Aleas jactas sunt
Hier stehe ich nun im großen Saal. Die riesigen, mit bunten, vermutlich aus dem Sachsenspiegel oder aus einem anderen Buch längst vergangener Zeiten entnommenen Motive, verzierten Fenster lassen zwar Sonnenlicht herein, erlauben jedoch keinen Blick nach draußen. Ich kann sie nicht sehen, da ich mit dem Rücken zu ihnen stehe. Die Wände sind hoch und mit hellem Holz verkleidet, was ein trügerisches Gefühl der Freundlichkeit und Harmlosigkeit vermittelt. Links von mir, hinter einem länglichen Pult, fast einer Tafel gleichend, „thronen“ die hohen Herren mit finsterer Mine. Mir gegenüber starren acht Herrschaften, in zwei Sitzreihen hintereinander angeordnet, gebannt in Richtung der hohen Herren, von denen einer sich erhoben hat und seine Rede verliest. Ihm gegenüber sitzt das Publikum, aufgeregt und kopfschüttelnd lauschend. Das ganze wirkt wie ein schlichtes Theaterspiel, und ich bin sein Hauptakteur, nur, dass es kein Theaterspiel ist.
„Schuldig!“ ertönt eine sonore Stimme. Ja, ich bin schuldig. Ich habe es getan. Es gibt kein zurück. Ich weiß, dass es falsch war. Doch nun ist es zu spät. Ja, ich bin schuldig! Beschämt, vielleicht auch reuig, starre ich auf den Fußboden. Ich traue mich nicht, meinen Kopf zu erheben. Ich spüre förmlich, wie alle Blicke auf mich gerichtet sind – bedauernd, beobachtend, ob nicht doch irgendeine Regung in meinem Gesicht zu erkennen ist, verachtend, beschuldigend, sensationsgeil. Nein, ich werde nicht meinen Kopf erheben, ich werde euch nicht erlauben, irgendetwas in meinem Gesicht zu lesen, etwas hineinzuinterpretieren, was ihr sehen wollt. Ich fühle mich, als würde ich nackt und angekettet auf einem Marktplatz des Mittelalters stehen. Ich habe doch alles zugegeben. Was wollt ihr noch von mir? Dass ich auf die Knie falle und um Vergebung flehe?
Ich schließe meine Augen, als ob ich mich dadurch an einen anderen Platz bringen könnte. An einen Platz, wo mich keiner kennt, wo ich für mich alleine bin, wo mich keine vorwurfsvollen Blicke quälen, wo ich noch einmal von vorne beginne kann. Aber alles, was ich sehe, ist eine große Blutlache. Darin liegt sie. Wie konnte das nur passieren?! Es hat mich einfach überkommen. Dabei habe ich ihr hundertmal gesagt, sie solle mich nicht provozieren. Und jetzt ist es passiert! Ich spüre noch förmlich, wie meine Faust auf ihrem Körper auftritt, ich kann hören wie ihre Knochen unter der Wucht der Schläge knacken. Es kam mir vor wie in einem Blutrausch. Ich glaube, ich bekam sogar eine Erektion. Aber es war falsch, es war grausam, es war geil!
Ja, ich bin schuldig! Ich spüre die Blicke meiner Eltern auf mir, wie mein Vater fassungslos den Kopf schüttelt, meine Mutter ihr tränenbenetztes Gesicht in ihre Hände vergräbt. Ich sehe ihre Eltern, die mit steinerner Mine das ganze Schauspiel verfolgen. Und ich sehe sie, zwei Krücken neben ihr an der Bank gelehnt, ein Auge halb zu geschwollen, und wie sie dennoch mit ihrem vergebenden und mitleidigem Blick zu mir herüberblickt, als wolle sie mich trösten. Wie ich das hasse! Wie ich mich hasse! Warum kann sie mich nicht hassen, sondern muss mir alles vergeben? Und dafür hasse ich sie!
Ich bin bereit. Ich bin bereit, das Urteil zu empfangen. Mir ist jedes recht. Ich will nur weg von hier. Weg von den Heiligen, weg von Verurteilenden, weg von den Vergebenden, weg von den Spannern, weg von euch allen.
Ein bitteres Lächeln huscht über meine Lippen, als ich endlich meine, von mir selbst so ersehnte, Strafe vernehme. Drei Jahre unbedingte Haft. Das ist alles? Aber ich glaube, keine Strafe der Welt hätte mich zufrieden stellen können. Es hat keine Bedeutung für mich. Es kommt mir alles so unerträglich weltlich vor. Ich bin euch überlegen. Ihr wisst es nur noch nicht.
Der Justizwachebeamte legt mir die Handschellen an und führt mich am „Publikum“ vorbei zur Türe Richtung meines neuen Heims. Jetzt – jetzt hebe ich zum ersten Mal meinen Kopf, um trotzig in die Fratzen der scheinheiligen Lämmer zu blicken. Doch ich schaue ins Leere. Es ist niemand gekommen.