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Alkohol
ALKOHOL
Ich saß vor dem leeren Blatt. Heute gab es was zu feiern. Mir fiel nichts ein. Auf diesen Tag hatte ich mich lange gefreut. Wenn ich wenigstens die Einleitung hinkriegen könnte. Seit einem Jahr trocken, seit einem Jahr kein Alkohol. Seit einem Jahr nichts Gutes mehr geschrieben. Herzlichen Glückwunsch.
Ich starrte auf die weiße Fläche vor mir und nippte an meiner Diät-Cola. Es kam mir nichts in den Sinn, es war furchtbar. Ich wrang mein trockenes Hirn aus, aber es kamen nur Tröpfchen heraus, kein stetiger Strahl wie früher. Ein feuchtes Hirn schreibt besser, einfach, weil es besser geschmiert ist, es läuft und läuft und läuft; man muss sich keine großen Gedanken machen, nein, die Gedanken machen sich von ganz allein, das ist schönes Arbeiten, fein.
Ich hatte eine Schreibblockade. Viele große Dichter litten unter Schreibblockaden. Was taten sie dagegen? Trinken. Bukowski: Alkoholiker. Hemingway: Alkoholiker. William Faulkner, Tennessee Williams, Dylan Thomas: alle Alkoholiker. Man kann sagen, ich befände mich in guter Gesellschaft. Wollte ich diesem Club beitreten?
Hätte ich bloß nicht angefangen. Hätte ich bloß nicht angefangen aufzuhören. Jetzt war es zu spät, jetzt war die Unschuld verloren, ich war fürs Trinken versaut. Wenn ich jetzt wieder trinken würde, wüsste ich genau, worauf ich mich einließ, ich konnte mich nicht mehr rausreden. Ich wollte nicht trinken, weil ich besser schreiben wollte, nein, ich wollte trinken, weil ich trinken wollte. Ein Teil von mir wusste das. Ein anderer Teil wollte unbedingt schreiben, gut schreiben, und das ging mit einem Glas Rotwein einfach besser, es löste den Knoten in der Brust, machte leichter, fliegend. Welten trennten mich von der Frau, die ohne Arg ihre Flasche aufmachte, die sich ein Glas eingoss und glaubte, dass es ihr zustand! Sie hatte hart gearbeitet am Tag, würde weiter arbeiten in der Nacht, so konnte sie sich doch etwas gönnen, sie hatte es verdient! Welcher Spielverderber machte ihr ihren Feierabend kaputt, machte den einzigen Augenblick des Tages kaputt, wo sie endlich, endlich entspannen durfte, die Angst wegtrinken konnte. Den ganzen Tag freute sie sich auf diesen Moment, sie brauchte es! Es war doch so einfach.
Aber jetzt war ich trocken. Mein einziges Laster die Zigaretten, von denen ich nicht los kam. Und die Schokolade, die mich fetter und fetter machte. Und Antidepressiva, von denen ich faul und träge wurde, die mich am frühen Abend ins Bett schickten, weil ich einfach nicht mehr wach bleiben konnte, die Zeit, die ich sonst geschrieben hätte, verbrachte ich alpträumend in den Federn. Die Zeiten waren vorbei, in denen ich am Tag zehn, fünfzehn Seiten geschrieben hatte, gutes Zeug, ehrliches Zeug. Jetzt schaffte ich an guten Tagen drei, vier Seiten, und der Kram gefiel mir nicht. Ich wusste nicht, woran es lag. Als wäre ich ein anderer Mensch. Ein Durchschnittstyp, langweilig, austauschbar. Gift für einen Schriftsteller. Aber ich war trocken.
Mit gutem Grund, sicher, ich wusste es nicht mehr genau, es war schon so lange her ... Warum hatte ich aufgehört? Ja, es gab da Vorfälle, Ereignisse, peinliche Momente, aber es war so lange her, dass ich es nicht mehr spüren konnte, das Gefühl für meine dunkle Seite war tot.
