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Aller Anfang ist schwer
Ich bin ein Nachtmensch. Das ist in meiner Lebensrealität eine schwere Bürde. Diese Veranlagung passt so gar nicht in unsere durchgetaktete, verplante und koordinierte Welt.
So kommt es, dass ich ein Doppelleben führe. Am Tag der Berater, der Trainer, der Coach, in der Nacht der Kreative, der Träumer, der Schreiber. Am Abend vom Tag erschöpft, in der Früh von der Nacht aufgezehrt. Unter Tage kleine Nickerchen, in den Nachtstunden kurze Schlummerzeiten.
Ich stehe von der Couch auf, ziehe mir die Trainingsjacke an und schleppe mich im Dunklen und noch halb blind in mein Bad. Das Licht blendet mich, als ich es einschalte. Mit zusammengekniffenen Augen drehe ich den Wasserhahn auf und schmeiße mir eine Ladung lauwarmes Wasser ins Gesicht, dann noch eine zweite und schließlich noch eine dritte Ladung. Erst dann wage ich einen ersten Blick in den Spiegel. Ein verbrauchter Mittfünfziger mit kurzen Haaren, weißen Bartstoppeln und tiefen Falten auf der Stirn starrt mich an. Ich scanne mein Gesicht, ist da noch eine Falte dazugekommen? Ich gehe näher ran und berühre die Stelle vorsichtig. Tatsächlich, ein weiterer Krähenfuß fräst sich unaufhaltsam in meine Haut. Lachfalten sollen das sein, sagt man, aber natürlich ist das nicht so, zumindest nicht ausschließlich. Körperliche Anstrengung, blendendes Licht, große Schmerzen, all das verursacht, dass wir unser Gesicht verziehen, es in Falten legen, es kurzfristig entstellen, während diese kleinen Mistkerle sich in der ausgetrockneten und unflexibel gewordenen alten Haut verewigen. Gott sei Dank, habe ich wenigstens Augenringe. Sie kaschieren meine Falten unter den Augen ganz ausgezeichnet. Ich nehme mein altes Gesicht resignierend und achselzuckend zur Kenntnis, beende meine Waschung und bewege mich aus dem Badezimmer heraus zur nächsten Station meiner Wanderung, der Küche.
Ein fast unhörbares Klicken im Dunklen und schon geht das Licht an. Schön gereiht stehen sie da, die vier Glaskrüge mit dem Fassungsvermögen von jeweils einem Liter. An jedem dieser Krüge sind drei Teebeutel mit der Schnur am Henkel befestigt. Die Beutel selbst ruhen in dem inzwischen handwarmen Wasser, das sich irgendwo zwischen dunkelbraun und schwarz eingefärbt hat. Schwarzer Tee mit Süßstoff, meine Überlebensration für die nächsten Stunden in dieser Nacht. Eigentlich sollte man davon ausgehen, dass ich durch den Konsum von so viel Tee einen Blutdruck habe, der kurz davorsteht, meinen Schädel in Hunderte unappetitliche Teile zu zerfetzen. Aber nichts, rein gar nichts passiert. Mein Blutdruck bleibt davon völlig unbeeindruckt und manchmal frage ich mich, ob das irgendwas zu bedeuten hat. Ist der Tee vielleicht ein Verschnitt mit billigem, geschmacklosem Grünzeug oder ist mein Körper so kaputt, dass er nicht darauf reagieren kann? Ich werde es wohl nie erfahren. Wie immer verzichte ich auch heute auf ein Essen in der Nacht, denn es würde mich nur müde machen und ich brauche alle Konzentration für meine schriftstellerische Tätigkeit.
