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Alles ist schwarz
Es stinkt.
Dutch kann nicht einordnen, wonach. Die Luft ist schwer, fühlt sich an, als würde er Wasser einatmen. Dutch will die Augen öffnen, als er feststellt, dass sie bereits offen sind. Alles ist schwarz.
Er atmet schneller, flacher. Das Keuchen dringt in seinen Kopf, klingt dumpf. So dumpf wie diese Luft.
Ein Schmerz entsteht in seinen Schultergelenken. Dutch realisiert, dass seine Arme in die Höhe gestreckt sind. Der Schmerz wird spitzer, fühlt sich an, als würde jemand eine lange Nadel in die Gelenkpfanne schieben und darin herumrühren. Er will die Arme sinken lassen, doch es geht nicht.
Die Kehle schmerzt. Ausgetrocknet.
„Hallo?“, krächzt er irgendwann. Oder war es nur ein Wunschdenken? Augenblicklich übertrifft das Brennen seiner Kehle das Bohren in der Schulter. Dutch will schreien, sieht sich auf einem weiten Feld, die Arme hoch in den blauen Himmel gestreckt, sein Gesicht grinst, und er schreit – doch er bleibt still, schluckt nur. Allein das schmerzt schon genug.
Dutch stellt fest, dass er auf etwas Kaltem steht. Ein Steinfußboden?
Seine Beine fühlen sich bleiern an, wie dicke Säcke, deren schwammiger Inhalt sie nach unten zieht. Er will sich setzen, doch etwas hindert ihn daran.
Seine Handgelenke.
Dutch blickt nach oben, sich der wagen Hoffnung hingebend, dort etwas zu erkennen. Nur einen winzigen Lichtreflex. Doch da ist nichts. Alles schwarz!
Jetzt pflanzt sich der Schmerz durch seine Arme nach oben, erreicht die Handgelenke, entfackelt ein Brennen, das Dutch die Zähne aufeinander pressen lässt.
Er ist aufgehängt. An den Handgelenken aufgehängt.
Er spürt seinen Brustkorb. Etwas Schweres scheint auf ihm zu lasten. Doch das liegt nur an der verbrauchten Luft.
Die Ausdünstungen seiner Achseln dringen zu ihm hinauf. Er spürt die Hitzewellen, riecht den scharfen Schweiß.
Dutch hat noch nie nach Schweiß gestunken. Peinlichst war er darauf bedacht, seine Achseln sauber zu halten. Jeden morgen duschen, und abends auch. Und zusätzlich gaben ihm Vierundzwanzig-Stunden-Deos die Sicherheit, jeden noch so hektischen Tag geruchsfrei zu überstehen.
Wie lange hing er schon hier?
Einige Minuten später hat er den Versuch aufgegeben, seine schmerzenden Handgelenke von den Fesseln zu befreien.
Sie sind aus Metall! Man hat ihn wahrhaftig an Metallschellen aufgehängt!
Er reckt sich, spürt die Ketten, deren Glieder beinahe melodisch aneinanderschlagen.
Er hängt an der Decke irgendeines Raumes. Mit Ketten und Metallschellen. Wie im Mittelalter. Und es gibt kein Licht. Nur Gestank.
Die Tränen merkt er erst, als sie ihm salzig über die Lippen in den trockenen Mund laufen.
Ein winziger Funke blitzt vor seinem geistigen Auge auf. Er sieht sich Stufen hinabsteigen. Graue Stufen. Er winkt. Lächelt.
Eine Frau mit langen, dunklen Haaren winkt zurück. Sie lächelt ebenfalls, eine Zeitung fällt zu Boden. Sie blickt hinab, heb sie wieder auf. Dutch sieht die großen Lettern: VERSCHWUNDEN!
Ein Hund steht neben ihr.
„Ist hier … jemand?“ Der Satz kostet ihn dermaßen Kraft, dass er am Liebsten laut aufgeschrieen hätte. Wenn da nicht das Brennen in seiner Kehle wäre.
Wie ist er hierher gekommen?
Wer ist diese Frau?
Sein Schädel ist so leer. Kein Gedanke, keine Erinnerung. Nur diese Zeitung. Wochenlang schon dieselbe Headline.
Der Hund bellt. Dutch steigt in ein Auto, riecht das Leder.
Was ist das für ein Gestank?
An seine eigenen Ausdünstungen hat sich Dutch inzwischen gewöhnt. Doch was ist das andere?
Es riecht sauer. Er kennt es.
Erbrochenes. Ja, es stinkt nach Kotze! Eindeutig!
Aber da ist auch noch etwas anderes.
Dutch bewegt seine Zehen, sie fühlen sich dick an. Irgendwie geschwollen. Vorsichtig schiebt er den Fuß nach vorn. Seine nackten Zehen tasten. Der Boden ist uneben. Grober Stein, oder schlecht verlegter Zement.
