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Alles schon gesagt

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21.12.2015
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Alles schon gesagt

Urs fährt den PC hoch und öffnet die Datei „Menschen wie du und ich“. Es ist die Liste aller Texte, die er bisher für diese Kolumne bei der SSZ geschrieben hat. Heute ist die Deadline, da muss er wieder liefern.
„Was Originelles, bitteschön, und diesmal nicht auf den letzten Drücker“, hat der Feuilletonredakteur gesagt und dabei mit seinem Luxusfüller ein Staccato auf die Schreibtischplatte geklopft. Das war vor drei Tagen. Und Urs hat immer noch keine Idee.
Die Liste ist lang, über hundert Titel. Urs beschreibt den Alltag, mal witzig und heiter, mal ernst und kritisch, immer ganz nahe an den Menschen. Er weiß, er hat ein Gespür für kleine Absurditäten im Zwischenmenschlichen, die niemandem auffallen, bis er sie unter die Lupe nimmt. Sein Lieblingstext handelt von einem Nachbarschaftsstreit, der sich an den Hundehäufchen im gemeinsam benutzten Garten entzündete. Jede Partei hatte einen Dackel. Sie dekorierten das jeweils feindliche Häufchen mit kleinen Fähnchen in den Landesfarben, sodass der Garten sowohl mit dem Schweizer Kreuz als auch mit der italienischen Tricolore geschmückt war, sehr zum Spaß der Kinder im Viertel.
Oder die Geschichte, wie eine Ehefrau ihrem Mann ein Stückchen Romadour, sorgfältig in Stanniol gewickelt, unter das Seidentüchlein seines Sakkos stopfte, bevor er zur Vorstandssitzung davoneilte.

Urs seufzt. Er hat in letzter Zeit das Gefühl, dass das Leben langweiliger geworden ist.
„Verdammt. Alles schon gesagt.“
„Kein schlechter Titel." Ruth steht in der Tür zum Arbeitszimmer. „Gefällt mir. Das 'Verdammt' würde ich weglassen. Mach lieber ein Fragezeichen.“
Ruth hat eine grüne Kochschürze an, ihre Haare sind zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, ihr Gesicht glänzt rosig. Sie bringt den verführerischen Geruch von Gebratenem mit.
„Essen ist fertig. Kommst du?“
Auf dem Esstisch steht eine Vase mit Vergissmeinnicht und Narzissen. Hübsch, findet Urs, hübsch wie seine Frau. Etwas ungewöhnlich in der Zusammenstellung.
„Gibt's was Besonderes heute?“, fragt Urs und meint beides, den Blumenstrauß und das Essen.
„Nicht wirklich …, nein, ich glaube nicht.“
Ruth häuft Rösti auf die Teller und sticht für sich ein Spiegelei aus dem Keramikpfännchen ab, Urs bekommt drei. Dann streut sie je eine Handvoll Schnittlauch drüber.
„He, warum so üppig? Zwei täten's auch. Und warum so viel Grünzeug?“
„Ist gut fürs Gedächtnis.“
Was hat sie denn bloß heute?
Nachtisch gibt es keinen, nur einen Espresso. Warum auch? Beide achten auf ihre Figur, gegenseitig.
Ruth unterstützt Urs bei seinen Texten. Als gelernte Buchhändlerin hat sie ein gutes Gespür für Sprache und Interpunktion. Die Inhalte kommentiert sie gar nicht mehr. Eigentlich schade, denkt Urs, da gab es so herrliche Streitereien mit anschließender Versöhnung.
„Findest du den Titel wirklich gut? Du meinst, damit könnte ich was anfangen? ... So was wie eine Schreibblockade? Nicht schlecht, aber was soll dann das Fragezeichen?“
Vier Fragen auf einmal. Ruth schaut schräg an Urs vorbei auf die Wand hinter ihm.
„Ich wüsste schon einen Satz, den du noch nie gesagt hast.“
„Ich? Mach's doch nicht so spannend. Was soll das für ein Satz sein?“
Ruth betrachtet weiterhin die Wand. Dort hängt ein schlichter Abreißkalender. Für jeden Tag gibt es eine fette schwarze oder rote Zahl. Früher haben sie sich amüsiert über die Sprüche auf der Rückseite. Wie Kinder haben sie sich gestritten, wer abreißen darf. Unser ganzjähriger Adventskalender.
„Du hast noch nie gesagt: 'Ich liebe dich'.“
„Was? Ich? Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Du sagst ganz viele Sachen zu mir, doch, da hast du einige Fantasie. Aber diesen Satz hast du noch nie gesagt, jedenfalls noch nie zu mir.“
Urs holt tief Luft. Nichts hasst er mehr als Beziehungsdiskussionen. Eigene hatte er schon in den Affairen vor seiner Ehe mit Ruth. In der Redaktion kann jeder zweite damit aufwarten.
„Warum fängst du jetzt damit an? Ich versteh dich nicht.“
„Du wolltest einen Satz hören, den du noch nie gesagt hast. Bitte schön, das ist er. Im Übrigen glaube ich, du bist da nicht der einzige. In den Medien wird er allerdings geradezu inflationär gebraucht, auch von Männern."

