprach leise mit ihm. Aurelian stapfte zu dem kreidenbleichen Eugenius, riss ihm den Pfeil heraus und drückte ihn Volusian in die Hand. Dann deutete er auf Attarin. Volusian starrte ihn entsetzt an.
„Bist du ein Mann oder ein Waschweib. Er soll den Pfeil zu seinem Absender zurückschicken. Wenn du hier flennst, wird er auch nicht wieder gesund.“
Volusian rannte mit einem halb vollen Köcher zu Attarin und tauschte ihn gegen den schon wieder leeren aus.
Attarin legte den blutigen Pfeil als Erster ein.
„Er wird Hunnenblut schmecken. Das verspreche ich dir.“
Attarin konnte im Kampfgetümmel kein Ziel finden. Er sah zu den Westgoten und bemerkte eine seltsame Szene. Ein einzelner Reiter brach durch die Reihen der Hunnen. Obwohl er und sein Pferd mehrmals getroffen wurden, hielt er nicht an, sondern preschte einfach durch die Feinde, als seien sie überhaupt nicht da. Ein Fähnrich mit dem Adler der römischen Armee sah dies und kam ihm mit einem Trupp Reiter entgegen. Die wenigen verfolgenden Hunnen drehten ab und widmeten sich wieder den eingekesselten Westgoten. Nicht weit hinter Attarin trafen sich die Reiter. Attarin konnte nicht anders, als sich umzudrehen und den Schwerverletzten anzustarren. Ein Wurfspeer hatte ihn durchbohrt und ragte aus seinem Rücken heraus. Weiters steckten dort deutlich erkennbar drei Pfeile. Der Reiter trug einen Metallhelm, aber keine Rüstung. Er war kräftig, doch seinem Gesicht sah man noch die Jugend an. Das Pferd blutete aus einer lang gezogenen Wunde an der Seite und ein weiterer Pfeil steckte in seiner Kruppe. Der edle Fuchs tänzelte hin und her. Schaum tropfte aus seinem Maul.
„Theoderich ist tot. Sagt König Thorismund, er möge zu Ende führen, was sein Vater begann“, verstand Attarin. Die nachfolgenden Sätze konnte Attarin nicht mehr verstehen. Der Fähnrich beugte sich vor, wohl um den Reiter zu stützen, doch dieser schüttelte den Kopf und streckte fordernd die Hand aus. Verwunderung machte sich im Gesicht des römischen Fähnrichs breit. Dann gab er dem schwer Verletzten zögernd einen leichten Speer, der an der Seite seines Pferdes hing. Der Reiter drehte um, gab seinem Pferd die Sporen und ritt wieder gegen die Hunnen. Erst kurz vor der Schlachtreihe wurde ein einzelner Hunne auf ihn aufmerksam. Er spannte seinen Bogen und schoss den Angreifer mit einem einzigen, wohlgezielten Schuss aus dem Sattel.
Die zweite Kohorte musste wieder ihre Position verlassen, denn die Hunnen hatten sich zurückgezogen und das römische Heer versuchte ihnen geordnet nachzustellen. Attarin marschierte vorbei an einem nicht enden wollenden Strom von Verwundeten, von denen sich manche auf allen vieren vom Feld schleppten.
Ein Reiter mit dem Signum von Aetius galoppierte ihnen entgegen und schrie:
„Wir brauchen mehr Bogenschützen! Wo bleibt ihr denn?“
Die Gruppe um den römischen Fähnrich hatte sich verstärkt mit einem Trupp römischer Palatini zum Hügel hinauf begeben, von wo jetzt ebenfalls das The-o-derich, The-o-derich-Geschrei erklang.
Als Attarin das nächste Mal zum Hügel sah, waren Thorismunds Männer bis über seinen Fuß hinaus vorgedrungen und hatten die Hunnen weit zurückgeworfen.
Aus dem Nieseln wurde ein dichter Regenschauer, und es war zunehmend schwerer, Freund und Feind auseinander zu halten. Immer wieder schossen Hunnen über ihre Kämpfer der ersten Linie hinweg auf die Reihen der Römer und nahmen dabei auch in Kauf, ihre eigenen Leute zu treffen. Die römische Linie war hier zwar weit vorgedrungen, doch an einigen Stellen gefährlich dünn geworden. Attarin stapfte über die blutigen Kadaver der Hunnen und Pferde der ersten Angriffswelle. Volusian war nicht mehr zu ihm gekommen. Immer wieder bückte er sich und zog Pfeile aus den toten Körpern, die er wohl selbst zuvor abgeschossen hatte.
Wieder preschte eine Schar Hunnen in vollem Galopp heran und fegte die letzten Verteidiger beiseite. Ihr Anführer, erkennbar an den vielen roten Bändern in seinen Zöpfen, erschoss aus nächster Nähe einen der letzten dort stehenden Infanteristen. Dann traf ihn Attarins Pfeil in den Hals. Er spannte noch einmal den Bogen und sandte einen Pfeil zu Attarin, doch dieser erwiderte mit einem weiteren Schuss in die Brust. Ein gurgelnder Schrei kam aus dem blutigen Mund, dann wurde der Hunne von den nachrückenden Angreifern überrollt. Schon waren sie durch die Linien der Fußkämpfer. Ihr zweiter Anführer trug einen langen Speer, mit dem er einen Bogenschützen niederstach. Nun legte er auf Attarin an. Attarin stand zwischen zwei toten Pferden und den Leichen ihrer Reiter. Der Boden war rutschig von Blut und Matsch. Er alleine blockierte den endgültigen Weg des Hunnen durch die römische Front. Attarin schoss einen Pfeil auf seinen Körper ab, doch dieser blieb im Schild stecken. Attarin blieb entweder die Flucht zur Seite, oder ein einziger Schuss aus nächster Nähe. Er sah dem Reiter direkt in die Augen, die Pfeilspitze zielte genau auf seine Stirn. Der Hunne hatte sein Gesicht nur geschwärzt und unzählige Schweißrinnsale brachten die gelbe Haut unter der schwarzen Farbe zum Vorschein. Der Hunne starrte mit sich vor Ärger verengenden Augen zurück. Attarin schoss im letzten Moment. Dann warf er sich zur Seite, aus der Reichweite des Speeres, doch er hatte den rutschigen Boden und sein schweres Kettenhemd unterschätzt. Ehe er sich wegdrehen konnte, erwischte ihn der schwere Speer und zerriss das Kettenhemd an seinem Bauch. Attarin hatte seine Drehung bereits begonnen, sodass ihn der Speer nicht durchbohrte, sondern seinem Bauch aufriss und neben ihm zu Boden fiel. Der Hunne hatte ihn ausgelassen und war nach hinten gekippt. Attarins Pfeil steckte mitten in seinem Gesicht. Die Füße hatten sich in den Steigbügeln verfangen, sodass er nicht vom Pferd fallen konnte. Erst am Waldrand blieb das Tier stehen und der Reiter glitt tot zu Boden.
Attarin bekam kaum Luft. Sein Bauch brannte wie Feuer. Er hielt sich krampfhaft an seinem Bogen fest, versuchte sich aufzusetzen, doch als er seine Wunde sah, ließ er davon ab. Vor ihm waren die nachfolgenden Hunnen nicht mehr weiter vorgedrungen. Ihre Pferde strauchelten angesichts der vielen toten Menschen und Pferde unter ihren Hufen und dann kamen von links und rechts Palatini sowie einige fränkische Fußkämpfer mit Langschwertern. Sagittarii, die sich schon zur Flucht gewandt hatten, drehten sich wieder um. Die Hunnen, deren Pferde jetzt still standen, boten ein ideales Ziel und wurden einer nach dem anderen getötet.
Attarin rollte sich auf die Seite und bedeckte mit seinen Händen die Wunde. Was sich zuerst wie ein Kratzer angefühlt hatte, war eine klaffende Wunde mit zerfetzten und durchtrennten Gedärmen. Alle Kraft hatte in verlassen. Mit einer Hand die Wunde zuhaltend, kroch er weg. Langsam aber beharrlich steigerten sich die Schmerzen. Ein einzelner schwarzer Pfeil fuhr hinter ihm in die Erde, dann wurde der Kampfeslärm leiser. Die Hunnen zogen sich zurück. Attarin drehte sich um. Baldus rannte auf ihn zu. Sein Köcher war leer, und Blut rann aus einer Wunde am Unterschenkel. Er versuchte Attarin aufzuhelfen.
„Nein“, sagte er nur, als er die Wunde sah.
„Kämpfe weiter. Bitte“, flüsterte Attarin und versuchte vergeblich, seine Wunde zu verbergen.
Baldus schüttelte stur den Kopf. Dann hob er Attarin unter den Achseln hoch und schleifte ihn langsam zurück. Attarin stöhnte vor Schmerz auf, doch Baldus lies sich davon nicht abhalten.
„Halt durch.“
Er winkte den beiden Capsari neben einem Karren mit Verwundeten zu. Einer schob den Karren gemeinsam mit einem blutüberströmten Infanteristen weiter zum Lazarettzelt, während der andere flink auf sie zurannte. Der Capsarius sah auf die Wunde und schüttelten traurig den Kopf.
„Du kannst nur mehr beten. Diese Wunde vermag kein Arzt zu kurieren.“
Baldus wurde wütend, doch Attarin hielt ihn zurück.
„Bring mich noch ein Stück zurück und dann kämpfe weiter. Zahl es ihnen heim.“

