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Ablösen kurzen Blickes
Er sieht verwirrt aus. Er ist ein Freak.
Sitzt da verkrampft in der Viererecke, und weiß nicht, wo er hinschauen soll. Ununterbrochen wandert sein Blick umher.
Und doch sieht es nicht aus, als wenn er auf irgendwas drauf wäre. Der Typ hat keine synthetischen Substanzen in den Hirnwindungen rumspuken, der dreht aus ganz anderen Gründen am Rad.
Hat der etwa Schiss?
Ich meine, was will er da jenseits der Fenster finden, außer vorbeihuschenden Lichtern? Das ist eine U-Bahn.
Der Lautsprecher rechts über mir ist defekt. Ein Knacken begleitet die aus ihm sprechende Frauenstimme: "Nächste Haltestelle ... Steinstraße, Königsallee."
Er macht nicht den Eindruck, als wäre er jemals zuvor in Düsseldorf gewesen. Eigentlich macht er nicht einmal den Eindruck, als wäre er überhaupt jemals in einer Großstadt gewesen.
Plötzlich steht er auf, stellt einem türkischen Jugendlichen stammelnd eine Frage. Eine Frage, die ich von hier aus nicht verstehe. Der Türke lacht; sein Kumpel stimmt mit ein, und plötzlich tut er mir Leid.
Die beiden Rotznasen sind höchstens fünfzehn. Er ist locker doppelt so alt. Doch da ist kein Kontra. Er setzt sich einfach wieder auf seinen Platz zurück.
So ein Spinner. Keinen Saft in der Hose.
Irgendwie kann ich trotzdem nicht von ihm ablassen. Da ist etwas ... so eine romantisch kitschige Schmalzsache, die mich ihn weiter beobachten lässt.
Hässlich ist er nicht. Ein bisschen zu dünn vielleicht. In den dazugehörigen Klamotten würde er als Skater durchgehen. So aber ist er ein Nichts, verschwindend in der Masse.
Wäre er wenigstens Skater, er könnte sich immerhin noch zur Masse zählen. Nicht erstrebenswert, aber besser als nichts.
Ob ihm bewusst ist, dass niemand ihn wahrnimmt?
Als wir den Hauptbahnhof erreichen, steht er ein zweites Mal auf. Ich muss hier auch raus. Kurz stoßen unsere Arme aneinander, als wir im Getümmel nach draußen drängen.
Eine entschuldigende Geste, begleitet von trotteliger Mimik. Ein seltsames Funkeln in den Augen. Keine Überlegenheit, sondern reine Panik.
Panik vor der Welt und ihren Menschen, als hätte der Planet Parasitenbefall; und auf einmal weiß ich: Er könnte es vielleicht sein. Vielleicht.
Auf der Treppe nach oben verliere ich ihn im Gedränge schließlich aus den Augen. In diesem Moment wird mir bewusst, dass er die Leere, die vorbeihuschenden Lichter, und das Treiben innerhalb der Bahn nicht gesucht hat. Er wollte weder finden, noch verstehen.
Mit rasendem Puls hetze ich durch den Bahnhof, ihn suchend. Mein Verstand will Nein! schreien. Ich habe ihn verloren. Er ist nicht mehr da.
Hässlich ist er eigentlich nicht, denke ich Minuten später, als ich bereits in meiner Anschlussbahn sitze.
Ob ihm das bewusst ist? Unruhig schaue ich mich um. Ist da etwas hinter dem Glas? Ist da irgendwo irgendetwas?
Nervös springe ich von meinem Platz auf. Zwei Mädchen stehen nahe der Tür.
"Habt ihr ihn gesehen? Habt ihr?" - Ich will brüllen, statt dessen bringe ich nur heiseres Gekrächze hervor.
Sie lachen mich aus.
Apathisch sinke ich auf meinen Platz zurück.