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Sie trocknete mit der linken Hand ihre Tränen, während sie die rechte den Trauergästen reichte. Georg wollte der Witwe seines alten Freundes mehr sagen als die üblichen Worte und eine platte Formel auf jeden Fall vermeiden. Und dann rutschte es ihm doch heraus. „Mein Beileid.“
„Vielen Dank. Mein Gott, am nächsten Wochenende wolltet Ihr euren Dreißigsten gemeinsam feiern ... Ihr seid ja nur eine Woche auseinander. Und jetzt das."
"Soll ich dich nach Hause fahren?"
"Danke, ich möchte heute lieber allein sein."
Georg umfasste ihre Hand mit seinen beiden Händen, um seine besondere Verbundenheit auszudrücken.
"Wenn ich noch irgendwas tun kann, melde dich bitte!"
Er blickte auf das schlichte Holzkreuz, das bald durch einen würdigen Grabstein ersetzt werden sollte und reihte sich ein in den abwandernden Zug der Hinterbliebenen. Während der Kies zwischen den Grabreihen unter seinen Schritten knirschte, widmete er dem tödlich verunglückten Klassenkameraden noch einige Gedanken der Erinnerung. Im letzten Jahr hatte er seine Zulassung als Patentanwalt erhalten, seine Kanzlei lief prächtig. In ihrer gemeinsamen Schulzeit hatten sie so manchen Streich ausgeheckt. Peter, Annegret, Luise und er, Georg. Mit Wasser gefüllte Luftballons und Einkaufstüten flogen fünf Stockwerke tief, um im Treppenhaus der Schule mit einem lauten Knall zu zerplatzen. Später dankten sie dem Schicksal, dass die kiloschweren Wasserbomben niemanden getroffen hatten. Sie ließen ein ferngesteuertes Spielzeugauto im Lehrerpult hin und her rumpeln, wenn der Lehrer gerade an der Tafel stand und genossen seinen irritiert suchenden Blick. Alle vier hatten mit etwas Glück und Geschick erfolgreiche Karrieren hingelegt. Und jetzt waren drei von ihnen tot. Annegret hatte zuletzt in Frankreich gelebt und starb in der Nähe von Nimes, sie verunglückte mit ihrem Sportwagen. Kurz darauf war Luise in Sankt Moritz beim Skifahren in den Tod gestürzt und jetzt also Peter. Eine Windböe hatte seinen Gleitschirm kurz nach dem Start zusammengefaltet. Georg stellte mit Schaudern fest, dass Luise und Peter jeweils drei Tage vor ihrem dreißigsten Geburtstag verunglückt waren. Welch schrecklicher Zufall! Wie war das wohl bei Annegret in Frankreich gewesen? Er selbst würde in drei Tagen in den nächsten Lebensabschnitt wechseln. Drei Tage vorher - ein Zufall? Es beunruhigte Georg und er wusste, es hatte mit diesem Friedhof zu tun. Er blieb an einem sehr alten Grab stehen. Die Platte aus Marmor war von Efeu überwachsen und umrahmt von steinernen, mannshohen Engelsfiguren. Wie hieß der noch mal …? Georg schob das Efeu zur Seite und las den Namen: Rudolf von Katzenstein. Richtig, das war der Name.
*
„Hast du eine Taschenlampe dabei?“
„Klar.“ Georg leuchtete direkt in Annegrets Augen.
„Lass das!“
Sie hatten sich diese Nacht in den Sommerferien ausgesucht, und das Wetter spielte mit. Gegen die Straßenlampen konnte das Licht des vollen Mondes nichts ausrichten. Auf dem dunklen Friedhof dagegen würde er ihr Treffen in sein mattes blaues Licht tauchen. Luise und Peter stellten ihre Fahrräder ab, die vier kletterten über die Friedhofsmauer. Okkultismus kannten sie nur vom Hörensagen, aber einmal wollten sie ein paar schaurigschöne Stunden auf dem Friedhof erleben.
„Also, wo lassen wir die Toten auferstehen?“ Peter hatte die Idee für die Gruselnacht und jeden beauftragt, sich eine kurze Gespenstergeschichte auszudenken. Zwischen den Gräbern sollte also das Blut gefrieren.
„Wie wäre es hier?“ Luise leuchtete auf eine große Grabplatte. Ein gewisser Stephan Klemp lag darunter.
„Kennt den einer von euch?“
„Hat vielleicht mit der Bäckerei Klemp zu tun. Der ist über neunzig geworden. Alter Knacker. Wir suchen weiter.“
Der Wind ließ die Äste in den Baumwipfeln rauschen und knarzen. Der Gemeindefriedhof war um ein kleines Wäldchen herum angelegt.