Baldus hatte ihn bis zu den Bäumen geschleift und war dann wieder zurückgerannt. Der Regen ließ etwas nach, doch Attarin war, als wäre seine Kleidung mit Eiszapfen durchtränkt. Sein Bogen und ein einzelner Pfeil lagen neben ihm. Er konnte von seiner Position aus sehen, wie die Front der Angreifer zusammenbrach. Die Ostgoten auf der rechten Seite flohen in kleinen Gruppen, während Thorismund auf der linken Seite die Angreifer völlig aufgerieben hatte und die Hunnen in eine gefährliche Zangenbewegung nahm. In der anbrechenden Dämmerung wandte sich Attilas ganzes Heer in wilder Flucht von den Feldern. Attarin sah nur wenige Verfolger, die meisten blieben einfach erschöpft stehen, wo sie waren.
„Verfolgt sie doch, ihr Narren“, fluchte er leise, als Aurelian plötzlich neben ihm stand.
„Attarin, Freund, wie viele hast du heute wohl getötet?“
„Ich glaube, es waren mehr als ich zählen kann“, gestand der junge Brukterer. Er fühlte sich so müde.
„Mir ist kalt“, flüsterte er.
„Ich bin stolz auf dich.“ Attarin bemerkte eine Wunde am rechten Oberarm, die nur mit einem blutdurchtränkten Tuch verbunden war.
Aurelian ließ ihm eine Decke bringen und hielt Attarins Hand.
„Attila ist geflohen. Weißt du, was das bedeutet? Noch nie ist er besiegt worden. Morgen werden wir ihm den Rest geben.“
„Warum habt ihr ihn nicht verfolgt?“
„Der Tag war lang und unsere Verluste wiegen schwer. Theoderich ist gefallen und viele Andere. In der Nacht hätten wir kaum Freund von Feind unterscheiden können. Ich denke, Aetius wird morgen die Truppen neu aufstellen und geordnet vorrücken.“

