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Alices Restaurant
Für Katzano
„Nun heißt es Abschied nehmen“, sagte der Bauer und griff nach der Axt.
„Heute schon?“, fragte das Huhn und scharrte mit den Füßen. Kleine Staubflocken tanzten im Licht der Sonne. Versonnen hob der Bauer die Axt und prüfte die Schärfe der Klinge mit dem Daumen seiner linken Hand. Blut tropfte auf das Stroh, färbte es rot.
„Je länger wir warten...“, fing der Bauer an.
„Ich weiß“, sagte das Huhn. „Aber ich habe Angst.“
„Du musst keine Angst haben“, sagte der Bauer. „Wie sonst sollen wir unseren Traum verwirklichen?“
„Du hast sicher Recht“, antwortete das Huhn. „Aber immerhin - sie ist deine Frau.“
Vier Glockenschläge und ein Gemetzel später wischte der Bauer sich den Schweiß von der Stirn. Die Küche sah aus wie Sau.
„Apropos“, sagte das Huhn, „wir sollten mit dem Schwein reden.“
„Schon da“, grunzte das Schwein. „Oh Mann, wie sieht’s denn hier aus?“
„Dabei haben wir sie schon filetiert“, stöhnte der Bauer.
„Und eingefroren“, ergänzte das Huhn.
„Was soll mit dem Rest geschehen?“, fragte das Schwein und zeigte mit seiner Schnauze auf die verstreut in der Küche herumliegenden Knochen.
Der Bauer zog einen Stuhl heran, setzte sich an den Küchentisch und zündete sich eine Zigarette an.
„Was machst du?“ Aufgeregt flatterte das Huhn durch die Küche und landete auf dem Tisch. „Du darfst hier nicht rauchen.“
„Wer soll mir das jetzt noch verbieten? Sie?“, fragte der Bauer und zeigte dabei mit der Zigarette auf den Küchenboden. Ein Stück Asche bröselte auf den Boden und verglühte zischend in einer Blutlache.
„Was sollen wir mit den Knochen machen?“, wiederholte das Schwein, das den Disput aus zusammengekniffenen Äuglein verfolgt hatte.
„Ich vergrabe sie nachher auf dem Acker“, sagte der Bauer, nachdem er einen tiefen Zug an der Zigarette genommen und sie dann auf dem Fußboden ausgetreten hatte.
Ein Winter und ein Frühjahr später, die eingefrorenen Filetstücke waren der Heilsarmee gespendet und längst gegessen, war wieder Ruhe eingekehrt auf dem Hof des Bauern. Das Huhn hatte durch die wochenlange Befragung des Dorfpolizisten Federn gelassen, ohne jedoch allzu viel zu gackern. Irgendwann schien der Polizist es aufgegeben zu haben, denn so plötzlich wie er aufgetaucht war, war er wieder verschwunden. Auch die nachfolgenden Kriminalbeamten zeigten nicht allzu viel Interesse an der verschwundenen Bäuerin, kaum einer ließ sich öfter als zwei, drei Mal auf dem Hof sehen. Nun werkelte das Huhn wie jeden Tag in der Küche, kümmerte sich um Suppen, Aufläufe und Gemüsefondues, während der Bauer einen morschen Balken im Heuschober austauschte. Mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht betrachtete er das Ergebnis seiner Bemühungen, drehte sich um und blieb erschrocken stehen. Im Torbogen, im Strahlenkranz der untergehenden Sonne, stand das Schwein, mit einem Knochen in der Schnauze. Einem großen Knochen.
„Was ist das? Woher kommt das?“, fragte der Bauer, nachdem er sich von seinem Schreck erholt hatte.
„Pfom Pfld“, sagte das Schwein.
„Woher?“
Mit einem deutlich vernehmbaren Plopp spuckte das Schwein den Knochen aus.
„Vom Feld.“
„Doch nicht von dem Feld?“
„Doch, genau. Vom Knochenacker.“
„Hast du etwa nach Trüffeln...?“, fing der Bauer an, doch das Schwein unterbrach ihn abrupt.
„Ich habe nicht nach Trüffeln. Glaubst du, ich leide an Rinderwahnsinn? Diesem Acker gehe ich geflissentlich aus dem Weg, das weißt du.“
„Aber du hast doch gesagt...“
„Ich sagte, dass ich den Knochen auf dem Feld gefunden habe – nicht, dass ich danach gegraben hätte. Er war ja nicht zu übersehen, der Knochen. Nebenbei: Er war nicht der einzige Knochen, den es nach oben getrieben hat.“
Wenige Minuten und einen Schweißausbruch später standen sie auf dem Acker und besahen sich gemeinsam die Bescherung. Wie das Schwein richtig bemerkt hatte, waren die seltsamen Früchte des Ackers nicht zu übersehen. Knochen allüberall, Knochen, so weit das Auge blickte. Kleine Knochen, große Knochen, hier ein Fingerknöchelchen, dort ein Kieferknochen, daneben Unterarm- und Oberschenkelknochen. Einige lagen auf dem Boden, andere strebten himmelwärts. Direkt vor ihren Füßen schienen sich mehrere Knochen miteinander zu verbinden, während sie mit leisem Knirschen nach oben strebten.
„Die können unmöglich alle von ihr sein“, seufzte der Bauer. „Was sollen wir nur tun?“
„Vielleicht hat sie sich in der feuchten Erde vermehrt?“
„Pauline? Vermehrt? Niemals!“
„Und dennoch, sie sehen sich sehr ähnlich, diese Knochen“, sagte das Schwein.
