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Alles ist gut
Es war ein seltsames Gefühl von Leichtigkeit, das sich allmählich in mir ausbreitete. Der bohrende Schmerz, an den ich mich schon fast gewöhnt hatte, weil ich ihn schon so lange, so stetig ertragen musste, war auch verschwunden, und ich begann zu steigen, schwebte durch den Raum mit seinen tickenden und piependen Maschinen, schwerelos, mühelos, ohne eigenen Antrieb.
„Bin ich tot?“, fragte ich, und eine Stimme, unbekannt woher, antwortete:
„Nein, du bist nicht tot“.
Ich verband kein Gefühl mit der Erkenntnis, keine Angst, keine Erleichterung, höchstens eine Art von Erstaunen, weil ich diesen Zustand nicht begreifen konnte. Doch auch dies berührte mich nicht wirklich. Ich fühlte mich seltsam gedämpft, wie früher schon einmal mit bestimmten Medikamenten, und dazu dieses unwirkliche Schweben, durch Türen, Wände, an Menschen vorbei, von diesen unbemerkt.
Ich bewegte mich nicht mit Anstrengung, ahnte, dass es einem Ziel zuging, doch ich wurde mehr dorthin gezogen, als dass ich aktiv etwas tat. Und plötzlich war ich in diesem grauen Zimmer, spürte die Geschwindigkeit wie in einem Aufzug, und Bilder erfüllten den ganzen Raum, wechselten sich ab wie Blitze, so dass ich nichts erkennen, nichts begreifen konnte. Eine Weile sah ich nur das Flackern, dann wurde alles langsamer, ruhiger, und wie nach überstandenen Stromschnellen trug mich jetzt eine sanftere Strömung mit sich, bis auch diese verebbte, und ich, trockenen Fußes, auf einem kleinen Teppich stand, in einem Zimmerchen mit rosa Wänden und schwerem Weihrauch in der Luft. Eine Gestalt saß vor mir, mit gekreuzten Beinen und vielen Schleiern, einen Goldreif im Haar. Nur langsam schien sie sich aus einer Starre zu lösen, dort anzukommen, und schließlich fasste sie den Schleier, der ihr Gesicht verdeckte, und zog ihn langsam über ihren Kopf hinweg. Ich blickte in ihr Gesicht, das mir so wohlbekannt und doch so fremd, so weit entfernt erschien in ihrem Ernst. Doch dann lächelte sie; auch ein Lächeln, das ich nie an ihr gekannt hatte, mit einer Wärme, die aus Kraft und Autorität erwuchs. Doch ihre Stärke war nicht erdrückend; sie war einfach da, es musste so sein, es war.
„Du hast mich gerufen?“, fragte ich, doch sie schüttelte den Kopf und sagte:
„Nein, du hast mich gerufen!“
„Und warum bin ich jetzt hier?“
„Dies ist der Ort, an dem wir uns treffen konnten, Mutter.“
Diese Anrede erschien mir so unangebracht, hier, in diesem Raum, bei diesem Treffen. Eher hätte ich, die alternde Frau, mich vor ihr gebeugt, sie „Priesterin“ genannt oder „Fürstin“, denn so sah ich sie in diesem Augenblick und nicht als Tochter, die ich mit meinem Leib geboren hatte. Doch sie erhob sich, nahm mich in die Arme, und diese Nähe war so angenehm und genau das, wonach ich mich immer schon gesehnt hatte. Vorbei war der Kampf, diese ewige Anstrengung, der immer wiederkehrende Schmerz; alles war ausgesetzt für dieses Treffen, was sonst zwischen ihr und mir gestanden und eine wahre Begegnung unmöglich gemacht hatte.
Auch ich umfasste sanft ihren Körper, strich sachte über ihren Rücken, küsste ihre Stirn – und Tränen lösten sich aus meinen Augen, die jahrelange Starre schmolz, löste sich auf. Keins der Gefühle, die mich sonst beherrschten wie Ärger, Schuld, Aufbegehren konnten mich jetzt erreichen. Ein Wissen, wie aus einer anderen Dimension, gab mir Antwort auf meine ach so oft gestellten Fragen, und ein tiefes Verstehen erfüllte mich.