Baldus kam später in der Nacht zu ihm.
Er brachte Wasser und eine weitere Decke.
„Wie fühlst du dich?“ Baldus setzte sich neben ihn und hielt seine Hand.
„Es tut kaum mehr weh, aber ich bin so müde und mir ist so kalt.“ Attarin war froh über die Hand des Freundes.
„Morgen erledigst du den Rest. Versprichst du es mir?“
„Hast ja kaum noch Hunnen übrig gelassen.“
Baldus versuchte ein Lachen, doch dann strömten Tränen über seine braungebrannten Wangen.
„Sei nicht traurig“, flüsterte Attarin. „Ich habe meine Familie gerächt. Für jeden von ihnen sind drei Hunnen gestorben und dann habe ich aufgehört zu zählen.“
Erschöpft schliefen sie ein.
Am nächsten Morgen fieberte Attarin. Seine Wunde blutete nicht mehr, und auch der Schmerz war nicht mehr so scharf. Trotzdem war er zu schwach, um zu essen oder zu trinken.
Am Himmel zogen graue Wolkenwalzen entlang, doch ab und zu blinzelte die Sonne durch. Attarin machte die Augen auf und sah die vielen Verwundeten, die neben ihm gepflegt wurden und davor Soldaten, die tote Hunnen und Ostgoten plünderten. Ein Westgote und ein Römer stritten sich laut um einen hunnischen Sattel mit Steigbügeln.
„Warum greifen wir nicht weiter an?“, flüsterte er zu Aurelian, der die kampffähigen Überreste der zweiten Kohorte um sie gesammelt hatte.
„Thorismund und Aetius beraten noch“, sagte er düster und ließ sich dann auf keine weitere Diskussion ein.
„Haben wir etwa nicht gewonnen?“, flüsterte Attarin.
Baldus schüttelte den Kopf. „Wir haben gewonnen. Sie sind geflohen. Attila sitzt eingeschlossen in seinem Lager und will sich lieber selbst verbrennen, als uns in die Hände zu fallen. Aetius kann sich Zeit lassen, bis er sie zerquetscht.“
Attarin nickte erschöpft und schlief ein. Er begann immer weiter zu fiebern und träumte unruhig.
„Mein liebes Hildchen“, stammelte er. „Es tut mir so schrecklich leid. Ich verspreche dir, ich werde nie wieder etwas trinken gehen und dich alleine lassen.“
„Sie heißt doch Julia“, entrüstete sich Baldus.
Attarin antwortete ihm im Fieber. „Nein, Hildchen ist meine Schwester. Ihr müsst die Hunnen verjagen. Sie kann doch nicht vor ihnen davonlaufen.“
Baldus schwieg. Aetius hatte den Rückzug befohlen. Attila war geschlagen, hatte er verkündet. Thorismund musste zurück nach Tolosa, um den Königstitel gegen seinen Bruder durchzusetzen. Von Attila drohte keine Gefahr mehr. Gedemütigt, würden sich seine Verbündeten von ihm abwenden und die Nachfolger schon ihre Messer wetzen.
Baldus konnte sich vorstellen, wie einige der Legaten wütend gewesen sein mussten, so eine Chance ungenutzt vorübergehen zu lassen, doch Aetius war stets mehr Politiker gewesen als Feldherr. Er dachte immer weiter voraus. Vermutlich hoffte er auf lange dauernde Thronfolgestreitigkeiten bei den Hunnen. Oder war das Bündnis aus der Zeit der Burgunderkriege noch immer intakt? Ließ Aetius Attila deswegen am Leben? Baldus biss wütend die Zähne zusammen. So wie alle anderen auch hätte er Attila liebend gerne tot gesehen.