Es klingelte an der Tür. Ich erwartete niemanden. Mühsam erhob ich mich von meinem Stuhl, in dem ich mich wie festgeklebt fühlte, und schlurfte zur Wohnungstür.
„Überraschung!“ rief es von unten. Ich erkannte die Stimme; Sam von den Anonymen Alkoholikern. Was zum Teufel, dachte ich. Schon hörte ich seine Schritte im Treppenhaus. Ich wohnte im vierten Stock, aber nach ein paar Sekunden war Sam oben und präsentierte mir einen kleinen Blumenstrauß.
„Für deinen ersten Trockengeburtstag,“ sagte er und drückte mir die Blumen und eine Schachtel Pralinen, alkoholfrei, in die Hand. Ich betrachtete die beiden Fremdkörper und erinnerte mich, dass ich mich bedanken muss, obwohl ich keine Lust auf Besuch hatte. Ich bat Sam herein in meine Wohnung, die viel zu klein und auf Besuch nicht ausgerichtet zu sein schien, denn jeder Gast wirkte wie ein Eindringling. Plötzlich schämte ich mich für meine Wohnung, sie war winzig und unaufgeräumt. Behäbig quetschte sich Sam durch meinen kleinen dunklen Flur und betrat das Wohnzimmer, das gleichzeitig Arbeitszimmer war und entsprechend chaotisch aussah mit Büchern, Zeitschriften und Manuskriptseiten auf dem roten Teppich. Ich wurde nervös. Nichts hätte ich lieber gehabt als einen Drink in diesem Moment. Sam schob einige Bücher auf meiner Couch zur Seite und ließ sich bullig nieder, er brauchte die Hälfte vom Dreisitzer-Sofa. Es war kein Platz mehr für mich, so musste ich stehen oder auf dem Bürostuhl Platz nehmen. Ich bot ihm Tee an, er wollte Kaffee, und ich ging in die Küche, um die Getränke fertig zu machen, ihm seinen Kaffee aus Instantpulver, schon abgelaufen, und mir noch eine Diät-Cola.
Ich kannte Sam seit meinem ersten Treffen der Anonymen Alkoholiker, er war derjenige, der mich zuerst angesprochen und die Regeln des AA-Meetings erklärt hatte. Er erzählte mir von den zwölf Schritten und von den Wortbeiträgen; dass man denjenigen, der das Wort hatte, nicht unterbrechen sollte; jeder durfte erzählen, was und wie lange er wollte, es ging streng demokratisch zu, und man musste nicht sprechen, wenn man nicht wollte, das gefiel mir am besten. Viele von den Mitgliedern waren schon trocken, manche mussten es noch werden. Sie durften trotzdem teilnehmen, solange sie während der Sitzung keinen Alkohol tranken. Viele hatten wieder und wieder Rückfälle. Aber alle blieben dran, alle versuchten es, und das war die Hauptsache: fallen und wieder aufstehen. Viele nächtliche Telefonate hatte ich mit Sam und anderen geführt, nur um den Druck loszuwerden, dieses penetrante Müssen, Trinken-Müssen, Reden-Müssen, Denken-Müssen. Hauptsache abgelenkt.
Ich war eine derjenigen, denen es leicht gefallen war, trocken zu werden. Es war keine große Sache, ich hatte keine Entzugserscheinungen, nur das morgendliche Zittern fiel weg, was mir gut in den Kram passte.
Aber das war vielleicht die große Gefahr: dass es mir leicht gefallen war. So war es leicht, wieder anzufangen, denn Aufhören war ja so einfach.
Meine Diät-Cola wurde langsam warm. Wenn ich noch trinken würde, hätte ich mir jetzt einen großen Gin Tonic gemixt, mit viel eiskaltem Gin; die Eiswürfel würden klirren in meinem Glas und ein einsames Minzblättchen würde auf der Oberfläche dekorativ vor sich her trudeln.
„Und wie fühlt man sich als Einjährige?“ fragte Sam.
