Acht Kisten
Das Haus stank und als der Pfarrer den Flur entlang ging, erkannte er den Geruch als etwas, dass er in seinem Beruf weitaus häufiger roch, als ihm lieb war. Den Geruch des nahenden Todes. Eine seltsame Ruhe breitete sich in seinem Innern aus und er verzog das Gesicht, halb verwundert, halb angeekelt.
Die alte Frau stand an der letzten geöffneten Tür im Flur. Während der Pfarrer auf sie zuging bekreuzigte sich die Frau und als sie mit dem Finger ihre Stirn berührte, glaubte er fast, die uralte, pergamentartige Haut rascheln zu hören. Sie hielt ihm eine Hand mit arthritisgekrümmten Fingern entgegen und ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, was den Pfarrer, ob der Traurigkeit, die darin lag, beinahe laut hätte aufschlurzen lassen. Der Pfarrer ergriff die Hand der müden, alten Frau und sagte flüsternd: "Es tut mir leid, dass ich nicht mehr für ihn tun kann"
"Er ist alt, machen sie es ihm leicht", erwiderte sie in gleicher Lautstärke. "Dritte Tür links", setzte sie mit versagender Stimme hinzu. Der Pfarrer ließ die Hand los und setzte sich in Bewegung. An der dritten Tür links, hinter der wieder nur völlige Stille darauf wartete ihn zu verschlucken machte er halt und klopfte. Als das Klopfen unbeantwortet blieb, öffnete er die Tür. Der Alte sah schlimm aus. Das Leben war fast vollkommen aus ihm entwichen, sein Gesicht war eingefallen und bleich bis auf die hektischen Flecken auf seinen faltigen Wangen und die restlichen Konturen seines Körpers waren unter der Decke kaum zu erkennen, so dürr mußte er sein. Das schlohweiße, dünne Haar bedeckte nicht einmal mehr die Hälfte seiner leberfleckigen Kopfhaut. Der Pfarrer erschauderte, ohne sich etwas anmerken zu lassen und versuchte, so viel Wärme, wie nur möglich in seinen Blick zu legen. Konnte der Mann ihn überhaupt erkennen? Er wusste es nicht, aber er hoffte, dass dieser seine Wärme spüren würde. Der Pfarrer ging ans Bett des Alten und setzte sich auf die Kante.
"Ich bin hier, um dir die letzte Ölung zu geben, mein Sohn", sagte er mit fester, aber keineswegs geschäftsmäßiger Stimme.
Der Alte schlug die Augen auf. Die Angst, die in dem Blick mitschwang, den er dem Pfarrer zuwarf, raubte diesem nahezu den Atem. Der Pfarrer wusste, dass die Angst vor dem Tod nichts Ungewöhnliches war, nicht einmal bei alten Leuten, die sich mit dem Lebensende schon abgefunden hatten. Die Angst jedoch, die in den Augen dieses Fossils aufglomm hatte nichts mit der Angst vor dem eigenen Ableben zu tun, vielmehr sprach aus dem Augen des alten maßlose Furcht vor dem Jenseits. Er mußte glauben, dass ihn nach dem Tod etwas Grausames ereilen würde. Der Pfarrer war sich nun sicher, dass der alte Mann ihn hatte kommen lassen um zu beichten.
"Was bedrückt dich in diesen, deinen letzten Stunden, mein Sohn?", fragte der Pfarrer und griff nach der Hand des Alten, sah ihm aufmunternd in die Augen.
"Ich war nur dabei", sagte dieser mit brüchiger, ängstlicher Stimme, " ich wollte nicht, dass es so kommt, dass das alles passiert!"
Er bäumte sich in seiner Schlafstätte auf, rang mit sich und sank wieder in die Kissen zurück, die so groß und weich waren, dass sein Kopf darin zu verschwinden schien. Das Profil seines Gesichtes erhob sich -wie die untergehende Sonne über den Horizont- nur schwach über die Konturen seines Kissens und seine fahle Haut schimmerte im Schein der Nachttischlampe kränklich, fast gelb.
"Wir waren zu fünft", setzte er merklich zögernd an, "ich und vier Arbeitskollegen bei einer großen Transportfirma, für die ich damals gearbeitet habe. Damals...", seine Augen glitzerten von Tränen, die er bisher erfolgreich zurückhielt.
