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Alleine sieht man immer mehr (Gefühlvolle Schilderung)
Tim war froh, auf dem Heimweg endlich alleine zu sein. Den ganzen Morgen mit seinen bescheuerten Klassenkameraden zu verbringen, rang ihm, wie immer, viel Geduld ab. Wie freute er sich auf seinen Kater Piefke, der einfach immer nur da war und nichts von einem wollte, außer ein paar Streicheleinheiten, die er dann mit behaglichem Schnurren kommentierte. Mit ein paar Ausnahmen mochte Tim Tiere lieber als Menschen.
Lehmige, frische Erde in großen und kleinen Klumpen, manche schon wie Fladen breitgetreten, säumten eine längere Strecke hinweg den Gehweg der belebten Einkaufsstraße, die er in sich versunken entlang ging. Einige Schritte weiter saugte eine schmale Baustelleneinfahrt zwischen zwei restaurierten Jugendstilhäusern die Spuren auf.
Seine Schuhe waren lehmverschmiert und zu allem Unmut bemerkte er auch noch, dass ein Schnürsenkel offen war. Er setzte sich auf den niedrigen Mauervorsprung unterhalb des Schaufensters einer chemischen Reinigung. Ein scharfer Geruch, der direkt unter ihm aus dem Kellergitter entwich, kroch seine Nase hoch und ließ ihn herzhaft niesen.
Während er in sein Taschentuch schnäuzte, entdeckte er auf der gegenüberliegenden Straßenseite dicht am Bürgersteig auf einem Autostellplatz eine Katze, die an einem Kanaldeckel herumkratzte. Sie war ein großes Tier mit grauem wuscheligem Angorafell, ganz anders als Piefke, dessen Fell glänzend glatt und fuchsrot war. Es schien so, als würde ihr auffallend buschiger Schwanz mit den Pendelbewegungen den Asphalt fegen, so angespannt wirkte sie. Sie beobachtete etwas, das wohl in eine der Spalten des Deckels verschwunden war. Der Verkehr auf dieser Hauptdurchgangsstraße war beachtlich, so war immer wieder sekundenlang der Blick auf diese Szene durch Fahrzeuge verdeckt.
Tim beobachtete gespannt das Geschehen und vergaß dabei, die Schuhe zu binden.
Lange würde sie nicht mehr vor ihrer Beute ausharren können, das wusste er, denn die Parkplätze in dieser Straße waren sehr begehrt. Er nahm sich vor, abzuwarten und überlegte sich, in welche Richtung sie wohl flüchten würde.
Es dauerte auch nicht lange. Ein Paketdiensttransporter fuhr mit Karacho auf die Lücke zu.
Was ... ? Tim spürte einen Schlag auf Herz und Lungen. Er schnappte nach Luft. Die Katze war wohl zu sehr in ihre Jagd vertieft. Sie entschwand weder nach links noch nach rechts. Er wollte einen warnenden Schrei loslassen, damit sie erschrecken und wegrennen würde. Doch nur ein klägliches, leises Krächzen kam aus seinem Hals. Der Fahrer schien sie nicht zu bemerken und lenkte den Transporter flott in einem Rutsch halbschräg in die Lücke; die Zeit zum korrekten Parken wollte er wohl einsparen.
Welch ein Glück für die Katze, dachte sich Tim, hätte er seinen Lieferwagen ordentlich abgestellt, wäre sie vielleicht unter sein Rad gekommen. Er entspannte sich. Aber nur für kurze Zeit, denn ihr wurde es wohl zu langweilig, noch länger an dem Deckel auszuharren.
Sie wählte nicht den Weg nach links oder rechts, sondern kam direkt auf Tim zu. Starr vor Angst beobachtete er die vielen Autos, die nach der Rotphase der Ampel wieder anfuhren. Ein dicker, dunkelblauer Mercedes beschleunigte rapide und kam mit überhöhter Geschwindigkeit auf die Katze zu. Sie rettete sich auf die andere Fahrbahn. Tim sprang auf und atmete tief aus. Aber die Gefahr war noch nicht vorüber. Ihm war es schlecht vor Angst um das Tier. „Bitte komm heil hier rüber“, flüsterte er vor sich hin, während er am Gehsteigrand unruhig hin und her tippelte. Unaufhörlich knetete er seine Hände. „Komm, das schafft du.“ Sie hatte nun den größten Teil der Straße überquert.
Ein weiteres Auto kam angefahren, so dass Tim ihr nicht helfen konnte. Sie blickte dem Fahrzeug entgegen und rührte sich nicht. „Komm hier rüber“, rief er entsetzt. Wieso starrte sie denn auf das Fahrzeug und flüchtete nicht? Die Frau am Steuer fuhr unvermindert weiter, ihr Blick auf den Rückspiegel gerichtet, zupfte sie an den Haaren herum. Sie konnte so nicht an dem grauen Wuschel vorbeilenken oder die Bremspedale durchdrücken, sondern erfasste die Katze mit der vollen Breite des rechten Vorderreifens.
Tim hörte einen kurzen, schrillen Schrei, hörte Knochen knacken und sah verstört dem Auto hinterher.
„Oh Gott, die Katze!“ rief eine Frau mit hoher Stimme, die plötzlich neben ihm stand. Sie rannte schnurstracks auf die Fahrbahn, ohne auf den nachfolgenden Verkehr zu achten. Die beiden Seiten ihres offenen, langen hellen Mantels wehten wie Fahnen im auffrischenden Wind. Tim kniff die Augen zusammen und drehte sich langsam um. So konnte er die Mieze nicht ansehen, zermalmt und mit Blut durchtränkt. Ein saurer Geruch kam aus seinem Magen hoch, er bekam einen Hustenanfall. Es würgte ihn.
Die Frau sieht aus wie ein Engel, der angeflogen kommt. Sicher kümmert sie sich um sie, dachte Tim, und hastete los, um schnell nach Hause zu Piefke zu kommen.