„Trocken,“ sagte ich. „Nüchtern. Das Leben ist nüchtern.“ Mir fehlte der Rausch. Aber konnte ich das einem nach eigenen Aussagen langjährig trockenen Alkoholiker gegenüber zugeben? Erst recht, würden die AA-Freunde jetzt sagen. – Ich schwieg.
„Kann ich mal deine Toilette benutzen?“ fragte Sam, nachdem er das Instantkaffee-Gebräu gekostet hatte. Ich wies auf die linke Tür im Flur.
Als er weg war, warf ich einen Blick auf die Pralinen. War da wirklich kein Alkohol drin?
Leider? Zum Glück? Ich wusste es nicht mehr.
Sam brauchte lange im Bad. Ich nahm die Blumen und kümmerte mich in der Küche um eine Vase. Es waren kleine gelbe Blüten an langen Stielen, und Schleierkraut, das erkannte sogar ich, es sah hübsch aus, ich stellte den Strauß in einen hohen Glaskrug und platzierte ihn am Fenster. Ich kaufte mir nie Blumen, ich fand es traurig, sie sterben zu sehen. Flores para los muertos. Dann durchsuchte ich den Kühlschrank nach etwas schnell Konsumierbarem wie ich früher nach Schnapsresten gesucht hatte. Ich fand eine Milchschnitte und zog die Folie ab. Langsam löste ich mit der Zunge die obere Kekslage und knabberte sie bis nach unten ab, so dass ich eine Schnitte mit nur noch einer Kekslage und der köstlichen Milchschicht hatte; ich liebte diese Milchschicht und wollte sie so pur wie irgend möglich genießen. Gleichzeitig horchte ich in Richtung Badezimmer. Stille. Ihm war doch hoffentlich nichts passiert? Ich klopfe lieber mal an, dachte ich mir, oder doch nicht? Was war, wenn Sam, die Badezimmertür ging nach innen auf, einen Herzinfarkt hatte und die Tür blockierte, wie sollte ich da rein kommen?
Ich setzte alles und klopfte an die Tür.
„Sam? Alles in Ordnung?“
Keine Antwort.
„Ich komm jetzt rein. Wenn du nackt bist oder so, sag nicht, ich hätte dich vorher nicht gewarnt.“
Ich drückte die Tür auf, es ging ganz leicht. Sam saß auf dem Badewannenrand und saugte gierig an einem Flachmann. Ein leerer lag schon auf den Kacheln. Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Ich rührte mich nicht vom Fleck, ich fühlte mich wie ein Jäger, der mit seinem letzten Schuss im Gewehr einem ausgehungerten Löwen gegenüber steht, gelähmt vor Angst, voller Adrenalinstoß. Ich wollte auch. Wieso durfte er das und ich nicht?
„Sam, mach doch keine Dummheiten,“ sagte ich, ein halbherziger Versuch. Wie viel war noch in der Flasche? Sie sah fast voll aus.
„Ich habe nichts geschafft,“ murmelte er. „Ich habe immer so getan, als ob. Ich komme einfach nicht davon weg, Ivy, ich weiß nicht mehr weiter. Ich dachte, du verstehst mich ... Die ganze Zeit habe ich alle angelogen.“
„Sam, gib mir die Pulle, du hast genug jetzt.“ Warum er, warum hier und heute? Aber: Zum Trinken braucht man keinen Grund. Man trinkt nicht, weil man pleite ist, die Freundin einen verlassen hat oder der Job futsch ist: Man trinkt, weil man trinken will. Ich hab lange gebraucht, um das zu begreifen.
Es hieß nicht umsonst: Alkohol ist schlau und listig, er fällt dich dann an, wenn du dich am sichersten fühlst. Wenn du denkst, du hast’n, springt er aus’m Kasten.
Sam trank weiter, als hinge sein Leben davon ab. Ich bekam feuchte Hände. Ich wand ihm die Flasche aus der Hand und schickte mich an, den Schnaps ins Klo zu kippen, er sprang auf und biss mir ins Handgelenk, die Flasche fiel, zerbrach, fertig.