Attarin träumte viel. Er war wieder zu Hause im Langhaus und Hildchen spielte draußen. Dann kam Julia durch die knarrende Holztüre. Sie schrie auf, als sie ihn sah. Warum war sie so traurig? Ihr süßer Mund berührte seine Lippen. Dann schluchzte sie laut auf. Attarin war verwirrt. Alles war gut. Warum weinte sie nur?
„Dein Mann war sehr tapfer. Er hat zwei von Attilas Scharführern getötet“, sagte Aurelians Stimme irgendwo weit weg.
„Er war ein Held.“
Im Traum war Julias Mund so real und ihre Lippen so weich wie an jenem Nachmittag. Ihre Tränen benetzten seine Wangen. Attarin wollte sie abwischen, doch seine Arme waren so angenehm schwer.
„Er erkennt dich. Bleib bei deinem Mann und bete für ihn.“
„Meinen Mann“, hörte er Julia sagen. „Es muss dein Mann sein“; Aurelian betonte das Mann. „Damit steht dir eine Veteranenpension zu.“
Attarin verstand nichts, doch Julias Hand lag in seiner und das war wunderbar. Zufrieden schlief er ein. Es war schon merklich wärmer geworden.
Als er wieder aufwachte, tat die Wunde kaum mehr weh. Die Sonne schien jetzt und wärmte ihn. Außer ihm war niemand mehr da. Die Toten und Verwundeten hatte man weggebracht und selbst das zertrampelte Gras hatte sich wieder aufgerichtet. Ein Geräusch zog seinen Blick nach rechts. Dort kam jemand auf einem weißen Pony zwischen den Stämmen hervor. Eine kleine Person mit langen, goldenen Haaren. Sie wendete ihr Pony und ritt im Galopp auf ihn zu.
Ihre Stimme überschlug sich vor Freude.
„Attarin! Du wirst nicht glauben, was ich hier habe!“ Er traute seinen Augen nicht.
„Hildchen!“ Sie ritt tatsächlich auf einem Pony.
“Sieh her, wie ich reite.“ Sie machte Manöver, wie die wilden Hunnenkrieger und ihre Stimme überschlug sich jauchzend als sie schließlich absprang.
“Wo hast du denn das gelernt.“ Attarin stand vorsichtig auf, doch seine Wunde schmerzte überhaupt nicht mehr. Er umarmte und küsste Hildchen.
„Du hast mir so gefehlt.“
Sie auf dem Pferdchen und er, dicht bei ihr, mit einer Hand auf der Kruppe, verließen sie die katalaunischen Felder.

