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Alexandra
Vor zwei Jahren hatte ich mal eine Freundin, Alexandra, ich weiß noch, dass ich gedacht habe, der Name passt mal gar nicht. Bei Alexandra stellt man sich was Massives vor und sie war eher ein Kätzchen. Lief immer ein bisschen geduckt durch die Welt und wenn sie sich irgendwo hinsetzte, dann kuschelte sie sich auch gleich ein, begab sich in eine Position, halb liegend, halb kauernd, die viel angenehmer aussah, als sie eigentlich hätte sein dürfen. So eine Fähigkeit, sich selbst ein Eckchen in der Welt zu schaffen. Den Platz, den man einnimmt, sofort zu okkupieren und eine Höhle zu bauen, eine behagliche Höhle um sich selbst herum, ein transportables Höhlennest, das man mit sich trägt. Alexandra war eine Einkuschlerin, wenn man so will.
Sie konnte sich in einen Bus setzen, voll bepackt mit grölenden Fußballfans und sich einkuscheln. Sie hatte den Kokon schon fertig gewebt, noch bevor ich mich daneben gesetzt hatte; da lag sie schon, hatte ihre Hände gefaltet, sie an die verschlierte Scheibe gedrückt, die Beine halb in ihre Höhle hineingezogen, zu sich hoch, und geruht. Geschlafen hat sie nie. Man konnte noch mit ihr reden, aber ihre Antworten kamen wie in Zeitlupe. „Ganz schön laut hier“, hab ich gesagt. Und sie hat ihre Nase gerümpft, ihre kleine Kätzchennase, und gesagt: „Geht schon.“
Einmal sind wir Aufzug gefahren in einem großen Möbelhaus, wir haben eingekauft, um zusammenzuziehen. Und sie hat sich, so wahr ich hier stehe, in die Ecke des Fahrstuhls gelehnt, den Kopf wie eine Schildkröte eingezogen, die Augen geschlossen und geruht. Ihre Atmung wurde sanft und leise wie Rauschen in den schneebedeckten Wipfeln der Schlummerlandwalde.
Wenn sie kochte, nutzte sie jedes Zeitfenster, das sich ihr bot, um mit der Anrichte zu verschmelzen. Links und rechts des Herdes ruhten die Hände. Die Augen und der Kopf, die Nase und der Oberkörper: All das ruhte wie im Dampfbad über den brodelnden Kesseln. Mit halb offenen Augen sah sie in den Ozean der Töpfe.
Ich hab sie nie darauf angesprochen, nicht als wir uns kennenlernten, nicht als wir miteinander ausgingen, nicht als sie das erste Mal für mich kochte und nicht einmal als wir in dem Möbelhaus waren. Ich dachte, es wäre eben ihr Makel, ihre kleine Macke. Warum sonst sollte ich eine so schöne Frau bekommen? Womit hätte ich mir das verdient? Und gewöhnliche Schönheiten gibt es nicht. Du kannst nicht deine Traumfrau haben und dann ist sie wie Lieschen Müller. Irgendetwas Exzentrisches, leicht Wahnsinniges muss sie haben.
Bis zur ersten Nacht: Wir hatten nur die Matratze, das Bett ließ noch auf sich warten. Freitag sollte es kommen oder Dienstag nächster Woche. Wir liebten uns auf der Matratze. Zärtlich, aber nicht lange. Ich bekam einen Krampf in der linken Wade und sie muss es bemerkt haben.
„Du trinkst zu wenig“, sagte sie, so als wäre nichts passiert, so als hätten wir schon tausende Male miteinander geschlafen. „Die Anstrengung vom vielen Schleppen, das war eine blöde Idee.“ Sie lächelte sanft. „Schlaf jetzt“, sagte sie. „Träum was Schönes, du wirst schon sehen“, und dabei massierte sie mir meine linke Wade.
Als ich nachts aufwachte, mit trockenem Mund, Geräusche hörte, die ich nicht kannte, denn die Wohnung war ja neu, da saß sie neben mir, die Augen auf mich gerichtet und fragte: „Brauchst du etwas? Soll ich dir etwas holen?“ Sie legte mir eine Hand auf die Stirn und ich schlief ein.
Mein Unterbewusstsein - wie einprogrammiert. Ich wachte nachts auf, um zwei, um drei, um vier. Sie saß neben mir, sie war draußen auf dem Balkon, sie war nicht im Zimmer. Überall war sie, nur nicht in Morpheus Armen, nicht bei mir.