Ruth starrt weiterhin auf die Wand, so dass Urs sich umdreht. Auf dem Kalenderblatt mit Freitag, 30. April, fällt ihm rechts unten ein handschriftlicher Zusatz auf: HT.
Oh Gott! Der Klassiker! Der vergessene Hochzeitstag!
Beschämt dreht er sich zu Ruth um, die angefangen hat, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen.
„Nein, lass nur, geh wieder an deinen Schreibtisch. Ist doch ein gutes Thema, oder?“, lächelt sie und zupft in der Blumenvase das Vergissmeinnicht etwas höher. „Soll ich nachher drüberschauen?“
„Besser nicht. Ich weiß sowieso nicht, ob ich etwas zustande bringe.“

Am Abend, nach einer halben Flasche Barolo, schickt Urs seinen Text an die Redaktion. Titel: Was ich schon immer sagen wollte.

 

Liebe @wieselmaus,

wie schön, eine kurze Kurzgeschichte von dir zu lesen. Würde doch hervorragend in die neue Rubrik "Flash Fiction" passen. Hast du mal drüber nachgedacht, sie dorthin verschieben zu lassen?

Er hat ein Gespür für kleine Absurditäten im Zwischenmenschlichen, die niemandem auffallen, bis er sie unter die Lupe nimmt
Das klingt hier ein wenig wie eine Behauptung oder die Einmischung des Autors.
Ich würde es so machen, dass dies ein anderer über ihn behauptet hat. Z.B.:
"Seine Kollegen sagten immer, er hätte ein Gespür ... "
Oder besser:
"Seine Kollegen in der Redaktion beneidigten ihn für sein Gespür ..."

Ja, das mit den Hochzeitstagen. Ich persönlich kann meinen einfach nicht vergessen, da er auf den Geburtstag meiner Frau fällt. Denn wenn ich den vergessen würde, hätte ich wirklich ein Probem ... :lol:

Eine tolle Szene aus dem wahren Leben. Schön finde ich, dass sie ihm am Ende vorschlägt, drüberzuschauen.
Hat mir gut gefallen.

Liebe Grüße und einen schönen Abend,
GoMusic

 
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Liebe Novak,

Liebe wieselmaus, heut bin ich in Kommentierlaune, da schick ich dir doch auch gleich einen. Aber Achtung, ist nur ein Lobschnuddelkommentar. Ich hoffe, du kannst auch mit sowas was anfangen.
[
Aber gewiss doch. Eine meiner leichtesten Übungen. Ich danke dir.

. Ach, dieser Krieg ist herrlich. Stammt das aus der Wirklichkeit?