 

Und noche'ne Karotte
Erstaunlich, Friedel, dass du in einer von dir bereits empfohlenen Geschichte noch so viele Fehler findest. :D

Gleichwohl hat diese Empfehlung dazu geführt, mir diese Geschichte noch einmal vorzunehmen, aber leider, leider, sie ist nicht viel besser geworden, zumindest nach dem Lesen des ersten Absatzes zu urteilen, denn weiter bin ich nicht gekommen, und ich sage dir, Bernhard, auch warum:

Im Letzen Moment – Schreibfehler: Im letzten

zum dritten Mal. Dieses Mal - Wortwiederholung

Der schmale Pfad - siehe weiter unten

Krombacher Freunde von Gerhard – unbeholfene Formulierung, besser wäre: Gerhards Freunde

im letzten Moment – Formulierung wird wörtlich wiederholt (siehe oben)

Nach Waldstatt, seinem Heimatdorf waren es zwei Stunden. – nach Heimatdorf gehört ein Komma. Es gab damals auf dem Land keine Uhren, mit denen man die Stunden messen könnte, um solche Entfernungsangaben machen zu können (das kam erst mit Turmuhren im späten Mittelalter auf). Am besten wäre es, auf diese Angabe zu verzichten oder die Entfernung in (römischen) Meilen anzugeben.

vom schmalen Weg – Wiederholung, der Leser weiß bereits, dass der Weg schmal ist (siehe oben)

Wenn man in einem Absatz von vielleicht 200 Wörtern so viele Fehler/Mängel findet, dann vergeht einem wie mir die Lust, weiterzulesen. Ich schätze, Friedrichard wollte mit der Empfehlung wohl deinem Fleiß Tribut zahlen, oder, wie du selbst sagst, sich damit auch ein wenig selbst empfehlen.

 

>Vor ihm dachten einige Germanen ähnlich und es kam zu einer wütenden Rauferei.< Die Formulierung „vor ihm“ … lässt sowohl eine räumliche (vor ihm stehende Leute) als auch zeitliche Dimension (i. S. von "vormals) zu: ...
also für mich ist das im Zusammenhang ganz klar. Verzei mir, wenn ichs so stehen lasse
>Aurelian ließ nicht erkennen, ob er seine Antwort gehört hatte. Statt dessen fragte er: …< stattdessen
Und ich vermute wieder ma. der Teufel habe seine Hand im Spiel gehabt, als die deutsche Rechtschreibung erfunden wurde.
>„Sie werden nicht mehr leben. Armes Mädchen. Ist sie hübsch?“< Der letzte Satz bezieht sich aufs Mädchen, also gramm. neutral. Also wäre korrekt „ist es hübsch?“ Wirkt vielleicht seltsam, hier haben wird mit unsern drei gramm. Geschlechtern nur die Biologie gegen uns …
ja, hier hör ich besser auf mein Gefühl und lasse es so wie es ist ;)
>„Schneller, schießt, was ihr könnt“, brüllte Aurelian. „Und bevor sie euch überrennen KOMMA schießt auf die Pferde.“ Hinter ihnen schossen jetzt die Sagittarii der ersten Kohorte ebenfalls Salve …<
Da hätt ichs vielleicht: statt „Feuer!“ „Salve!“, was Gruß und – wenig ironisch - Tod zugleich bedeuten kann … Schließlich heißt es heute noch „Gewehrsalve“ usw.
Ja, das ists: SALVE, na endlich ein Wort, dass dieses unglückliche Feuer ersetzen kann :)
Der korrigierte Schlusssatz erinnert ein wenig an den Schluss der Dietrich-Sage, wenn Dietrich von Bern auf seinem Rappen gen Himmel reitet ...
war zu der Zeit wohl in Mode ;)

Hallo Dijon,
Auch dir nochmal Dank fürs Aufzeigen meiner Fehler. Nichts besseres kann einem passieren, als einen scharfen Kritiker zu finden.

Lg
Bernhard

 

Hallo Bernhard

451, der Titel erinnerte mich an Fahrenheit 451 von Bradbury aus den fünfziger Jahren. Dein Bezug war jedoch die Jahreszahl 451. Doch lässt du auch entfernter dystopische Züge der Machtlosigkeit der Bevölkerung anklingen.

Ohne die geschichtlichen Hintergründe zu werten, eine eloquent und spannend geschriebene Geschichte. Manche Passagen zeigten eine solche lebendige Ausdruckskraft, dass ich ungewollt mitfieberte.

Einige der erfahrenen Soldaten setzten sich hin und manche begannen sogar zu schlafen, währen die jüngeren wie Attarin aufgeregt nach allen Seiten sahen und sich die Feldzeichen der Verbündeten einzuprägen versuchten.

während

Auch wenn mir Kriegsgräuel eigentlich seit jeher zuwider sind, hatte mich das individuelle Geschehen von Attarin in den Bann gezogen.

Gruss

Anakreon

 

Hallo Anakreon,
Vielen Dank für dein Lob.
Und noch dazu für eine so abgelegene Geschichte.
Werd mich da gleich mal revanchieren.

Lg
Bernhard

 

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