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Abschied
[edit: die ueberarbeitete Version der Geschichte findet sich hier]
Der Sprecher hatte schon begonnen, die Weiterfahrt des Morgenzugs für fünf Minuten später anzusetzen, als der Bus am Bahnhofstor noch Thomas, Martha und zwölf andere gnadenlos gehetzt und spät, heraus, hinein in diese Halle spuckte.
Weißt Du noch, welches Gleis?
Das erste, denke ich, aber besser, wir sehen noch mal nach, spricht sie.
Sekunde - die sagen es gerade durch: Abfahrt in fünf Minuten, Gleis eins.
Gut, dann haben wir noch etwas Zeit.
Schweigend wie schon im dichtgedrängten Bus zuvor geleitet Martha Thomas hin zum Gleis.
Thomas ist aufrecht. Seine Augen hüpfen von Gesichtern zu Dingen, tänzeln um die ersten Sonnenstrahlen und verirren sich mit ihnen in die Ferne, noch Abschied nehmend, schon aufbrechend, sehr gut gelaunt, von Sorgen frei.
Marthas Last trägt keine Tasche. Ihr Blick folgt seinem Schatten durch das letzte Licht der Leuchtstofflampen, versunken in Gedanken, in Worten, die noch sprechen müssen, ihr Notgepäck für triste Trennungsstunden.
Beider Schatten durchdringen einander, links von roter Sonne eingefasst am Rande der Geleise.
Thomas stellt die Tasche ab und wendet sich ihr zu.
Du wirst lange weg sein, sagt Martha.
Es sind doch nur vier Wochen, die gehn vorüber wie im Flug, sagt er, wobei schon spielerisch sein Blick bis hin zum Ende dieses Bahnsteigs läuft, zur Richtung, aus der der Zug bald kommen sollte. Doch Trübsal schweigt von dort zurück: Männer und zwei Frauen formen Traurigkeit am Totensarg. Sein Blick springt weiter in die Ferne, dem Zug entgegen, getrieben und gespornt, Gedanken an die Zukunft. Er wendet sich der Ankunft zu. Schultern schreiben T in diese Morgenkühle.
Martha senkt den Blick zu Boden, um näher dann neu aufzustehn:
Schreibst Du auch?
Sein Blick träumt schnell zu Ihr zurück.
Aber sicher doch, das habe ich noch jedes Mal getan, sagt er.
Sie weiß, dass eine Karte kommen wird, eine Karte voll mit Bildern, vorderseitig, wenig Worte nur dahinter, am ersten Tage abgeschickt, gewissenhaft, als Bote seines Trennungsschweigens das beide dann verstrickt, verknüpft, verwebt mit ihren Lebensfäden, die ganze Zeit, bis zum Moment an dem er wiederkommt.
Ich werde mir die Tage frei nehmen, wenn Du zurückkehrst, sagt sie.
Die Traurigkeit füllt ihr einen Becher Ahnung die Augen, Erinnerung an das Glück der ersten Jahre, als er nicht reisen musste - es fehlte nur an Geld.
Thomas Augen kneifen sich am Horizont den Punkt heraus, an dem der Kopf der Eisenschlange als Regenwurm bereits aus dem Boden hochgekrochen ist.
Schatz, das muss nicht sein - ich bleibe das nächste Mal länger zu Hause, sicher, sagt er beruhigend, obwohl er weiß, dass das nicht geht. Dunkle Melancholie mischt Grau aus rosa Morgenwolken, weil schattenhaft die Wärme der Erinnerung den kalten Glanz des Gelds zerschmilzt.
Ein Luftzug kühlt vorbei, spielt ihre Haare, als sie spricht: In zwei Wochen beginnt für unsere Kleine die Schule.
Durch ihr Gesicht schimmert Mutterstolz vom Lächeln ihrer Tochter in das Licht der Sonne, da sie nun vor ihm steht, doch Thomas studiert nur seine Spielzeugbahn am Horizont.
Ich weiß, aber das ist doch schon geregelt, sagt er, wobei sein Blick für den Moment bei seiner Frau verweilt.
Lisa würde sich aber sehr freuen, wenn Du ihr etwas schickst, sagt sie. Ich habe mich auch immer sehr gefreut, etwas von meinem Vater zu bekommen, damals als ich noch klein war.
Traurige Gedanken erwachen im Grab ihres Vaters, kriechen empor und suchen nach Liebe.
Ich habe schon daran gedacht, lügt Thomas, reflexhaft ohne Bindung, bei seinen Gedanken in der Ferne. Der nächste Moment schon weiß nicht mehr, was Martha eben wollte. Überrascht bemerkt er dann, dass ihre warmen Hände fest nach seinen Fingern greifen.
Kannst Du das machen, bitte, ihr zu liebe?
Ihre Hände greifen durch die Finger, graben grau nach diesen Bildern, die längst vergilbt nun farbig werden und ihr den Abend malen, an dem sie noch sehr klein gewesen, doch fast schon fünf, den einen Abend, an dem ihr Vater reiste, das letzte Mal verreiste, und sie mit Mutter hier am Bahnsteig stand, das allererste letzte Mal.