„Sollen wir zum Wald rüber?“
„Nee, da kann ich auch in jeden anderen Wald gehen … seht mal da drüben!“
Das Mondlicht fiel auf vier steinerne Engel mit einem zauberhaften Lächeln.
„Wow, ist das kitschig!“
„Ich find ’s klasse! Genau richtig!“
Sie standen vor dem Grab Rudolfs von Katzenstein.
„Neunter Juni 1829 bis Sechster Juni 1859. Der ist nur dreißig geworden.“
„Nicht ganz. Drei Tage vorher hat’s ihn erwischt.“
„Der war sicher mal ein stinkreicher Graf oder so was. Hatte vermutlich ein tolles Leben mit allem Drum und Dran.“
„Da würde ich auch gerne mit Dreißig den Löffel abgeben, was meint ihr?“
Die Freunde stimmten zu.
„Klar, wenn es sich gelohnt hat. Dreißig ist doch okay! Hier bleiben wir!“
Piepiep!
Georg kramte sein Handy aus der Tasche. „Ist nur ne SMS!“
Peter war verärgert. "Mach' das Ding aus - ist ja voll der Stimmungstöter! Wir haben unsere extra zuhause gelassen."
"Schon gut." Georg schaltete es aus.
Peter war der erste, der sich traute. Er stieg auf die Grabplatte. Annegret war etwas entrüstet. „Muss das sein?“
„Die geht schon nicht kaputt.“ Peter stampfte mit einem Fuß drauf. „Was soll da kaputt gehen?“ Er ließ sich auf der großen Steinplatte nieder. „Na kommt schon, der beißt nicht mehr!“
Luise fand die Idee der Gruselnacht plötzlich gar nicht mehr lustig. Der Strahl ihrer Taschenlampe fiel auf einen Engelskopf. „Die schauen so komisch!“
„Jedes Gesicht sieht fies aus, wenn man es von unten anleuchtet. Schau’ mal mich an!“
Peter hielt sich die Taschenlampe unter sein Kinn. Georg lachte – nur kurz. Da war etwas in Peters Augen … in den Pupillen … ein Gesicht … es sah ihn an. Oder hatte er selbst sich darin gespiegelt?
„Wir sollten anfangen. Also, wer hat die erste Geschichte?“ Peters Stimme verriet einen Anflug von Unsicherheit.
Georg leuchtete noch einmal die Engel an, direkt von vorne. „Die haben doch vorhin gelächelt, oder nicht?“
Es waren hässliche, verzerrte Grimassen.
„Ich finde, die sehen genauso aus wie vorher." Peters Antwort klang allerdings ein wenig zweifelnd.
„Seid mal ruhig! Ich glaub', da sind Schritte!“
Die vier verstummten und knipsten ihre Lampen aus. Sie zogen die Knie an und drückten sich Rücken an Rücken eng aneinander.
„Seht ihr, es geht auch ohne Lampen“, flüsterte Georg und deutete zum Mond. Er hörte nichts. Oder doch?
„Verdammt … da ist doch jemand! Pst!“ In Annegrets Stimme schwang ein wenig Hysterie mit.
Sie saßen auf dem Grabstein und lauschten. Luise zitterte, Peter hatte schweißnasse Hände. Georg war etwas übel.
„Er … Es ist wieder weggegangen. Hauen wir ab!“
Peter beendete den Flüsterton. „Quatsch, da war niemand. Kommt, lasst uns gehen. Ehrlich gesagt, mir ist sowieso keine Gruselgeschichte eingefallen.“
Georg schaltete wieder sein Handy ein und las die Botschaft von seinem beleuchteten Display ab.
Wünsche werden wahr! Schicke eine SMS zurück, um das Abo zu beenden.
Luise winkte ab. „Tu das bloß nicht, das ist üble Abzocke. Ich lösche die immer sofort. Die verdienen nur an deiner Antwort, die kostet schon allein ein Schweinegeld.“
Georg löschte die SMS. Die vier Freunde hatten die Nase voll von Gräbern bei Mondlicht und verließen im Laufschritt den Friedhof.
*
Während die Trauergäste an ihm vorbeizogen, starrte Georg auf das verwitterte und von Efeu überwucherte Grab. Er spürte ein Stechen in der Brust. Er rang nach Luft und brach zusammen. Das letzte, was er sah, waren die lächelnden jungen Gesichter der Engel. Es waren ihre Gesichter.