Ich schnappe mir die Krüge an ihre Henkel, zwei in die linke Hand, zwei in die rechte und mache mich auf dem Weg ins Wohnzimmer, vorbei an meiner Couch in Richtung meines überdimensionalen Schreibtisches. Nach wie vor ist es hier stockdunkel, während die Lampe in der Küche dort freilich alles wunderbar erhellt. Ich überlege und komme zu dem Schluss, dass mit vier Krügen in meinen Händen eine Veränderung der aktuellen Lichtsituation ganz offensichtlich nicht möglich ist und ferner beschließe ich, dass das so bleiben wird, bis ich an meinem Ziel angekommen bin und endlich die Schreibtischlampe angemacht habe. Aber solche, nicht vollständig durchdachten Entschlüsse, können durchaus unangenehme Folgen haben und sollten tunlichst vermieden werden, wie mir meine kleine Zehe des rechten Fußes eben mitteilt, die ich mit allem Schwung in meinen Sitzhocker vor dem Schreibtisch gerammt habe. Schmerzverzerrt, fluchend und hinkend gehe ich weiter, während ich irgendwo im Hinterkopf darüber nachdenke, wo wohl der nächste Krähenfuß in meinem Gesicht auftauchen wird, nach dieser wirklich dämlichen Aktion von mir. Nur drei Schritte weiter und schon war ich am Ziel meiner Wünsche. Vorsichtig abstellen, die Schreibtischlampe anschalten und nochmals raus zur Küche, um meine Tasse zu holen und das Licht auszumachen. Hmmm, wenn ich sowieso ein zweites Mal raus musste, warum habe ich dann nicht …? Mit einem Kopfschütteln, noch immer humpelnd und mit einem gemurmelten „Was soll ’s“ verlasse ich wieder die Küche.
Endlich sitze ich am Tisch, schalte den Computer ein und warte darauf, dass der Startbildschirm angezeigt wird. Währenddessen trinke ich die erste Portion meines lauwarmen Tees und erledige die Post vom Vortag. Rechnung, Rechnung, Mahnung, Werbung, Rechnung. Die Werbung schmeiße ich weg, das andere Zeug staple ich zu einem Haufen, die Mahnung an oberster Stelle. Ich packe das ganze Bündel, um den Mist in die Briefablage zu legen, merke aber, dass dort der Platz schon reichlich rar geworden war. Egal, ich will, ich muss und ich werde jetzt schreiben. Noch eine Portion Tee und langsam komme ich aus dem Halbschlafmodus heraus und spüre ein zartes, fast unscheinbares Erstarken meines Körpers. Nicht zu früh wie mir scheint denn mein treuer Begleiter, mein Freund mit der kalten Nase, mein Trost in der Finsternis steht hechelnd vor mir. Der Mundgeruch meines Schäferhundes ist definit ekelerregend dafür aber sind seine Zähne strahlend weiß. Ich denke eifersüchtig daran, während ich ihm in dem Arm nehme und wir inniglich schmusen, dass er mit einer Beißkraft von rund 240 Pfund per Quadratzoll praktisch jeden menschlichen Knochen zermalmen kann und das dass praktisch das Gegenteil von meinen Zähnen ist, mit denen ich mich schon wie ein mörderisches Tier fühle, wenn ich eine Soletti zerbeiße, ohne dass sie dabei Schaden nehmen. Aber wie auch immer, offensichtlich von der lautstarken Beschreibung meines Unglücks aufgeweckt, wankt er aus dem Wohnzimmer heraus und geht unbeirrbar auf die Ausgangstüre zu. Ein Blick aus dem Fenster heraus und ich sehe, wie dort kleine Wassertropfen auf dem Glas aufschlagen, sich mit anderen Tropfen vereinen um gemeinsam als kleiner Rinnsal herunterzulaufen. Hunderte kleiner Rinnsale, wie mir scheint, tun das gerade. Fein, es wird immer besser. Ich seufze leise vor mich hin und gehe dabei völlig unmotiviert in das Vorzimmer, rüste mich mit Schuhen, Trenchcoat und Hut aus, schnappe die Leine und schloss dann sanft die Eingangstüre hinter uns.
„Es regnet in Strömen“, bringt es nicht annähernd auf den Punkt und während ich meinem Hund folge, überlege alternative Ausdrucksweisen. „Sintflutartig“ ist zu altbacken, „Wolkenbruch“ zu abgegriffen und „Starkregen“ zu wenig aussagekräftig. Schließlich treffe ich die Entscheidung, den Begriff des „Monsunregens“ für mich zu verwenden. Mit Sicherheit war das, was da gerade runterkam, genauso stark, aber im Gegensatz zum Original schien dieser hier noch längere Zeit anhalten zu wollen. Während ich spüre, wie die Wassertropfen von meinem Gesicht über die Schulter, den Rücken hinunter und den Beinen entlang direkt in meine Schuhe wanderten, versuchte ich mich daran zu erinnern, was der Typ aus dem Fernsehen dazu gesagt hatte. Was war das doch gleich? Ach ja, er sagte es würde vermehrt zu Extremwetterereignissen aufgrund des Klimawandels kommen. Na, das hat ja nicht lange gedauert, denke ich so nebenbei und stampfe weiter meinen Hund hinterher, dem der Regen überhaupt nichts auszumachen schien. Wir Menschen sind Idioten. Nicht ein Einzelner natürlich, aber alle zusammen, sozusagen als Spezies, sind wir nichts anderes als ignorante, auf den eigenen Vorteil bedachte Schwachköpfe. Wir denken, wir würden diese Welt beherrschen, aber tatsächlich ist jeder Hund besser an die Natur angepasst als wir. Sie wird uns einfach abschütteln „unsere Welt“, so wie mein Hund einen lästigen Floh abschüttelt, der die Berechtigung zur Mitreise verloren hat. Das ist alles, mehr nicht. Bald werden es auch die Letzten verstanden haben, aber ich hoffe, dass es bis dahin nicht schon zu spät sein wird. Ich schüttle den Kopf. Nein, jetzt nur keine negativen Gedanken, dass hilft dir beim Schreiben nicht ein Stück.
