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Alles kommt zurück zu dir
Der Schrei explodiert in Jürgens Kopf, zerfetzt ihm fast von innen die Trommelfelle. Die Handflächen gegen seine Ohren gepresst reißt er die Augen auf. Das kleine Schlafzimmer ist, abgesehen von Bett und Kleiderschrank, leer. Durch die milchige Scheibe fallen die ersten Sonnenstrahlen des Jahres, kleine Staubpartikel tanzen in ihnen. Verkehrslärm dringt von der Straße herein. Es ist noch früh, Jürgen braucht nicht mehr so viel Schlaf. Er geht zum Fenster. Draußen gibt es nicht Außergewöhnliches; einige Fußgänger, viele Autos.
Woher kam der Schrei?
Er hat das schwächer werdende Echo des zerreißenden Klangs noch immer in den Ohren. Erschöpft setzt er sich aufs Bett. Die Decke ist noch warm. Langsam beruhigt sich sein Atem, sein Keuchen wird leiser und sein altes Herz versucht nicht mehr aus der Brust zu springen. Auf der Straße hupt ein Lastwagen, sonst herrscht Ruhe. Jürgens Körper entspannt sich, er schließt die Augen.
Diesmal ist der Schrei ist lauter, panischer. Jürgen springt auf, taumelt durch den Raum und prallt gegen den Schrank. Benommen geht er zu Boden. Mit weit aufgerissenen Augen sucht er das Zimmer ab; es ist immer noch leer.
Was geht hier vor?
Er spürt den weichen Teppich und das harte Holz des Kleiderschranks – beides ist real; genauso wie der stechende Schmerz in seiner Hüfte. Schweiß bildet sich auf seiner Stirn, ihm wird kalt. Er blinzelt, nur für wenige Zehntelsekunden schließen sich seine Augen. Doch er hört den Schrei, als würde er ein Leben lang andauern. Jetzt schreit auch Jürgen, versucht die panische Angst in seinem Kopf zu übertönen. Er schreit bis seine alte Lunge schmerzt und verstummt.
Die trügerische Stille kommt zurück. Ein Schmerz sticht in seiner Brust, sein Körper verkrampft sich.
Nicht die Augen schließen, bloß nicht die Augen schließen.
Wie ein Gebet wiederholt er diese Worte. Die Zeit dehnt sich ins Unendliche; aus Sekunden werden Minuten und aus ihnen werden Stunden. Schließlich verliert sie jegliche Bedeutung. Mit Daumen und Zeigefinger drückt Jürgen seine Augenlider auseinander. Immer wieder fasst er nach, verstärkt den Druck, ignoriert die Schmerzen. Seine Augen verengen sich, werden zu schmalen Schlitzen. Sein ganzes Gesicht verkrampft sich zu einer Fratze. Die Hornhäute trocknen aus, ein Brennen überzieht sie. Tränen fluten seine Augen und kullern über die eingefallenen Wangen. Er blinzelt; immer wieder.
Schreie und Stille bilden ein wahnsinniges Stakkato. Jürgen rollt sich zusammen. Die Welt um ihn verschwindet, nur das Chaos in seinem Kopf ist noch von Bedeutung. Wie im Daumenkino formen sich Bilder hinter seinen geschlossenen Lidern. Das erste zeigt eine Nahaufnahme. Ein schmerzverzerrter Mund, die Lippen sind vertrocknet und aufgeplatzt. Mehrere Zähne fehlen, an ihrer Stelle klaffen blutige Ränder.
Jürgen gelingt es, die Augen aufzureißen.
Werde ich verrückt?
Ein Wort schleicht sich in seine Gedanken wie der Geruch von Gas: Gehirntumor. Seine Mutter ist daran gestorben. Er erinnert sich an ihre letzten Tage, als die Ärzte sie schon nach Hause geschickt hatten. Ihr ausgemergelter Körper wirkte verloren in dem riesigen Doppelbett. Sie erkannte niemanden mehr und erzählte die ganze Zeit von Stimmen in ihrem Kopf, die ihr Ratschläge gaben.
Der Schmerz in Jürgens Brust wandert den linken Arm hinunter. Er versucht aufzustehen, doch es gelingt ihm nicht. Stoßweise pumpt er Luft in seinen Körper.
Oh mein Gott, was passiert mit mir?
Er weiß, wo die Antwort versteckt ist, verborgen seit Jahrzehnten. Erneut jagt ein Schmerz durch seinen Körper. Seine Augen schließen sich fast von allein.
Der Schrei kehrt zurück. Das zweite Bild ist aus größerem Abstand aufgenommen. Die graue Haut spannt sich wie Pergamentpapier über die Wangenknochen. Schwarze Furchen umranden die Augen.
Es ist doch schon so lange her.
Die junge Frau ist fast kahl, ihre Kopfhaut übersät mit Wunden. Büschelweise liegt das lange blonde Haar zu ihren Füßen. Sie kniet, ihre Hände sind an eine schmutzige Backsteinwand gekettet. Es ist dunkel, nur ein dünner Lichtstrahl fällt durch ein ebenerdiges, verdrecktes Fenster.
Jürgen erkennt diesen Keller. Und er kennt die junge Frau.
Ihre Arme wirken unnatürlich lang. Die Handgelenke sind von den Fesseln blutig gerieben, Eiter bedeckt die Wunden. Das zerrissene Shirt hängt an ihr wie an einem Skelett.
Ich habe dafür bezahlt! Viele Jahre lang! Die Schlampe hatte nichts anderes verdient! Diese untreue Schlampe!
Sie hatten zu jung geheiratet. Und Jürgen zu viel getrunken. Er erinnert sich daran, wie lange sie geschrien hatte. Acht Tage lang hatte sie durchgehalten, bis sie zu schwach gewesen war. Acht verdammte lange Tage. Zum Glück hatte ihr Haus etwas abseits gelegen.
Jürgens Augen sind noch immer geschlossen. Erst jetzt bemerkt er, dass sich etwas verändert hat; sie hat aufgehört zu schreien.
Sie dreht den Kopf und sieht ihn an, sieht ihm direkt in die Augen. Ihre schmalen Lippen verziehen sich. Sie grinst wie ein Totenschädel.
Das Stechen in Jürgens Brust verschwindet. Ein Kribbeln breitet sich in seinem Körper aus. Schwerfällig rollt er sich auf den Rücken. Er öffnet die Augen.
Ich sterbe.
Sie sieht ihn immer noch an.
Er spürt seine Arme und Beine nicht mehr. Verzweifelt befiehlt er seinem Körper sich aufzurichten. Nichts passiert. Er will schreien, doch schafft nicht mehr als ein Stöhnen.
Er bleibt einfach liegen. Und hofft, dass es nicht acht Tage dauert.