Beide Beispiele gehen auf meine Mutter zurück. Die war berüchtigt für solche Einfälle. In einer meiner ersten Geschichten hier "Schweizer Schokolade" habe ich ihr ein kleines Denkmal gesetzt.

Da hab ich mich gefragt, warum du nicht in der Zeile mit "Arbeitszimmer" weitergeschrieben hast mit der wörtlichen Rede. Ruth quatscht ja weiter

Hast Recht, der vorangehende Satz war wohl ursprünglich länger.

Go Music hat vorgeschlagen, diese Geschichte in die neue Rublik Flash Fiction zu verschieben. Du und hell seid ja dafür zuständig. Ich weiß nicht, wie man das macht, aber du bestimmt.

Ich freu mich sehr, dass du ein wenig Spaß hattest.

Herzliche Grüße wieselmaus

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Liebe Maria,

das ist eine Geschichte für zwischendurch, liebevoll, total Alltag. Eine leichte Kost halt. Du weiß, für Maria ist es ohne Konflikt zu wenig,

Das ist doch schon was. Ob du's glaubst oder nicht, ich musste beim Schreiben dauernd denken: Da würde Maria aber jetzt einen tüchtigen Bäng setzen. Mindestens würde sie Ruth die Blumenvase nach Urs schmettern lassen oder ihm den Schnittlauch aufs schütterwerdende Haupthaar streuen oder, sehr wahrscheinlich, die Spiegeleier nachträglich zu Rühreier vermanschen. Jedenfalls hätte sie ein Köfferchen für alle Fälle bereitstehen, damit sie stante pede zur Oma, pardon, zur Mutter abrauschen könnte.

Aber so ist halt meine mitteleuropäische Prota nicht. Kein Temperament. Traurig.
Wenn es dich tröstet: Die nächste Geschichte wird bestimmt länger.

Es trifft halt einfach nicht mein Geschmack.

Schön, dass du trotzdem kommentiert hast.

Liebe Grüße
wieselmaus

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Lieber Go Music,

wie schön, eine kurze Kurzgeschichte von dir zu lesen. Würde doch hervorragend in die neue Rubrik "Flash Fiction" passen. Hast du mal drüber nachgedacht, sie dorthin verschieben zu lassen?

gut, dass es einmal eine Rückmeldung zur neuen Unterrubrik gibt. Wenn du das so sagst, dann habe ich nichts dagegen, dort zu erscheinen. Die Titel dort sind noch überschaubar.;) Ich dachte, dass die Diskussion dazu lebhafter würde.

Das klingt hier ein wenig wie eine Behauptung oder die Einmischung des Autors.

Ja, das stimmt. Um deutlicher zu machen, dass alles aus der Sicht Urs' geschrieben wird, habe ich ein schlichtes Er weiß, er hat ein Gespür ... vorangestellt. Ein Satz mit "dass" hätte mir nicht gefallen. Außerdem wird dadurch seine Egozentrik betont.

Danke für den Kommentar und ebenfalls noch einen schönen Abend. Wenn der Niederrhein nicht so weit weg wäre, käme ich gerne zum Stammtisch.

 

Liebe @wieselmaus,
so, jetzt probiere ich es nochmal.:shy:

„Verdammt. Alles schon gesagt.“
„Kein schlechter Titel." Ruth steht in der Tür zum Arbeitszimmer. „Gefällt mir. Das 'Verdammt' würde ich weglassen. Mach lieber ein Fragezeichen.“

Das fand ich einen großartigen Einstieg in den Dialog des Paares. Hat mich echt neugierig gemacht.

Eine intakte, wenn auch ein wenig angestaubte Ehe, ein Mann, der mehr oder weniger behutsam von seiner Frau "auf den rechten Weg" geführt wird, am Ende hat es fast ein bisschen was von Strafarbeit. Das Schema "Sie unterschwellig vorwurfvoll/er ignorant" ist ja durchaus beliebt. Du hättest es noch mehr auf die Spitze treiben können. Immerhin macht er sich ja doch Gedanken.

