Abgenommen
Zögernd öffnete ich meinen Kleiderschrank. In der hintersten Ecke, ganz unten ruhte seit Wochen meine Stretch-Markenjeans, die mich schmerzlich daran erinnerte, dass ich in den Sommermonaten wieder ein paar Pfund an Gewicht zugelegt hatte. Das Eis, die Grillsteaks, Soßen und Weizenbiere, die man gewöhnlich an lauen, gemütlichen Abenden zu sich nimmt, hatten mich veranlasst, Leggings und Radlerhosen mit Gummizug zu tragen. Diese wuchsen mit und gaben mir das gute Gefühl, mich bei Tisch nicht zurückhalten zu müssen. Der Personenwaage hatte ich vorsorglich die Batterien entnommen, damit ich erst gar nicht in Versuchung kam, mein Gewicht zu kontrollieren. Abnehmen konnte man im Herbst immer noch.
Ausgerechnet heute waren zahlreiche Gewitter nieder gegangen und hatten die Luft merklich abgekühlt. Das Sommernachtsfest, zu dem mein Mann und ich eingeladen waren, fand im Freien statt und da ich nicht frieren wollte, blieb mir keine andere Wahl, als mich in meine Jeans zu zwängen. Seufzend nahm ich sie aus dem Schrank, faltete sie auseinander und hielt sie begutachtend in die Höhe. Zunächst zögerte ich einen Moment, dann nahm ich allen Mut zusammen und zog sie einfach an. Die Hosenbeine stellten erfahrungsgemäß kein größeres Problem dar, doch als es galt, den Reißverschluss zu schließen, holte ich tief Luft und zog den Bauch ein. Jetzt hieß es Farbe bekennen.
Wie vom Donner gerührt riss ich die Augen auf und blickte an mir herunter. Meine Lieblingsmarkenjeans passte wieder, nein, sie war sogar eine Nummer zu groß. Ich zog den Hosenbund vor wie in der Fernsehwerbung für Schlankheitsdrinks und drehte mich glückselig vor dem großen Spiegel hin und her. Ich fühlte mich gut und war Stolz, ich hatte es geschafft ein paar Pfund abzunehmen ohne mich dabei zu quälen. Mit Vorfreude auf die gegrillten Scampispieße, Steaks, die Gratins und Süßspeisen, die ich heute Abend ohne schlechten Gewissen zu mir nehmen konnte, sprang ich leichtfüßig durch die Wohnung. Ich griff zum Telefon auf dem Nachttisch, wollte noch schnell eine Freundin an meiner Freude teilhaben lassen und meine Mutter, die ohnehin immer lästerte, wenn sie mich bei Streifzügen durch die Boutiquen in der Umkleidekabine kritisch betrachtete.
Mein Mann hatte inzwischen das Zimmer betreten. Er stand vor seinem Kleiderschrank und schob die Bügel von rechts nach links. Schließlich kniete er nieder und kroch in das unterste Fach.
„Sag mal“, begann er, als sein Kopf wieder sichtbar wurde, „hast du eigentlich meine Stretch-Jeans gesehen?“
„Nein, die muss in deinem Schrank liegen“.
„Tut sie aber nicht, vielleicht ist sie im Wäschekorb“.
„Der ist leer, das weiß ich genau“.
Mein Mann verschwand erneut im Inneren seines Schrankes während ich begann, mich mit dem Telefon zu befassen.
„Hast du wirklich keine Idee, wo sie sein könnte“, fragte die verzweifelte Stimme aus der Tiefe des Kleiderschrankes.
„Nein, äh, Moment mal!“
Ich sah an mir herab. Der Hörer fiel mir aus der Hand, zurück auf die Gabel noch, bevor die Angerufene sich melden konnte.
Ich zog an meinem Hosenbund, einmal, zweimal...!
„Doch, ich glaube, ich weiß jetzt wo sich deine Jeans befindet!"