Wenn wir zusammen fernsahen, auf der neuen Couch, gähnte ich markerschütternd, Clarence dem Löwen hätte es alle Ehre gemacht. Ich gähnte, streckte mich, schrie die Müdigkeit eines ereignislosen Tages in die Weiten des Wohnzimmers hinaus. Doch sie: Die Augen halb geschlossen, kein Anzeichen einer Müdigkeit, die über ihre übliche hinausginge. Nur ein leichtes Nicken, so als wären wir uns auf dem Treppenhaus der Schläfrigkeit kurz begegnet und während sie in ihrem Stockwerk verharrte, ging es für mich nach unten. Weg von ihr.
Wir schliefen einmal in der Küche miteinander, im Stehen, ich war hinter ihr, berührte ihre Brüste mit beiden Händen, hielt sie fest und liebte sie so leidenschaftlich wie ich nur konnte. Meine Hüfte tat weh, so heftig stieß ich sie. Und oh ja, sie war bereit, stöhnte kehlig, machte alles richtig, schloss sich um mich, als hätte sie dafür einen speziellen Mechanismus. Schrie und tobte unter meinen Lenden und doch, ich sah es in der Spiegelscheibe des Gewürzschranks, während sie sich ihre Haare mit einer Hand zurückwarf, eine wilde Geste, da gähnte sie. Alexandra gähnte.
Ich zerkaute Baldrian-Wurzeln und gab ihr Zungenküsse, sie beschwerte sich über den bitteren Geschmack. Ich muss zugeben, dies war ohnehin eine dämliche Idee. Aber ich war ja noch neu in dieser ganzen Geschichte. Ich versuchte es mit einem Kamillentee, danach mit Melissen. Keine Reaktion.
In der nächsten Nacht tat ich ihr Valium in den Tee. Sie musste nicht einmal gähnen. Tranquilizier bleiben wirkungslos, von Ambien bekam sie einen Ausschlag, von Tryptophan Durchfall. „Mein Immunsystem muss wohl verrückt spielen“, sagte sie, nachdem sie vom Klo runter war.
„Das ist der Feinstaub“, nuschelte ich und überlegte, wie an Barbiturate zu kommen war.
Letztendlich sollte sie das Thiopental dann umhauen. Zum Glück, viel weiter hätte ich nicht gewusst. Chloroform noch, aber na ja.
Sie klappte über dem Küchentisch zusammen, als wären dem flauschigen Duracell-Häschen endlich die Batterien ausgegangen. Ich hob sie hoch und trug sie über die Schwelle, ihr Kopf hing schlaff an meinem Arm herunter, ihre Lider zuckten sacht. Sie schlief. Kein Zweifel. Nur die Schuhe zog ich uns aus, bevor ich mit ihr ins Bett stieg. Ihren Arm drapierte ich über meine Brust, kuschelte mich mit der Nase an die Stelle unter ihrem Ohr, wo sie nach Tannenzapfen roch. Ich schloss die Augen und flüsterte: „Hallo. Da bist du ja.“
Sie schreit, ihr Oberkörper zuckt hoch wie ein Klappmesser. Sie reißt ihre Augen auf, sie funkeln kohlgrubenschwarz, ein weißer Kugelblitz irisiert irgendwo in der Iris. „Was hast du getan?“, schreit sie. „Was hast du nur getan?“
Dann fällt sie wieder zurück und mir wird klar, dass ich schlafe. Ein Traum. Das Kätzchen schläft, hat sich heute mal keine Ecke in der Welt geschaffen, sondern schläft in einem Bett, nachts, bei dem Mann, den sie liebt. So wie es sich gehört.
Das Kätzchen tippelt vor mir durch den Korridor ohne Türen. Ein alter Korridor, braune Blümchentapete an den Wänden. Das Kätzchen wackelt mit seinem Po und miaut: „Ich bin deine Eitelkeit. Schau mich an. Wackel, Wackel.“
„Hast du meine Freundin gesehen?“, frage ich.
Sie schaut träge über ihre Katzenschulter, leckt sich mit der Zunge erst über das linke, dann über das rechte Auge, würdigt mich aber keiner Antwort, tippelt einfach weiter.
Wir halten vor einem Uhrengeschäft, die Katze und ich. Sie drückt sich am Schaufenster die Nase platt und leckt mit ihrer Zunge daran. Ich sehe das, weil ich im Geschäft bin und vor einer alten Frau stehe, die eine goldene Taschenuhr zu reparieren versucht. Sie hat Messer und Gabel und zirkelt Spaghetti zusammen. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragt sie mich.