Eigentlich schade, denkt Urs, da gab es so herrliche Streitereien mit anschließender Versöhnung.

Früher haben sie sich amüsiert über die Sprüche auf der Rückseite. Wie Kinder haben sie sich gestritten, wer abreißen darf.

Es wird deutlich, dass er seine Frau durchaus schätzt. Eigentlich wünscht er sich wieder mehr Leben in der Bude, oder?

Urs holt tief Luft. Nichts hasst er mehr als Beziehungsdiskussionen.

Ein klitzekleines Aufbegehren.

Beschämt dreht er sich zu Ruth um, die angefangen hat, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen.
„Nein, lass nur, geh wieder an deinen Schreibtisch. Ist doch ein gutes Thema, oder?“, lächelt sie und zupft in der Blumenvase das Vergissmeinnicht etwas höher. „Soll ich nachher drüberschauen?“
„Besser nicht. Ich weiß sowieso nicht, ob ich etwas zustande bringe.“

Und jetzt knickt er ein und geht seinen Aufsatz schreiben. Hm. Irgendwie kommt mir das vor wie "Chance vertan". Ich meine wo bleibt der Streit und wo die anschließende Versöhnung?

Nochmal zum Anfang:

„Was Originelles, bitteschön, und diesmal nicht auf den letzten Drücker“, hat der Feuilletonredakteur gesagt und dabei mit seinem Luxusfüller ein Staccato auf die Schreibtischplatte geklopft.

Die Geschichte spielt nicht heute, oder? Wenn er schon so viel für die Zeitung geschrieben hat, liefe die Kommunikation heute wahrscheinlich über e-mail oder so. So hat das ein bisschen was Nostalgisches. Finde ich auch passend.

„Du wolltest einen Satz hören, den du noch nie gesagt hast. Bitte schön, das ist er. Im Übrigen glaube ich, du bist da nicht der einzige. In den Medien wird er allerdings geradezu inflationär gebraucht, auch von Männern."

Im fetten Teil habe ich eher das Gefühl, dass die Autorin spricht oder warum sollte sie denn hier plötzlich anfangen zu dozieren? Knackiger fände ich es ohne den Teil.

Du hattest schonmal eine Geschichte von einem älteren Ehepaar. "Eheringe". Das fand ich doch noch schräger, wie er ihr den Ring aufsägt. Da wurden wirklich ein paar Verkrustungen gelöst, etwas gewagt. Diese Geschichte hier habe ich auch gerne gelesen, aber mir fehlte etwas Überraschendes, ein Bruch.

So hoffentlich drücke ich jetzt den richtigen Knopf.

Liebe Grüße von Chutney

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe Chutney,

Eine intakte, wenn auch ein wenig angestaubte Ehe, ein Mann, der mehr oder weniger behutsam von seiner Frau "auf den rechten Weg" geführt wird, am Ende hat es fast ein bisschen was von Strafarbeit. Das Schema "Sie unterschwellig vorwurfvoll/er ignorant" ist ja durchaus beliebt. Du hättest es noch mehr auf die Spitze treiben können. Immerhin macht er sich ja doch Gedanken.

Du hast vielleicht gesehen, dass der Text nach Flash Fiction verschoben wurde, auf Vorschlag von Go Music. Da ich selber die Geschichte als Experiment betrachte, habe ich versucht herauszufinden, bis zu welchem Punkt man kürzen kann, bevor der Leser ratlos zurückbleibt. Da musste praktisch hinter jeder Formulierung eine Intention stecken. Ich bin nämlich nicht der Meinung, die Kürzungen sollen Beliebigkeit hervorrufen. Ich denke, das hat einigermaßen geklappt, wenn ich den bisherigen Kommentaren glauben darf.

Im fetten Teil habe ich eher das Gefühl, dass die Autorin spricht oder warum sollte sie denn hier plötzlich anfangen zu dozieren? Knackiger fände ich es ohne den Teil.

