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Abgefahren (Trainspotting)
"Nein, leider können Sie nicht mehr reservieren", teilte mir der Herr hinter dem Schalter nach einem professionellen Blick in seinen Monitor mit einem kaum merklichen Anflug von Bedauern im Antlitz mit. Ich erbleichte. Das kann ich gut, und so ließ er sich fast schon wohlwollend dazu herab, mir weiterhin mitzuteilen, daß dieser abschlägige Bescheid nicht nur für das von mir gewünschte Kettenraucher-Großraumabteil 2. Klasse Geltung besäße, sondern auch für dasselbige in der 1. Klasse und auch im Nichtraucherabteil (Großraum und Einzelzelle). Auch die Toiletten waren nicht mehr zu buchen. (Nun muß ich vielleicht noch erwähnen, daß ich keine Pendelfahrt ins Nachbarstädtchen plante, sondern durchaus gesonnen war, fast halb Deutschland zu durchqueren, wofür man sich gewöhnlich ins Auto setzt, den CD-Wechsler bestückt mit potentiellen Mitbrüllern und den Aschenbecher zum Zwecke baldiger Wiederauffüllung vorsorglich geleert, um sich mit unzähligen Konkurrenten in die freie Wildbahn unserer Autobahnen zu stürzen und ein paar Stunden später dort anzukommen, wo man hin wollte).
Nachdem ich ganz kurz überlegt hatte, ob möglicherweise ein Paar überlaufende Blau-Grau-Augen, mitleiderregend unter halbaufgelösten blonden Strähnen positioniert, hier etwas nützen könnten, verwarf ich den Gedanken gleich wieder aufgrund äußerst knappen Timings. Stattdessen knurrte ich leise und bedrohlich tief in der Kehle, als er auf meine Frage, wo ich denn meinen sperrigen Körper ansonsten verstauen könnte, nur unbestimmt mit den Schultern zuckte und etwas von "keine Sitzplatzgarantie" murmelte. Ich schnappte nach dem Ticket, bellte meinen Undank heraus und stürzte auf den Bahnsteig zu, auf dem soeben der ausgebuchte ICE sein häßliches Haupt parkte.
Grummelnd schob ich mein Gepäck durch die Tür des Kettenraucher-Großraumabteils, starrte entgeistert auf mindestens 35 gähnend leere Plätze und ebenso viele leere Einschübe für die Reserviert!-Schildchen und ließ die Idee genußvoll in meinen Gehirnwindungen zirkulieren, die komplette IT-Abteilung der Deutschen Bahn KGB-like mit kleinen bunten Stecknädelchen zu bestücken, und zwar unter jedem Fingernagel eine andere Farbe.
Sie wollen uns von der Straße holen. Mal abgesehen davon, daß "wir" in diesem speziellen Fall keine unbeschäftigten und vor lauter Langeweile auf dumme Ideen kommende Jugendliche sind, sondern: Autofahrer. Die Straßen sind zu voll, der Staus sind zu viele, die Umweltverschmutzung, der Krach, etc.
Hat eigentlich jemals jemand einen Blick in die stillen, sauberen Züge geworfen, die die größeren Städte unseres Landes vor oder nach dem Wochenende verlassen? Klar, wer möchte schon gern im Auto in einen fürchterlichen Stau geraten, wenn er sich stattdessen auf engen Sitzen Kniegefechte mit dem Gegenüber liefern, die Biertrinkwettbewerbe unserer Soldaten zur Feier des anstehenden Wochenendurlaubs (oft mit reizender Schlagermusik aus einem Ghettoblaster im Bronx-Format untermalt) live miterleben, die verschiedensten exotischen Körperausdünstungen analysieren und dann die jeweiligen Verursacher erraten oder auch mal mit der Horde ausflügender und kreischender Kegelschwestern und -brüdern liebevolle Zwinkerblicke austauschen kann? Eine Bahnfahrt, die ist lustig, eine Bahnfahrt, die ist schön!
Auch die sprachlich Interessierten unter uns kommen bei den diversen Begründungen für die regelmäßigen Verspätungen, serviert von einer reservierten Stimme aus dem Off, durchaus auf ihre Kosten:
Beispielsweise das "Warten auf Anschlußreisende" klingt nicht nur wie der Titel eines ausufernden Romans, sondern bietet auch immer wieder eine Menge Raum für philosophische Spekulationen. Jedesmal frage ich mich, wartend und hilflos dieser "höheren Gewalt" ausgeliefert, warum der Zug vorher, den ich noch hätte nehmen können, wäre er denn zehn Minuten länger stehengeblieben, damit ich ihn als Anschluß noch bekomme, einfach so abgefahren war. Und ich frage mich, warum ich eigentlich mit fliegender Mähne und hinter mir herabsegelnden Haarklammern eigentlich so über den Bahnsteig galoppiert bin und diverse Mitreisende rüde aus dem Weg geboxt habe, um diesen Anschluß noch zu bekommen, der jetzt seit einer Viertelstunde keine Anstalten macht, sich als ein solcher zu bewähren.