Noch ein bisschen weiter. Der Schmerz in seinen Handgelenken und in der Schulter schwillt an, wie ein Ballon, der kurz vorm Platzen steht.
Noch weiter.
Sein Zeh berührt etwas. Warm. Weich.
Dutch verliert das Gleichgewicht, rutscht weg. Sein Schrei hallt durch den Raum, als die Metallschellen sich in sein Fleisch bohren. Er spürt, wie Haut reißt. Ein Knacken in seiner Hand, so laut, dass er es hört. Der Schmerz explodiert.
Es dauert lange, bis sich sein Schrei in ein abgehacktes Stöhnen verwandelt.
Dutch konnte noch nie Schmerzen ertragen, selbst das Schneiden an einem Stück Papier, ließ ihn immer weiß werden, und es dauerte eine Ewigkeit, bis der kalte Schweiß auf seiner Stirn verschwand und sein Puls eine halbwegs normale Frequenz anstrebte.
Doch all das Erlebte ist nichts gegen den Schmerz, der sich im Moment durch seinen Körper bohrt, einer ausgehungerten Armee Maden gleich, die sich durch einen faulenden Kadaver frisst.
Dutch beginnt zu weinen. Er versucht, mit seinen Füßen wieder Halt zu finden, den Druck der Schellen zu verringern.
Speichel rinnt über seine Lippen, und er heult weiter. Das Paradoxon wird ihm bewusst. Sein Hals ist trocken, doch sein Mund produziert Speichel.
Etwas fließt seinen Arm hinunter, sammelt sich in seinem Achselhaar, um dann an der Seite seines Körpers seinen Weg fortzusetzen.
Es dauert ewig bis der Schmerz pochend stagniert. Er scheint zu lauern, ausgehungert und jederzeit bereit, wieder hervorzuspringen.
Es ist der Moment, als Dutch das Schmatzen hört.
Augenblicklich hält er den Atem an, für einen Moment nur. Er lauscht in die Schwärze. Sie umschlingt ihn, wie ein heißes Tuch, legt sich auf sein nasses Gesicht, droht ihn zu ersticken.
Etwas schmatzt. Kurz darauf ein Reißen. Ähnlich dem Reißen an einer Rolle Leukoplast.
Tapsen.
Nackte Füße tapsen auf Stein. Schnell. Unkontrolliert.
Jemand versucht zu flüchten, schießt es Dutch durch den Kopf.
Dann beginnt es von vorn. Schmatzen … Reißen … und dazwischen immer dieses flüchtende Tapsen.
Dutch ist nicht allein. Er ist nicht allein in diesem schwarzen Raum.
Was passiert da vor ihm?
Schmatzen, Reißen.
Wo war das Tapsen?
Irgendjemand flüstert.
Dutch atmet noch flacher. Versucht zu lauschen.
Es sind eindeutig Stimmen. Doch sie sind so leise, dass Dutch lediglich erkennt, dass es sich um welche handelt.
Ein beißender Gestank erreicht seine Nase. Kot!
Dutch spürt, wie sich sein Magen zusammenzieht. Reiß dich zusammen!
Er atmet ganz flach durch den Mund.
Ein metallisches Poltern. Etwas ist umgefallen. Oder wurde hart auf dem Steinfußboden abgestellt.
Dutch zuckt zusammen. Für einen Augenblick registriert er, dass der Schmerz in seinen Armen nicht mehr da ist.
Liegt am Adrenalin.
Ein Windhauch berührt seinen Körper. Ist er nackt? Wieder bricht eine Schweißwelle aus ihm empor. Sein Herz rast.
Die Geräusche sind verstummt. Das Flüstern auch.
Dutch lauscht.
Stille. Er möchte schreien: Macht weiter! Bitte macht weiter! Alles, nur nicht diese Stille.
Dann hört er Schritte.
Ganz leise, aber Dutch hört, wie sich jemand nähert.
Er schließt die Augen, lässt den Kopf hängen. Jemand kommt auf ihn zu.
Ich muss mich tot stellen. Zumindest ohnmächtig.
So ein Quatsch bei der Dunkelheit ist es eh egal.
Dutch möchte weglaufen. Wo ist er? Was geht hier vor?
Ein Atmen direkt vor seinem Gesicht.
Der Atem stinkt faul, übertüncht sogar den Gestank nach Kot und Erbrochenem.
Etwas berührt seinen Hals, drückt leicht neben den Kehlkopf.
Dutch möchte schreien, doch er bleibt still. Seine Waden beginnen zu zittern. Er spürt einen pulsierenden Druck in seiner Blase.
„Lebt er?“ Ein Flüstern.
„Ja.“ Der faule Atem schlägt in sein Gesicht. Er stinkt nach verwestem Fleisch.
Dutch presst die Lider zusammen.
Die Berührung an seinem Hals verschwindet.
„Wann nehmen wir ihn?“
„Morgen.“
Schritte entfernen sich leise.
Dutch reißt die Augen auf.
Alles ist schwarz.