Hier fängt die Autorin keineswegs an zu dozieren. Sie lässt vielmehr die Prota den Kern formulieren, um was es im Thema geht: Alles gesagt oder doch Was ich schon immer sagen wollte.
Sie bietet ihrem in einer (Schreib)-Blokade gefangenen Eheman einen Ausweg, passenderweise am Hochzeitstag, und knüpft an frühere Zeiten an, wo sie seine Texte inhaltlich und formal diskutiert haben. Das kann ich nicht als Strafarbeit sehen.

Die Geschichte spielt nicht heute, oder? Wenn er schon so viel für die Zeitung geschrieben hat, liefe die Kommunikation heute wahrscheinlich über e-mail oder so.

Vielleicht hat dich der Füllhalter auf die nostalgische Spur geführt. Die teuren Exemplare gelten als Statussymbol. Sie werden fast gar nicht benutzt, nur gezeigt. Urs sitzt ja vor seinem Computer, also ist davon auszugehen, dass er seinen Text elektronisch verschickt.


Diese Geschichte hier habe ich auch gerne gelesen, aber mir fehlte etwas Überraschendes, ein Bruch.

Hier ist ein Paar intellektuell auf Augenhöhe. Am Ehedrama haben beide kein Interesse, wahrscheinlich trinken sie abens eine zweite Flasche Barolo, und was dann passiert. wer will's wissen ..? Auch in "Eheringe" gibt es am Ende einen Hauch Versöhnung.

Danke, liebe Chutney, fürs Kommentieren, auch wenn ich mich jetzt als etwas sperrig gezeigt habe.

Liebe Grüße
wieselmaus

 

Liebe Bea,

danke für deinen Kommentar, der ja sehr positiv ausfällt.

Tatsächlich kreist du um ein Thema, das Langverheiratete ansprechen dürfte,

Da hast du Recht. Ich glaube, die Jüngeren machen einen großen Bogen um die Diskussion über den heiligen Satz "Ich liebe dich". Um den geht es in meiner Geschichte, weniger um den vergessenen Hochzeitstag, der ist hier nur der Aufhänger für die andere Frage: Ist es für eine gute Beziehung nötig, dass dieser inflationäre Satz ausgesprochen wird? Und warum scheuen so viele Menschen davor zurück? @Friedrichard hat in seinem Kommentar Zahlen genannt. Dieses Thema hat Ruth ihrem Mann geschenkt für seine Kolumne, und ich denke, er hat es dankend angenommen. Keine Ahnung, was er letzlich geschrieben hat.;)

Da ich weiß, wie gerne du Texte korrigierst, vor allem die eigenen ;), will ich dir den ein oder anderen Gedanken zu der ein oder anderen Textstelle nicht vorenthalten:

Bezugsproblem. Da ist dir etwas verrutscht ...

Übrigens: Ich habe den Text vor ein paar Tagen kopiert und so kann es sein, dass sich einiges überschneidet oder mittlerweile erledigt hat.

Ja, deine Version ist tatsächlich nicht die neueste. Ich habe nochmals in die Richtung verbessert, dass es nicht auktorial klingt, sondern personal, immer aus der Sicht von Urs. Der würde sicherlich nicht denken oder sagen: Was trägt sie denn heute , sondern was hat sie denn heute an?
Ich weiß, das ist für den Leser schwierig, wenn man nicht ständig dazuschreibt, der Prota denkt ...

Flash Fiction ist der Text aus meiner Sicht eindeutig nicht @GoMusic ,sondern eine kurze Kurzgeschichte.

Tja, ich bin seinem Rat gefolgt, weil ich mir eine lebhaftere Diskussion über die Abgrenzung erhofft hatte. Nur auf die Wortzahl zu schauen ist mir zu wenig, um eine eigene Rubrik zu schaffen.

Gibt es von den beiden eine Fortsetzung?