„WARUM HAST DU DAS GEMACHT?“ schrie ich ihn an und rieb meine Rechte. Der gute Schnaps ...
„Willst du wirklich einen Rückfall haben? Denk doch an AA, an die Freunde, die alle an dich glauben! Du hilfst so vielen, Sam!“ Hatte ich Bargeld im Haus?
Er hockte da wie ein narkotisiertes Schwein, nicht ansprechbar, Tränen liefen ihm übers Gesicht, die Haare hingen in fettigen Strähnen über der Stirn. Sein Oberkörper bebte, während seine Beine in einem merkwürdigen Winkel verdreht vom Rumpf abstanden, seine Absätze hatten dunkle Farbstriemen auf dem weißen Kachelboden hinterlassen.
Ich stand auf und ging in die Küche. Dann telefonierte ich.
„Ich hätte gern eine Pizza Margarita und drei Flaschen Chianti. So schnell wie möglich. Eilservice? Ja gern. Kostet mehr? Macht nichts. Danke.“
Dann kam die Pizza. Ich gab dem Pizzajungen ein anständiges Trinkgeld und schloss die Tür. So ging ich ins Bad und sah Sam immer noch da hocken.
„Ich hab uns was zu Essen bestellt,“ sagte ich.
„Ich hab dir deinen Trockengeburtstag versaut,“ jammerte er. „Es tut mir so leid!“ Damit fing er wieder an zu weinen. „Ich bin ein schlechter Mensch ...“
Das reichte mir, das war schwer zu ertragen, ein Besoffener, der einem Nüchternen was vorwinselte, eine schlechte Kombination.
Ich entkorkte die erste Weinflasche. Mann, was für ein Gefühl, das ging mir unter die Haut, der Moment, als der Korken aus der Flasche ploppte, der erste Weinduft, der aus der Flasche aufstieg, die angenehme Schwere der Flasche, die verriet, dass sie noch voll war ... Was für ein Leben hatte ich da aufgegeben! Ich schüttete mir Wein in meinen Zahnputzbecher und prostete Sam zu. Ich trank auf Hem und Buk und all die anderen, die immer wieder dieselben Fehler machten.
„Trocken sind wir morgen!“ erklärte ich und goss den Alkohol hinunter.
Ist ja ganz einfach, dachte ich, überhaupt kein Problem, kein Donnerschlag und Blitze, die den schwarzen Himmel durchzuckten, nein, nur ein Schluck nach dem nächsten, das konnte jedes Kind, das verlernt man nicht. Hier war ich also, wieder zurück auf der Weltbühne der Eitelkeiten und Selbstüberschätzung. Mit jedem Schluck ein Schritt weg von dem, was ich mir vor einem Jahr vorgenommen, von mir erwartet hatte, ein Schritt zu auf das Mädchen, das kotzend in der Küche lag in seiner eigenen Pisse, aber im Moment, da war es noch fein, das konnte nicht so schwer sein, ganz gesittet ein Glas Wein trinken wie andere Menschen auch, und war ich nicht ein Mensch? Dann musste ich das auch können, trinken und irgendwann aufhören, wie andere Menschen auch. Im Moment war es Lebensart, so machte ich mir vor. Mit einem Freund mitten in den Scherben des ersten Schnapses zu sitzen, billigen Wein zu trinken und die Pizza kalt werden zu lassen – ich erinnerte mich, so war das Leben früher oft. Es endete meistens mit einem Streit, mit nächtlichen Ferngesprächen, mit dem totalen Black Out. Mit großem Schriftstellertum hatte das wenig zu tun. Und es begann am nächsten Tag aufs Neue ...
Jetzt stehe ich wieder ganz am Anfang. Meine nüchternen Tage, die ich auf meinem Trocken-Konto angesammelt hatte, sind verfallen, ich muss wieder von vorne anfangen, Kredit gibt es nicht, die Banker sind da gnadenlos. Zumindest habe ich eine zweite Chance.
Hallo, mein Name ist Ivy, ich bin Alkoholikerin.