Wir setzten uns auf die Kissen am Boden, und kein Gedanke sagte mir, wie unschicklich dies für eine Frau in meinem Alter sei und dass ich wahrhaftig etwas anderes verdient hätte. Sie brachte Tee, und wir kauten wohlschmeckende Gewürze aus einem Schälchen, und ich fürchtete nicht um die Ritzen in meinem Gebiss. Auch der Weihrauch reizte meine Lungen nicht, ließ mich nicht husten.
Diese Welt hier war mir fremd. Ich hatte mich immer geweigert, sie zu betreten, ja, hatte nicht einmal glauben wollen, dass es sie gab. Mein Mann hatte früher einmal über den Tee gelästert, er schmecke wie Spülwasser, und ich hatte ihm lachend zugestimmt und diese Geschichte weitererzählt, wo immer sich eine Gelegenheit bot. Jetzt plötzlich erschien mir meine Bemerkung roh und tat mir Leid. Ich blickte in ihre Augen – und merkte, ich brauchte nichts zu sagen. Sie wusste ohne Worte.
Während ich den Tee genoss, fiele mir wieder Dinge ein, denen ich mit Abwehr, Ironie und Spott begegnet war. Ich spürte plötzlich den Schmerz, den ihr jede meiner vorschnell ausgesprochenen Bemerkungen wie Peitschenhiebe versetzt hatten, wie jeder Witz von mir das befleckt hatte, was für sie wichtig, vielleicht heilig war. Aber wie ich ihren Schmerz, so teilte sie meine Erkenntnis, dass hinter allem nur meine Angst gestanden hatte, mein Unvermögen, gleichzeitig zwei Wege bestehen zu lassen: ihren Weg und meinen.
Ich hatte immer und überall beweisen müssen, dass alles, was sie tat, ungeschickt, nichtig, falsch war, damit sie nicht wagen würde, meine Art zu leben in Frage zu stellen. Ich hatte genau das Gegenteil erreicht, eine ständige Rebellin, die nichts bestehen ließ, was wir ihr als gut und richtig beigebracht hatten.
Jetzt füllten sich ihre Augen mit Tränen, und sie stammelte:
„Mutter, oh Mutter.“ Sie zitterte ein wenig, als fröstelte sie, doch dann sprach sie mit klarerer Stimme weiter:
„Auch ich habe dir soviel Unrecht getan. Auch ich habe gegen dich gekämpft, deine Werte verworfen. Ich habe deine Geburtstage vergessen, das Grab meines Vaters ignoriert, habe mich gleichgültig gezeigt gegenüber allen deinen Belangen. Ich kannte deine Sehnsucht nach einem Enkelkind, und gerade deshalb habe ich mich deinem Wunsch verweigert. Solange, bis mein Körper das seine tat, und nun ist es zu spät. – Doch versteh´, Mutter, ich musste doch alles tun, um zu sehen, ob du mich auch so lieben könntest, ohne Ansprüche, nur mich!“
Plötzlich war sie nicht mehr die Priesterin, sondern das Kind in meinen Armen, das ich mit soviel Zuversicht empfangen hatte, vor so langer Zeit. Ich trauerte über die vertane Chance, über verstrichene Gelegenheiten und die verlorene Zeit. Wir würden alles besser machen, in der Zukunft! Dann flüsterte ich immer wieder:
„Es ist gut, mein Kind, alles ist gut.“
Wir saßen noch eine Weile zusammen und lauschten einer fremdartigen Musik, bis meine Tochter mich küsste und sagte:
„Ich glaube, ich muss zurück.“
Auch ich fühlte mich irgendwie gerufen, und als ich wieder aufschaute, war meine Tochter verschwunden, und eine Gestalt in einem nachtblauen Gewand legte Ihren Arm um meine Schulter und sagte:
„Es wird Zeit für dich. Komm.“
„Muss ich jetzt wieder zurück ins Krankenhaus?“, fragte ich und dachte an die Schmerzen.
„Du kannst zurück oder mit mir kommen. Es liegt bei dir.“
„Vielleicht nicht mehr zurück in dieses Leben?“ Ich kannte die Antwort.
„Aber meine Tochter! Ich muss ihr noch sagen ... Wird sie es wissen, was gerade
...?“
„Zwischen euch ist Frieden“, sagte die Gestalt. „Sie ist jetzt frei, wirklich ihren Weg zu wählen.“
„Wir werden es besser machen, in der Zukunft.“, klang ihr Flüstern von irgendwoher. „In diesem Leben, im nächsten ...Es ist gut, Mutter, alles ist gut.“