Nee, habe ich nicht vor, jedenfalls nicht als Serie. Beziehungskisten gehören ohnehin zu meinem Repertoire. Hier ging es mir mehr um das Üben von Kürzungen bis zur Schmerzgrenze.

Danke auch für die Zeit, die du meinem Text geopfert hast. Ich melde mich mal.

 

Liebe @wieselmaus,

jetzt beschäftigt mich deine ‚Szene einer Ehe‘ doch mehr, als ich am Anfang gedacht habe. Das mag auch an meiner jetzigen Lektüre (Yates ‚Zeiten des Aufruhrs‘) liegen, die mich übersensibilisiert, wenn es um die Darstellung von Zweierbeziehungen geht.
Zwar verorte ich deine Geschichte nicht in der amerikanischen, sondern irgendwo in der deutschen Realität, doch scheint mir dieser kleine Ausschnitt schon einen Eindruck vom status quo einer Ehe zu geben. Unterm Strich kommt es mir so vor, als lebten da zwei Menschen in einem angenehmen, aber oberflächlichen Miteinander: Man tut sich nichts, geht gesittet miteinander um, ist aber eigentlich nicht (mehr) so sehr am anderen interessiert: Inhalte, über die man früher sprechen konnte, werden nicht mehr berührt, es geht nur noch um Formales: sprachliche Feinheiten und Interpunktion.

Als gelernte Buchhändlerin hat sie ein gutes Gespür für Sprache und Interpunktion. Die Inhalte kommentiert sie gar nicht mehr.
Urs empfindet seine Frau als so hübsch wie die Vergissmeinnicht und Narzissen auf dem Tisch. (Dabei habe ich mich gefragt, wie ein entsprechender Gedanke ausformuliert lauten könnte: ‚Ruth sieht genauso hübsch aus wie die Vergissmeinnicht und die Narzissen.‘ Denkt man so?)
Und auch Ruth scheint sich nicht für die Bedürfnisse ihres Mannes zu interessieren: Ungefragt legt sie ihm drei Spiegeleier auf den Teller und streut noch eine Handvoll Schnittlauch darüber. (Ich verstehe natürlich, dass das das Vorspiel für das Bonmot ist.)
Ruth häuft Rösti auf die Teller und sticht für sich ein Spiegelei aus dem Keramikpfännchen ab, Urs bekommt drei. Dann streut sie je eine Handvoll Schnittlauch drüber.
„He, warum so üppig? Zwei täten's auch. Und warum so viel Grünzeug?“
„Ist gut fürs Gedächtnis.

Wie hier bleibt das Gespräch immer auf dieser Andeutungsebene. Selbst als es konkret wird, versinkt es danach sofort wieder in allgemeinen Äußerungen:
Du hast noch nie gesagt: 'Ich liebe dich'.“
„Was? Ich? Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Du sagst ganz viele Sachen zu mir, doch, da hast du einige Fantasie. Aber diesen Satz hast du noch nie gesagt, jedenfalls noch nie zu mir.“
Urs holt tief Luft. Nichts hasst er mehr als Beziehungsdiskussionen. Eigene hatte er schon in den Affairen vor seiner Ehe mit Ruth. In der Redaktion kann jeder zweite damit aufwarten.
„Warum fängst du jetzt damit an? Ich versteh dich nicht.“