„Es ist mir egal, ob sie sich ähnlich sehen, es ist mir egal, von wem die Knochen sind. Sie müssen weg.“
„Nicht jetzt, lass uns heute Nacht wiederkommen“, schlug das Schwein vor. „Und kein Wort zu dem Huhn. Es macht uns sonst die Flatter.“
„Und die Gäste?“
„Und die Gäste?“, fragte das Huhn. „Wir haben das Restaurant eröffnet, um Gäste zu bewirten, nicht, um es nach drei Monaten wieder zu schließen. Dafür musste unter anderem deine Frau...“ Ohne den Satz zu beenden, drehte sich das Huhn zu einer leise vor sich hinblubbernden Gemüsebrühe. Der Bauer und das Schwein saßen sich am Küchentisch gegenüber und schauten sich fragend an.
„Wir wollen ja nicht schließen“, sagte das Schwein schließlich.
„Was meinst du mit unter anderem?“, fragte der Bauer.
„Zumindest nicht lange“, fuhr das Schwein fort. „Nur zwei, drei Tage.“
„Warum müssen wir überhaupt schließen?“, fragte das Huhn und rührte weiter die Suppe um.
„Warum? Gute Frage. Sag du es ihm“, sagte das Schwein.
„Weil wir uns die nächsten Tage nicht um das Restaurant kümmern können, das Schwein und ich. Wir müssen noch etwas Dringendes erledigen. Wir können noch nicht darüber reden. Was meinst du mit unter anderem?“
„Ihr seid zwei Geheimniskrämer“, sagte das Huhn. „Aber gut, ich habe auch meine Geheimnisse. Unter anderem. Möchte jemand Suppe?“
Eine Gemüsesuppe und mehrere Aquavit später trafen sich der Bauer und das Schwein auf dem Acker. Im Licht des Vollmonds glänzten die Knochen wie poliertes Elfenbein.
„Und nun?“, fragte das Schwein.
„Einsammeln. Was sonst? Und dann verbrenne ich das ganze Zeug. Das hätte ich gleich machen sollen.“
Vorsorglich hatten sie eine Schubkarre mitgebracht, den sie nach und nach füllten.
„Ein Knochenjob“, stöhnte der Bauer.
„Jammer nicht, schließlich war es deine Idee“, grunzte das Schwein.
„Was ist das?“, rief der Bauer und schwenkte einen Knochen durch die Nacht.
„Eine Elle, wenn mich nicht alles täuscht“, sagte das Schwein nach einem flüchtigen Blick auf den Knochen.
„Vergiss den Knochen.“ Der Bauer flüsterte nur noch. „Ich meine das Treiben dort hinten.“
Langsam richtete das Schwein sich auf und blickte in die Richtung, in die der Bauer zeigte.
„Da scheint noch jemand unterwegs zu sein.“ Das Schwein flüsterte ebenfalls. „Wir sollten machen, dass wir wegkommen.“
„Und die Schubkarre? Und die Knochen?“
„Dann können wir nur hoffen, dass der Typ uns nicht bemerkt.“
Sie duckten sich in eine Ackerfurche.
„Was ist da los? Kannst du etwas erkennen?“, fragte der Bauer nach einer Weile.
„Sieht aus, als würde jemand etwas Schweres hinter sich herziehen. Dummerweise genau in unsere Richtung.“
„Tja, das ist schlecht für ihn“, sagte der Bauer und griff nach einem Oberschenkelknochen.
„Du willst doch nicht...?“
„Was denn sonst? Hast du eine bessere Idee?“
„Du kannst doch nicht jeden, der uns stört, umbringen. Wo soll das denn hinführen?“
„Was heißt hier jeden? Bis jetzt liegt hier nur Pauline. Und die war selbst Schuld.“
„Was macht ihr denn hier?“, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihnen.
Erschrocken drehte der Bauer sich um und sah sich vor dem gelben Gesicht des Vollmondes einem lebenden Leichnam gegenüber, einem Boten des Todes, der mit dürren Fingern anklagend auf ihn zeigte. Der Knochen entglitt seinen kraftlos gewordenen Fingern, er griff sich an die Brust und kippte hintenüber.
Eine Schrecksekunde und mehrere Stoßseufzer später buddelte das Schwein ein Loch in die feuchte Erde, während das Huhn sein federloses Haupt in stiller Verzweiflung schüttelte und der Bauer noch immer dort lag, wo es ihn hingehauen hatte.
„Wieso nur, wieso?“, murmelte das Huhn in einem fort.
„Wer konnte denn ahnen, dass du mitten in der Nacht hier herumgeisterst, um Reste zu entsorgen. Von wem sind die überhaupt?“, sagte das Schwein und zeigte auf den Kartoffelsack, auf dem das Huhn saß.
„Von diesen und jenen. Ich glaube, ein Polizist ist dabei und ein, zwei Gäste. Die Namen habe ich mir nicht gemerkt.“
„Ein, zwei Gäste? Bist du übergeschnappt?“
„Die hatten sich über meine Kartoffelcremesuppe beschwert. Jetzt können sie sich die Knollen von unten betrachten.“
„Das trägt nicht unbedingt zum Renommee unseres Restaurants bei, wenn wir bei Beschwerden so radikal reagieren.“
„Was machen wir mit dem Bauern?“, fragte das Huhn, um von dem Thema abzulenken.
„Was glaubst du, für wen ich das Loch hier grabe?“
Einige Minuten später war es so weit, das Schwein hatte tief genug gebuddelt, um den Bauern zu beerdigen. Gemeinsam zogen sie die Leiche in das Grab, gemeinsam schaufelten sie das Loch wieder zu.
„Geschafft“, sagte das Schwein, „für heute habe ich die Schnauze voll.“ Es grunzte noch einmal, dann ging es Richtung Restaurant davon.
„Nun heißt es Abschied nehmen“, murmelte das Huhn nach einer Weile und folgte dem Schwein.