"Was geschah in dieser Firma, was haben sie und ihre Arbeitskollegen getan?", fragte der Pfarrer und der alte zuckte zusammen, als wäre er geschlagen worden.
"Ich habe nichts getan!", stammelte er und zog sich weiter in die Daunen zurück, wie in ein Schneckenhaus, "Irgendwann sind die vier zu mir gekommen. Wir hatten uns immer gut verstanden, aber an diesem Abend erzählten sie mir, sie wüßten, was es mit meinen Artztattesten auf sich hatte. Ich bat den Herrn um Vergebung für diesen Betrug an meinem Arbeitgeber! Ich hatte Angst um meinen Job! Und dann haben sie mir diesen Vorschlag gemacht und gesagt sie würden Stillschweigen bewahren, wenn ich mitmachte!", der Alte bekam einen heftigen Hustenanfall. Es war furchtbar zu sehen, wie der Husten dieses dürre Schattenwesen schüttelte und in seinem Bett herumwarf. Der Pfarrer holte tief Luft und sah den alten Mann erwartungsvoll an.
"Sie haben gesagt, dass sie Kisten stehlen wollten. Wertvolle Kisten. Vergessene Kisten. Wir waren damals noch naiv genug, zu glauben, das selbst wertvolle Dinge von Zeit zu Zeit vergessen werden und diese Kisten hatten schon jahrelang in der entlegensten Ecke einer Lagerhalle herumgestanden. Wir waren eben jung. Wir waren Narren!", Der Alte nahm einen Schluck Wasser, verzog beim Schlucken das Gesicht und fuhr fort: " Sie hatten den Deckel einiger Kisten aufgebrochen und darin uralte Flaschen gefunden. Teure Weine und Schnäpse erlesenster Jahrgänge, die wirklich unglaublich gut erhalten waren. Keine hatte man damals für unter 5000 Mark verkaufen wollen. Es waren sieben Kisten, viele teure Flaschen also und wie schon gesagt war ich jung. Ich sagte ja." Nun zitterte der Alte doch seine Stimme war fest, er schien entschlossen, sich endlich alles von der Seele zu reden. "Wir holten die Kisten schon bei der nächsten Nachtschicht, stapelten sie in einen Lieferwagen, den einer der vier besorgt hatte. Ich war als Fahrer eingeteilt und wartete mit laufendem Motor auf die Ladung. Dann stiegen die anderen in den Wagen. 'Wir haben noch 'ne Zigarrenkiste gefunden, hinter den anderen, macht also acht Kisten nicht sieben.', sagte einer von ihnen zu mir. Sie hatten die letzte, die kleine Kiste noch nicht geöffnet, sagten sie würden das lieber im Versteck tun, also fuhr ich sie hin", hektisch streiften die Augen des Alten die des Pfarrers, die Worte sprudelten nur so aus ihm hervor. "Als wir beim Versteck waren, stiegen sie wieder alle aus. Ich hörte, wie sie die Kisten ausluden, doch plötzlich machten sie ungewöhnlichen Lärm. Nach ein paar Sekunden herrschte jedoch Totenstille, und ich stieg aus, um nach dem rechten zu sehen. Eine Hand lugte hinter dem Hinterreifen hervor und ich zwang mich weiterzugehen, obwohl mein Herz hämmerte wie nie zuvor. Als ich die Rückseite des Lastwagens sah, hätte ich am liebsten geschrien, doch der Schrei war zu gewaltig, um durch meine Kehle zu passen. Alle waren tot, ihre Glieder waren zum Teil abgerissen, manche aber mit grausam präzisen Schnitten abgetrennt, Ihre Augen waren gebrochen und in ihnen spiegelte sich eine Qual wider, die bar meiner Vorstellungskraft lag. Ihre Münder waren zu Schreien unermeßlicher Pein gefroren, die sie nicht mehr hatten ausstoßen können, weil sie vorher tot gewesen waren! Ihr Blut war überall verspritzt worden, eine riesige Pfütze davon war auf dem Boden hinter der Ladefläche des LKW, aus ihren zerquetschten Schädeln drang Gehirnmasse und mischte mit diesem furchtbaren See aus Blut, in dem einzelne Haut- und Fleischfetzen herumschwammen", der Alte war nun fast wahnsinnig vor Angst, und seine Augen starrten ins Leere . Er krallte sich an den Pfarrer und dieser roch den Film aus kaltem Schweiß, der die Haut dieses unglückseligen Wesens benetzte.