Urs geht mit dieser für eine Ehe – wie ich finde - doch sehr fundamentalen Kritik um, als habe Ruth sich lediglich darüber beschwert, dass er ihr niemals Blumen mitbringe. Dass das Nicht-Aussprechen dieses Satzes vielleicht schon lange an ihr nagt, sie möglicherweise verletzt hat, erreicht ihn nicht, er antwortet mit allgemeinen Floskeln. Und auch Ruth wird nun wieder eher nichtsssagend: ‚Du sagst ganz viele Sachen,…‘
Über ihre eigene Befindlichkeit, die Wunde, die das Vermissen dieses Satzes möglicherweise gerissen hat, kein Wort. Alles bleibt schön im freundlich-unverbindlich Angedeuteten. Beide können so unbeschadet weitermachen: sie in ihrer Küche, er bei seinem Schreiben.
Unklar, weil nicht thematisiert, bleibt, warum Urs es nicht geschafft hat, den Satz ‚Ich liebe dich‘ in der langen Zeit ihrer Ehe auch nur einmal auszusprechen. Hat er solche Probleme mit der Abgegriffenheit dieses Satzes, dass er sich hütet, ihn auszusprechen, oder schimmert hier ein ganz grundlegendes Problem seiner Person oder der gesamten Ehe durch?
Und auch bei Ruth bin ich mir nicht so ganz sicher, inwieweit dieser Satz für sie von Bedeutung ist, oder ob sein Fehlen ihr nur deshalb wieder einfällt, weil Urs wieder einmal den Hochzeitstag vergessen hat, sie also im Grunde nur die Konvention einklagt.
Liebe wieselmaus, ich finde den Ansatz deiner Geschichte gut. Und auch die Darstellung, wie die beiden es schaffen, elegant einer Grundsatzdiskussion aus dem Weg zu gehen, ist dir gelungen. Was mir fehlt, ist so etwas wie ein kurzes Aufblitzen oder Durchschimmern einer Antwort auf die Frage ‚Warum‘. Warum es Urs all die Jahre nicht gelingt, das ‚Ich liebe dich‘ auszusprechen? Was ist los mit diesem Urs? (Die neu gewählte Perspektive könnte hier doch vielleicht etwas Erklärendes ermöglichen.) Der Hinweis auf die Abgegriffenheit überzeugt mich so noch nicht wirklich.
Und warum kann Ruth so locker zur Tagesordnung übergehen, als das Fehlen des Satzes wieder einmal in ihr Bewusstsein dringt und an ihr zu nagen beginnt?
„Nein, lass nur, geh wieder an deinen Schreibtisch. Ist doch ein gutes Thema, oder?“, lächelt sie und zupft in der Blumenvase das Vergissmeinnicht etwas höher. „Soll ich nachher drüberschauen?“

Wie kann sie lächeln? Warum muss sie nicht blinzeln, weil ihr die Tränen kommen?

Noch ein paar Stellen, die ich mir markiert habe:

Auf dem Esstisch steht eine Vase mit Vergissmeinnicht und Narzissen. Hübsch, findet Urs, hübsch wie seine Frau. Etwas ungewöhnlich in der Zusammenstellung.
Denkt das Urs?
Nichts hasst er mehr als Beziehungsdiskussionen. Eigene hatte er schon in den Affairen vor seiner Ehe mit Ruth.
Eigene Beziehungsdiskussionen hatte er schon vorher? Ich glaube, das hat jemand schon angemerkt. Vorschlag: ‚ Nichts hasst er mehr als solche Diskussionen.‘ Was gemeint ist, weiß der Leser doch.
„Du wolltest einen Satz hören, den du noch nie gesagt hast. Bitte schön, das ist er. Im Übrigen glaube ich, du bist da nicht der einzige. In den Medien wird er allerdings geradezu inflationär gebraucht, auch von Männern."
Auch hier würde ich die zusätzliche Erklärung streichen. Die bringt nicht viel, weder Urs noch dem Leser. Und das ‚allerdings‘ ist auch nicht logisch.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Liebe barnhelm,

jetzt beschäftigt mich deine ‚Szene einer Ehe‘ doch mehr, als ich am Anfang gedacht habe. Das mag auch an meiner jetzigen Lektüre (Yates ‚Zeiten des Aufruhrs‘) liegen, die mich übersensibilisiert, wenn es um die Darstellung von Zweierbeziehungen geht.

Das freut mich, wenn du solche Bezüge herstellst, auch auf den Bergmann-Film "Szenen einer Ehe". Ich stelle jetzt mal eine Definition von Flash Fiction hier aus dem Forum vor meine Ausführungen an den Anfang, vielleicht kannst du dann meine Argumentation damit vergleichen.