Während die "Signalstörung" geradezu profan und obligatorisch angewandt wird, gibt mir die Anzahl der vermeldeten "Personenschäden" schon lange Anlaß zu vermuten, daß das einzige, in dem die Bahn wirklich absolut zuverlässig ist, in der Herbeiführung dieser Schäden besteht.
Oft wird der gutwillige Reisende, der gerade im Begriff war, diesen Umstand zugunsten des eigenen Seelenfriedens großzügig unter den Tisch fallen zu lassen, auch während der Fahrt noch freundlich darauf hingewiesen, daß dieses Transportmittel "zur Zeit fünf (oder auch zehn oder zwanzig) Minuten Verspätung hat" und um sein Verständnis gebeten. Spätestens dann ist sich jeder voll bewußt, daß er noch lange nicht dort ist, wo er eigentlich laut Fahrplan schon sein sollte und verständlicherweise kaum noch zu irgendeiner Art Verständnis bereit. (Übrigens: Mein Verdacht, die Verständnislosen unter uns würden unauffällig aus dem Abteil entfernt und still und heimlich in einer Kurve aus der Tür gekippt, hat sich bis jetzt noch nicht bestätigt.)
Doch neulich hat unser Schienenbeförderungsmonopolist mich wirklich mal überrascht. Ich saß bereits seit mehreren Minuten in einem aufgrund der fortgeschrittenen Tageszeit ausnahmsweise mal recht leeren Zug, der in kaltbewährter Weise den Fahrplan trotz mangelnder Auslastung komplett ignorierte. Langsam begann ich mit den für diese Situation typischen Bewegungsabläufen: Halsverrenken, um auf eine der spärlich verteilten Bahnhofsuhren zu luren, im Sitz herumrutschen, allmählich leicht genervt die Ohren spitzen nach der wohl dieses Mal erfolgenden Erklärung. Nicht einmal mein Buch konnte mich so recht fesseln, während ich auf die Verkündung der Begründung lauerte. Und schließlich: Der Gong ertönte, die unbeteiligte Damenstimme erhob sich über dem fast leeren Bahnsteig und sprach:
"Verehrte Fahrgäste auf Gleis 11, die Abfahrt der Regionalbahn nach XY verschiebt sich (Achtung, jetzt kommts!) wegen Verzögerung des Betriebsablaufes um wenige Minuten."
Das Echo verhallte langsam, und ich war fassungslos. Das hatte ich in 15 Jahren Bahnfahren noch nie gehört. Endlich nannte mal jemand die Dinge bei ihrem richtigen Namen! Die Verzögerung an sich war uns ja allen bereits deutlich als solche aufgefallen, und daß hier irgendwo irgendein Betrieb nicht ganz ohne Verzögerung ablief, hatte ich mir auch ohne nähere Kenntnis der Umstände schon zusammenkombiniert. Jedenfalls wurde mir hier mit drastischer Offenheit klargemacht, daß zwischen mir und meinem dringenden Wunsch nach Hause zu kommen zum wiederholten Male der amorphe Geist der Verspätung seine unansehnliche Gestalt emporreckte und mir schadenfroh grinsend den Weg versperrte. Kein schöner Zug von der Bahn.
Ich neige in solchen Fällen (also recht häufig, bis auf die Gelegenheiten, bei denen ich mit Entsetzen feststelle, daß meine Monatskarte schon seit drei Tagen abgelaufen ist) zu übertriebenen Reaktionen wie z. B. der ausführlichen Befragung des frei herumlaufenden Bahnpersonals zwecks genauer (und letztendlich völlig überflüssiger) Erörterung, warum denn hier überhaupt etwas verzögert ablaufen muß, oder der verbalen Verbündung mit den übrigen Reisenden im Abteil, wobei das Repertoire von kollektivem, unterschwelligen Grummeln bis hin zum gemeinsamen und kreativen Protestgeheul praktisch alles beinhalten kann. Manchmal habe ich mich sogar dabei ertappt, wie ich in dem Moment, in dem der zuständige Schaffner seinen Standard-Spruch "Die Fahrkarten, bitte!" präsentiert, derart verstohlen nach meiner Tasche greife und mich so verdächtig von meinem Platz schleiche, daß der arme Mensch in Uniform mich natürlich für einen Schwarzfahrer halten muß und sofort zur Tat schreitet, sprich: mich an der Tür stellt, um ihm dann, mit dem Zeichen des Unschuldslamms förmlich auf die Stirn tätowiert, stolz meine gültige Fahrkarte zu präsentieren.
Fazit: Bahnfahren ist viel spannender, aufregender und unberechenbarer als sich mit einem Auto allein auf die Reise zu begeben. Es fördert außerdem die soziale Wärme, verhindert übertriebenen Individualismus und überrascht sogar diejenigen, die womöglich glauben, alles schon erlebt zu haben, immer wieder mit neuen Herausforderungen an Geduld, Gelassenheit und die emotionale Intelligenz eines jeden (sofern vorhanden).
Euch allen Gute Fahrt!