"Ich stand einfach nur da, dabei wollte ich laufen, bis meine Beine nur noch blutige Stümpfe gewesen wären, aber etwas hielt mich mit Gewalt fest. Die hintere Doppeltür zur Ladefläche des Lasters öffnete sich langsam, im Hintergrund konnte ich die sieben Kisten stehen sehen. Dem Lastwagen entstieg ein Ding, das ein Mensch hätte sein können, wäre es nicht so völlig konturlos und irgendwie unscharf gewesen. Ein bißchen sah es aus wie eine ungewöhnlich dichte, sich ständig verformende Rauchwolke, doch es war schwarz, so vollkommen schwarz! Es hatte inzwischen jede Ähnlichkeit mit einem Menschen verloren und es bewegte sich direkt auf mich zu. Dann lichtete sich der schwarze Rauch an einer Stelle, ungefähr in der Mitte dieser schattenhaften Erscheinung und gab eine Zigarrenkiste frei. Acht Kisten, nicht sieben, schoß es mir durch den Kopf und ich hörte drei Worte, die wie aus dem Nichts an mein Ohr drangen: "Bewahr das auf!". Plötzlich schlossen sich meine Hände um die Zigarrenkiste, die erstaunlich schwer war für ihre geringe Größe. Als ich aufsah war der Rauch verschwunden, ich hörte, wie der Motor des Lastwagens gestartet wurde und im nächsten Moment fuhr er los, ließ mich im Blut meiner Arbeitskollegen einfach stehen. Zehn Minuten hat es mindestens gedauert, bis ich die Kraft hatte endlich loszulaufen. Zu Hause angekommen versteckte ich die Kiste und nie habe ich einer Menschenseele davon erzählt, was an diesem Abend vorgefallen ist." Nun brach der Alte in Tränen aus und der Pfarrer hielt ihn im Arm.
"Wird Gott mir vergeben Vater?", fragte er schluchzend. Der Pfarrer drückte den Alten etwas fester und sagte: "Alles, mein Sohn. Alles wird dir vergeben sein."
Der Pfarrer ließ das Haus hinter sich, der alte Mann war lächelnd eingeschlafen. Seine Gesichtszüge waren, wie zum ersten Mal seit Jahren, völlig entspannt gewesen. Der Pfarrer hatte das Kreuz über ihn geschlagen und ihn dem Himmelreich übergeben. Nun brannte seine rechte Manteltasche und fühlte sich schwer an von der Last, die er dem alten Mann abgenommen hatte. Seine Hände fuhren am Stoff seines Mantels hinunter und schlossen sich um die Form einer Zigarrenkiste, doch kaum hatte er sie berührt zuckte er zurück, wie von einem elektrischen Schlag getroffen. Während er das tat hatten sich seine Beine ohne sein Zutun zum Rheinufer bewegt, und jetzt, da er am Geländer stand und dem Wasser beim fließen zusah, nahm er das Paket aus der Tasche und drehte es in seinen Händen. "Ich muß sie loswerden!" sagte er zum Rhein. Dieser Antwortete mit gleichgültigem Rauschen. Dann hörte er noch eine zweite Antwort, obwohl niemand in der Nähe war, der die Worte hätte aussprechen können: "Komm mit mir". Die Stimme klang, gebieterisch, doch kaum menschlich, eher so, als würde sie aus der tiefsten Schwärze, der tiefsten Dunkelheit von einem Wesen ausgehen, das nur unscharf zu erkennen war, vielleicht ein wenig aussehen mochte, wie eine ungewöhnlich dichte, schwarze Rauchwolke.
Das Rauschen des Rheins wurde durch ein Platschen unterbrochen. Eine Zigarrenkiste trieb langsam den Stromverlauf entlang Rheinabwärts. Der Pfarrer war mit ihr.