Flash-Fiction zeichnet sich durch besondere Textkürze aus, ohne auf klassische Elemente einer Kurzgeschichte zu verzichten, wobei diese jedoch aufgrund der limitierten Wort-Menge stark komprimiert und reduziert angelegt werden können.

Wie hier bleibt das Gespräch immer auf dieser Andeutungsebene. Selbst als es konkret wird, versinkt es danach sofort wieder in allgemeinen Äußerungen:

Die Andeutungsebene ist Stilmittel, um das Miteinander in dieser Ehe zu illustrieren. Ein zivilisierter Umgang , ohne besondere Konfliktlage. Mit dem leicht ironischen touch, der sich entwickelt hat, weil man seine gegeseitigen Schwächen kennt.

Urs geht mit dieser für eine Ehe – wie ich finde - doch sehr fundamentalen Kritik um, als habe Ruth sich lediglich darüber beschwert, dass er ihr niemals Blumen mitbringe. Dass das Nicht-Aussprechen dieses Satzes vielleicht schon lange an ihr nagt, sie möglicherweise verletzt hat, erreicht ihn nicht, er antwortet mit allgemeinen Floskeln.

Hier glaubst du, Ruth initiiere eine fundamentale Kritik. Du vermutest eine schon lange empfundene Kränkung. Sie zitiert aber eben nur einen Satz, den Urs noch nie gesagt hat, widerlegt also seine Behauptung, es sei "alles gesagt". Dass sie dazu einen aus dem Umfeld Hochzeitstag wählt, ist etwas hinterlistig, so wie ihre subtilen, eher ironischen Anspielungen durch Blumen und Spiegeleier. Florett statt Säbel. Urs antwortet nicht mit allgemeinen Floskeln, sondern mit einer abwehrenden Frage: "Was, ich ...?
Und Ruth bekräftigt nochmals, dass sie ihm einen Satz präsentiert, den er noch nie gesagt hat. Da kann er doch für seine Kolumne was draus machen. Streit abgewehrt, weil keiner von beiden daran ein Interesse hat. Daher kann sie auch lächeln, weil sie ihren Papenheimer gut kennt, bestimmt auch seinen Abscheu vor Beziehungsdiskussionen.

Auch hier würde ich die zusätzliche Erklärung streichen. Die bringt nicht viel, weder Urs noch dem Leser. Und das ‚allerdings‘ ist auch nicht logisch.

Die ist mir wichtig, weil hier Ruths Haltung deutlich wird. Dass die beiden nicht mehr über die Inhalte seiner Glossen diskutieren, könnte auch daran liegen, dass sie meistens einer Meinung sind. I
Es soll ja auch Ehepaare geben, die deshalb öfter in (gemeinsames Schweigen) verfallen ...

Unklar, weil nicht thematisiert, bleibt, warum Urs es nicht geschafft hat, den Satz 'Ich liebe dich' in der langen Zeit ihrer Ehe auch nur einmal auszusprechen.

In einer normalen KG hättest du natürlich Recht, da sollten ein Konflikt und seine Hintergründe ausgeleuchtet werden. Vorausgesetzt, Ruth vermisst diesen Satz wirklich. Ich persönlich glaube nicht oder jedenfalls nicht mehr.

Hier aber habe ich versucht, die oben zitierte unterstrichene Vorgabe umzusetzen. Für einige hat das gereicht, andere glauben, hier müsse ein crash her.
Im Übrigen darf jeder sich ausmalen, was Urs wohl verfasst hat für seine Zeitung. Da gibts mehrere Optionen .

Ein Versuch war's wert. Ich habe viel über das Kürzen gelernt.

Danke, dass du dich auf diese Geschichte eingelassen hast
und herzliche Grüße für schönes Spätsommerwetter plus diversen Aktivitäten

wieselmaus

 

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