Inzwischen war ich bis auf die Unterhose vollständig nass, erkannte aber, dass es durchaus Vorteile hat, wenn man so vollständig durchnässt ist. Noch mehr ist dann keinesfalls möglich. Mir ist trotz der Nässe nicht kalt und so gehe ich weiter meinem Hund hinterher, der sich anschickt, eine große, ich meine eine wirklich große Runde zu gehen. Zwei Stunden und viele Gedankensplitter später, auf den letzten Metern zum meinen Wohnhaus, erleichtert er sich endlich. Überaus stolz blickt er mich an, als wollte er mir damit zeigen, was er mit Herrchen machen kann, wenn er zu unangemessener Stunde von seiner Schimpftirade aufgeweckt wird. „Ich hab’s kapiert“, sage ich zu ihm und nehme mir vor, den Transport des Tees zukünftig besser zu planen, während ich von fern die Sirenen der Feuerwehr höre. Vollgelaufene Keller, denke ich, während ich die rutschigen Schlüssel vorsichtig in die Eingangstüre stecke.
Zu Hause entledigt sich mein Hund seiner Nässe größtenteils durch ausgiebiges Schütteln, während ich kriechend versuche, das überschüssige Wasser von Boden und Wänden wieder zu entfernen. Nachdem ich ihn umfangreich abfrottiert habe, gehe ich selbst ins Badezimmer und versuche dasselbe mit mir. Ich bemerkte dabei, dass mein weißer Schnauzbart, mein ganzer Stolz, irgendwie seine Spannung verloren hatte und traurig über meine Lippen herunterhing. Auch schon egal!
Drei Stunden nachdem ich die Wohnungstüre hinter mir zugemacht hatte, mache ich es mir zum zweiten Mal, in einem völlig neuen Trainingsanzug auf meinem Bürosessel richtig bequem, lege meine Beine auf den Hocker unter dem Tisch und trinke eine weitere Tasse Tee. Er hat natürlich Zimmertemperatur aber er bringt mich doch schluckweise wieder in den Schreibmodus. Ich öffne meine Textverarbeitungssoftware, starre auf ein leeres digitales Blatt und warte, was da so über mich kommen würde. Tausende von Gedanken rasen mir durch den Kopf, sinnvolle, aber auch weniger sinnvolle, schlaue, aber auch weniger schlaue, innovative, aber auch weniger innovative und nichts davon, wer hätte es gedacht, sprach mich wirklich an. Dennoch bin ich fest entschlossen, zumindest eine Kurzgeschichte in die Tastatur zu hämmern. Ich wurde jetzt schon Stunden aufgehalten, habe meinen körperlichen Verfall betrachtet, mir eine verstauchte Zehe beigebracht, einen von mir genervten Hund ausgeführt und anschließend die Wohnung und mich mühsam wieder trockengelegt. Das kann doch nicht alles umsonst gewesen sein, oder? Ich lege meinen Kopf in die Hände und warte. Und dann plötzlich war es soweit. Ich grinse unkontrolliert und strecke meinen Kopf wieder in die Höhe. Dann richte ich mich vollständig auf, atme noch einmal tief durch und tippe den Titel meiner Kurzgeschichte auf das digitale Blatt: „Aller Anfang ist schwer.“
Ich strecke meine Finger gegeneinander, so dass sie laut krachen und lege dann wie ein besessener los:
„Ich bin ein Nachtmensch. Das ist in meiner Lebensrealität eine schwere Bürde. Diese Veranlagung passt so gar nicht in unsere durchgetaktete, verplante und koordinierte Welt.“ …