„Nein“, sage ich. „Ich träume nur, da drüben ist meine Eitelkeit. Lassen Sie uns so tun, als würden wir über sie reden. Das wird sie ärgern.“
Aber die alte Frau senkt ihren Kopf und dreht weiter ihre Spaghetti-Kordel mit Zahnrädern. Ich rede einfach auf sie ein, achte darauf, dass ich mit ausholenden Bewegungen in die Richtung des Schaufensters zeige. Mache Katzengrimassen und deute ein Miauen an. Die Katze fährt ihre Krallen aus und schneidet Kreise in das Schaufenster.
Ich sitze mir selbst gegenüber, aber der andere sieht besser aus. Wie in einem auf alt getrimmten Film. Ich glaube sogar, er hat Hosenträger an und einen Kummerbund. Er raucht filterlose Zigaretten und greift sich ins matt glimmende Haar. Er hat Papiere vor sich und ein verschmitztes Lächeln, eins, das man gerne selbst hätte und um das man den besten Freund immer beneidet hat. So ein buddhistisches Grundsicherheits-Lächeln, das man hat, wenn man weiß: Da ist jemand, der mich auffängt. Hier ist meine Gefängnisfreikarte. Ich hab noch was auf dem Konto.
Er sagt: „Da hast du dich ja in eine schöne Scheiße reingeritten.“
„Uns“, sage ich.
„Nee“, meint er und lächelt sein Lächeln. „Nur dich.“
Ich falle. Papiere fliegen an mir vorbei, es ist, als fiele ich in einen Brunnen, oben sehe ich ihn noch am Brunnenrand. Er hält die Katze wie ein Baby hoch, damit sie mir zusehen kann.
Aber je tiefer ich falle, desto näher komme ich den beiden, desto größer werden sie.
„Ist sie da oben?“, frage ich. Mein Nacken tut weh, ich starre auf die Spitze des Dachs einer alten Kirche. So alt, dass man den Schindeln beim modern zuriechen kann.
„Ist sie da oben?“, frage ich. „Dort wo früher der Wetterhahn war? Kannst du dir da oben dein Fleckchen machen?“
Nein, kannst du nicht. Du bist nicht Schneewittchen, du heißt Alexandra.
Ich bin wieder in meinem Zimmer. Meine Fingerspitzen sind taub, meine Nase und meine Zehen. Sie liegt neben mir, ein schwarzes Ding hockt auf ihrem Brustkorb. Nein, nicht schwarz. Schatten. Ein Schatten hockt auf ihrem Brustkorb, ist mit ihrem Gesicht verschmolzen, wie eine Beatmungsmaske, nur umgekehrt.
„Ich rette dich“, höre ich mich sagen. „Das ist ein Alb, ich habe davon gelesen, im Zuge der Rechtschreibreform.“
„Fütter mich“, sagt die schwarze Katze. „Ich war immer für dich da.“ Mit ihren Pfoten scharrt sie und ein kleiner Haufen Sägespäne hat sich schon hinter ihr gebildet.
„Hm“, mache ich und schaue hoch in die funkelnde Sonne. Ein Turnierplatz. Aber die Tribünen sind leer.
„Na, dann eben nicht“, sagt die Katze.
Ein roter Ritter galoppiert auf mich zu, an seiner Lanze flattern grüne Wipfel, ich werfe mich zur Seite, Hufgetrappel neben meinem Ohr, so laut, dass es kein Traum mehr sein kann. Sägespäne fliegen in meine Augen, der Ritter wendet sein Ross, mein Bauch tut weh, ich muss ihn mir aufgeschürft haben.
Meine Lippe schmeckt komisch, meine Zähne haben sich in sie gebohrt wie Dolche. Ich knie nieder in den Staub der gefallenen Krieger. „Ich geb ja schon auf“, sage ich. „Ich hab keine Chance. Ich hab verloren und du hast gewonnen.“
Der Ritter reitet auf mich zu, jagt sein Ross hoch, die Vorderläufe sind über meinem Kopf, ich kann die Hufeisen sehen, den Schweiß des Pferdes riechen, aber die Vorderhufe fallen nicht, das Pferd tänzelt auf seinen Hinterbeinen zurück. Der rote Ritter greift mit einer Panzerhand zum Visier und ich sehe das Gesicht der Katze darunter. „Kapitulation akzeptiert“, sagt sie.
Als ich aufwachte, war das Bett neben mir leer.