Absence
Plötzlich war ich wieder da. Oder besser: mit einem Schrecken stellte ich fest, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich nur eine Sekunde zuvor gewesen war. Als wäre ich aus einer fremden Welt ins Diesseits geworfen worden oder aus dem Koma aufgewacht, besah ich mir die Situation: die Regale mit Büchern, schwer und mit blauem Einband die klassische Fachliteratur, daneben die Taschenbücher zu einzelnen Themen, im untersten Fach die Aktenordner mit kopierten Artikeln. Alles vertraut. Ich drehte den Kopf, sah meinen kleinen Beistelltisch mit drei Teetassen, daneben eine Zeichnung, die ich wohl gerade abgelegt hatte, und allmählich wurde ich eines gleichmäßigen Plätscherns von Worten gewahr. Eine Frau mit geröteten Augen und weinerlicher Stimme, tröstend gehalten von einem Mann mit Halbglatze und in einem karierten Hemd, brach gerade in Tränen aus.
Auf einen Schlag wurde mir die Situation präsent: ich war mitten in einer Beratung. Und ich wusste nicht im Geringsten, worum es ging. Die Frau schniefte in ihr Taschentuch, und bleiernes Schweigen breitete sich aus. Der Mann sah jetzt mich an, erwartungsvoll, und ich stammelte: “Ja, das klingt sehr traurig.“ Ich versuchte, meine Mimik zu kopieren, die sonst Mitgefühl ausdrückte, versuchte mich empathisch einzustimmen, aber in meinem Kopf rasten die Gedanken. Was war in mich gefahren, das war mir doch noch nie passiert! Hatte jemand etwas bemerkt? Ich atmete tief ein und setzte jede Silbe betonend hinzu: „Können Sie noch einmal zusammenfassen, was Sie meinen? Die Essenz sozusagen, mit der wir arbeiten wollen.“
Die Frau stopfte ihr Papiertuch in die Handtasche, richtete sich auf und sagte mit festerer Stimme: „Ich habe Angst, sie zu verlieren. Ich würde nur gern wissen, ob wir uns Sorgen um Stephie machen müssen.“
Ich schluckte. Eigentlich hatte ich mir mehr Information erhofft, aber zumindest sagte mir der Name etwas. Ach ja, Stephie mit „ph“ und „ie“. Das Mädchen, das stundenlang monochromatische Bilder malte und dann kaum ansprechbar war. Mir fiel das Vorgespräch wieder ein, meine erste Frage damals: „Ist sie schon auf Epilepsie getestet worden?“
„Ja,“, hatte die Frau damals genickt, „durch die Absencen“ – und sie sprach es korrekt französisch-nasal aus – „haben wir auch daran gedacht. Negativ, keine Auffälligkeit. Und für Autismus ist sie in zu gutem Kontakt mit uns, zu normal.“
„Obwohl sie schon immer still und verschlossen gewesen ist“, hatte der Vater ergänzt. Nach meinem damaligen Eindruck waren sie bemühte Eltern, verständnisvoll, abwartend.
Erst jetzt fiel mir der braune Schopf hinter ihnen auf, da saß das Mädchen in der Kinderecke und malte ungestört. Kurz blickte sie auf, und ich erschrak: sie wusste. Mehr noch: ich kannte sie. Irgendwie hielt mich das Gefühl gefangen, dass sie mit meinem Aufmerksamkeits-Aussetzer zu tun hatte, als hätten wir uns eine Welt geteilt. Ich versuchte ein scheues Lächeln, fing mich wieder und nickte. Sie senkte den Kopf, und ich hörte wieder das Kratzen ihres Buntstiftes.
Mir kam in den Sinn, dass der Vater vielleicht auch seine Sicht schildern wollte, aber ich wusste nicht, ob er es bereits getan hatte. „Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, dass ich mich einmal allein mit Stephie unterhalte“, schlug ich vor, inständig auf sein Einverständnis hoffend. Beide sahen zu ihrer Tochter hinüber, nickten und standen auf.
„Gut, dann nehmen Sie doch im Wartezimmer Platz.“
Ich begleitete sie zur Tür und hockte mich dann zu dem Mädchen auf den Spielteppich. Immer noch zauberte sie Einzelheiten auf ihr Blatt, Blumen, Tiere, fantasievolle Kreaturen. Alles in flaschengrün.