Aus den Stimmen, dem Gewirr, zerlösen sich die Worte, die Worte ihrer Mutter waren und fassen nach der Hand des Vaters: 'Pass auf Dich auf, Georg, ich liebe dich - '. Sie wusste nur, dass Papi fliegen musste, weit übers Meer bis hoch zum Himmel. Doch Mutter weinte nicht, nur Martha, weil Meer und Himmel sie erschreckten, so kalt und tief, so weit und fern.
Wann kommt Papi wieder, wollte sie nur wissen. In zwei Wochen, sagte die Mutter. Wie lange sind zwei Wochen, fragte sie. Eine Ewigkeit, sagte die Trauer.
Thomas sieht sie an, sieht in ihre Augen wie lange nicht, er sieht die Trauer tief darinnen, den Schmerz und ahnt, wie sehr sie ihn vermissen würde, dass Lisa nach ihm fragen würde, jeden Tag, an dem er nicht zu Hause ist. Der Druck der Hände bohrt die Fragen in ihn ein, das Quengeln kleiner Kindermünder, Kindersorgen, Kinderfragen, unschuldig oft am Tag gestellt. Er spürt die Last auf seine Seele drücken, er spürt die Bitte wesentlich und ernst, und weiß nicht mehr, was sie gesprochen, was sie zu ihm zuvor gesagt. Er fürchtet ihren Schmerz und spricht dann nur von seinen nächsten Wochen: Ja - ja, ich mach' das schon.
Leises Donnern seines Zuges mischt sich schon durch ihre Worte als sie sagt: Ist gut, sie vermisst Dich doch so sehr, und spricht dabei für sich, und weiß, es ist zu früh für Lisa, zu früh um fünf am Morgen, in dem Moment, in dem sie spürt, dass nur noch sie die Hände hält, seine kühlen Hände hält, die langsam ihr von selbst entgleiten.
Ihre Augen blinzeln vorbei an tiefer Morgensonne und beneiden noch den Schatten über Hals und Kinn, der mit ihm reist, sie küssen seinen Mund, auch seine Nase und die Augen, die erwartungsvoll an ihr vorbei die Ferne suchen, sie begrübeln noch die Stirn, in Fältchen quer durch seine Haare streichelnd, um zu den Augen heimzukehren. Wie sehr er meinem Vater gleicht, dem lieben Vater, der so alt wie Thomas war, so groß und kräftig, voller Leben.
Inmitten von Gedanken hört sie seinen Mund noch sagen, ich liebe Dich, ich lieb' Euch beide, den Mund, den sie noch küssen würde, den sie dann vermissen würde, vermissen nur die ganze Zeit.
Gib Lisa einen Kuss von mir, kommt es aus Nebeln, über denen eine Sonne sitzt, auf seiner Schulter, ein gelber Vogel mit einer Last so schwer wie Blei.
Seine Augen, sie sind ihr doch zugekehrt, als sie verspricht, ich liebe Dich.
Es ist der Luftzug, der sie sanft von hinten fasst, geschoben von dem Zug, der Luftzug, der sie leise an ihn drückt, in dem Moment, als er sich nach den Taschen bückt. Sie berühren sich noch sanft, noch einmal, sie blicken sich doch an, umarmend, und bleiben beide schon getrennt, da er die Taschen in den Händen hält.
Ich muss jetzt los, spricht er, die Schultern sind gedreht zur Tür, zum Einstieg, zur Gelegenheit des nächsten Wagens. Hastig bückt er sich zu ihr und küsst sie feucht auf ihren Mund, ohne Rückhalt, ohne Hände, die sie doch umfassen sollen.
Wie losgerissen steht sie da und und blickt ihm nach.
Thomas steigt dann in den Wagen und setzt sich hin, den Rücken schräg zu ihr gekehrt, wie Papa damals, denkt sie noch und sieht den Vater sich erheben, das Fenster öffnen, sieht, wie er die Hände ihrer Mutter nimmt, auch ihre Hände zärtlich streichelnd, und hört die Mutter dabei sagen: Pass auf Dich auf, Georg, pass auf Dich auf, ich liebe Dich so sehr, sie spürt den frischen Tränenzweig aus ihren Mutteraugen wachsen und rückwärts durch die Zeit auf ihres Vaters Händen blühen als Echo seiner Stimme aus dem Fenster, wo Thomas seine Zeitung liest, nichts ahnend seine Zeitung liest, im Zug, der eben losgefahren, weggefahren, weg von ihr, zu dem sie nur noch flüsternd spricht: Komm doch zurück, komm nur zurück, zurück zu mir - doch nur der Wind des Zugs spielt zärtlich noch mit ihren Haaren.
Martha muss nun heim zu Lisa, die noch schläft, der sie auch noch sagen muss, dass Thomas nicht gegangen ist, sie nie verlassen wird, und dass er wieder käme, bald schon wieder käme, zurück zu ihnen, immer.