„Willst du nicht mal eine andere Farbe nehmen?“, fragte ich in neutralem Ton, um keine Wertung auszudrücken.
„Mit einem anderen Stift geht das nicht.“ Sie blickte kurz auf, und in ihren wasserblauen Augen sah ich den Anflug von Tadel. „Das weißt du doch.“
„Ähm. Du meinst ... ?“ Eigentlich war es meine Kunst, Fragen zu stellen, um Kinder zum Sprechen zu bringen. Ganz behutsam unterstützt, enthüllten sie mir die Wunden ihrer jungen Seelen, ließen Licht darauf fallen; der erste Schritt zur Heilung. Doch heute war ich nicht ich selbst, heute fühlte ich mich selbst wie ein verwirrtes Kind, das Schutz brauchte. Ich konnte ihr doch nicht erzählen, was mir passiert war, ich konnte sie doch nicht fragen?
„Ich habe nur einen Stift dabei, den grünen.“ Sie leckte mit der Zunge kurz über die Spitze und stellte dann einen Baum fertig. „Aber einer ist auch genug.“
„Andere gehen nicht?“, nahm ich ihre Worte von eben auf. Ihre Hand stoppte abrupt die Bewegung, und sie runzelte die Stirn, so dass sich eine waagerechte Falte an ihrer Nasenwurzel bildete. Dann seufzte sie, wie es Kinder mitunter über die Dummheit von Erwachsenen tun, sah zu dem Tischchen hinüber und fragte: „Hat es dir gefallen in Jugundia?“
Ich unterdrückte die sich mir aufdrängende Frage, folgte ihrem Blick und erinnerte mich wieder an das andere Bild, ganz in braun, das sie von daheim mitgebracht hatte. Langsam stand ich auf, um es zu holen und bemerkte beiläufig: „Zu Hause geht ein anderer Stift?“
Stephie seufzte wieder und meinte: „Na-tür-lich!“, wobei sie zwischen den einzelnen Silben pausierte. „Zu Hause ist doch das Ding. Ich dachte, du kennst dich aus.“
Ich betrachtete die gemalten Dächer und Schornsteine, wie durch ein Fenster gerahmt – in dem Alter? - und wollte gerade nachhaken, wieso sie mich für wissend halte, doch da geschah es wieder: als ich das Papier in der Hand hielt, fiel ich zurück in das Jenseits der gemalten Welt, stand selbst in dem Dachboden mit dem kleinen Fenster und blickte über die Weite der Stadt.
„Du magst Jugundia wirklich, nicht wahr?“, drang von weither Stephies Stimme. „Warte, ich komme.“ Dann stand sie neben mir, ihr Gesicht auf Augenhöhe, ihre braunen Locken kitzelten meine Nase, und ich fragte mich, ob sie gewachsen oder ich geschrumpft sei. Ihre blauen Augen forschten in meinen, und nachdenklich griff sie nach einem meiner Zöpfe. „Du weißt ja gar nichts mehr“, stellte sie gedehnt fest.
Verblüfft griff ich selbst nach dem Zopf und wollte gerade über seine Länge staunen, die ich als Kind, in Stephies Alter, zum letzten Mal so getragen hatte. Doch von Sekunde zu Sekunde wurde es natürlicher, schließlich war meine Kindheit ja noch nicht lange her, schließlich war ich ein Kind! Was sonst? Ich musste kichern.
„Weißt du was, Stephie? Ich habe mir gerade vorgestellt, ich wäre schon groß.“ Ich gluckste vergnügt.
„Sollen wir wieder malen?“ Stephie setzte sich auf den Teppich, der auf dem Dielenboden lag. „Ach, mein Stift ist stumpf wie ein Besenstiel!“ Sie griff zu der tollen Maschine, um die ich sie seit ihrem Geburtstag beneidete. Während ich nur einen winzigen Plastikspitzer hatte, besaß Stephie ein Gerät, das auf Saugnäpfen stand und knallrot schimmerte. Das beste aber war die Kurbel, mit der man jeden Stift spitz kriegte. Damit machte Malen wirklich Spaß, denn der Stift flitzte danach über das Blatt, wie von Zauberhand bewegt.