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Alles schon gesagt
Urs fährt den PC hoch und öffnet die Datei „Menschen wie du und ich“. Es ist die Liste aller Texte, die er bisher für diese Kolumne bei der SSZ geschrieben hat. Heute ist die Deadline, da muss er wieder liefern.
„Was Originelles, bitteschön, und diesmal nicht auf den letzten Drücker“, hat der Feuilletonredakteur gesagt und dabei mit seinem Luxusfüller ein Staccato auf die Schreibtischplatte geklopft. Das war vor drei Tagen. Und Urs hat immer noch keine Idee.
Die Liste ist lang, über hundert Titel. Urs beschreibt den Alltag, mal witzig und heiter, mal ernst und kritisch, immer ganz nahe an den Menschen. Er weiß, er hat ein Gespür für kleine Absurditäten im Zwischenmenschlichen, die niemandem auffallen, bis er sie unter die Lupe nimmt. Sein Lieblingstext handelt von einem Nachbarschaftsstreit, der sich an den Hundehäufchen im gemeinsam benutzten Garten entzündete. Jede Partei hatte einen Dackel. Sie dekorierten das jeweils feindliche Häufchen mit kleinen Fähnchen in den Landesfarben, sodass der Garten sowohl mit dem Schweizer Kreuz als auch mit der italienischen Tricolore geschmückt war, sehr zum Spaß der Kinder im Viertel.
Oder die Geschichte, wie eine Ehefrau ihrem Mann ein Stückchen Romadour, sorgfältig in Stanniol gewickelt, unter das Seidentüchlein seines Sakkos stopfte, bevor er zur Vorstandssitzung davoneilte.
Urs seufzt. Er hat in letzter Zeit das Gefühl, dass das Leben langweiliger geworden ist.
„Verdammt. Alles schon gesagt.“
„Kein schlechter Titel." Ruth steht in der Tür zum Arbeitszimmer. „Gefällt mir. Das 'Verdammt' würde ich weglassen. Mach lieber ein Fragezeichen.“
Ruth hat eine grüne Kochschürze an, ihre Haare sind zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, ihr Gesicht glänzt rosig. Sie bringt den verführerischen Geruch von Gebratenem mit.
„Essen ist fertig. Kommst du?“
Auf dem Esstisch steht eine Vase mit Vergissmeinnicht und Narzissen. Hübsch, findet Urs, hübsch wie seine Frau. Etwas ungewöhnlich in der Zusammenstellung.
„Gibt's was Besonderes heute?“, fragt Urs und meint beides, den Blumenstrauß und das Essen.
„Nicht wirklich …, nein, ich glaube nicht.“
Ruth häuft Rösti auf die Teller und sticht für sich ein Spiegelei aus dem Keramikpfännchen ab, Urs bekommt drei. Dann streut sie je eine Handvoll Schnittlauch drüber.
„He, warum so üppig? Zwei täten's auch. Und warum so viel Grünzeug?“
„Ist gut fürs Gedächtnis.“
Was hat sie denn bloß heute?
Nachtisch gibt es keinen, nur einen Espresso. Warum auch? Beide achten auf ihre Figur, gegenseitig.
Ruth unterstützt Urs bei seinen Texten. Als gelernte Buchhändlerin hat sie ein gutes Gespür für Sprache und Interpunktion. Die Inhalte kommentiert sie gar nicht mehr. Eigentlich schade, denkt Urs, da gab es so herrliche Streitereien mit anschließender Versöhnung.
„Findest du den Titel wirklich gut? Du meinst, damit könnte ich was anfangen? ... So was wie eine Schreibblockade? Nicht schlecht, aber was soll dann das Fragezeichen?“
Vier Fragen auf einmal. Ruth schaut schräg an Urs vorbei auf die Wand hinter ihm.
„Ich wüsste schon einen Satz, den du noch nie gesagt hast.“
„Ich? Mach's doch nicht so spannend. Was soll das für ein Satz sein?“
Ruth betrachtet weiterhin die Wand. Dort hängt ein schlichter Abreißkalender. Für jeden Tag gibt es eine fette schwarze oder rote Zahl. Früher haben sie sich amüsiert über die Sprüche auf der Rückseite. Wie Kinder haben sie sich gestritten, wer abreißen darf. Unser ganzjähriger Adventskalender.
„Du hast noch nie gesagt: 'Ich liebe dich'.“
„Was? Ich? Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Du sagst ganz viele Sachen zu mir, doch, da hast du einige Fantasie. Aber diesen Satz hast du noch nie gesagt, jedenfalls noch nie zu mir.“
Urs holt tief Luft. Nichts hasst er mehr als Beziehungsdiskussionen. Eigene hatte er schon in den Affairen vor seiner Ehe mit Ruth. In der Redaktion kann jeder zweite damit aufwarten.
„Warum fängst du jetzt damit an? Ich versteh dich nicht.“
„Du wolltest einen Satz hören, den du noch nie gesagt hast. Bitte schön, das ist er. Im Übrigen glaube ich, du bist da nicht der einzige. In den Medien wird er allerdings geradezu inflationär gebraucht, auch von Männern."
Ruth starrt weiterhin auf die Wand, so dass Urs sich umdreht. Auf dem Kalenderblatt mit Freitag, 30. April, fällt ihm rechts unten ein handschriftlicher Zusatz auf: HT.
Oh Gott! Der Klassiker! Der vergessene Hochzeitstag!
Beschämt dreht er sich zu Ruth um, die angefangen hat, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen.
„Nein, lass nur, geh wieder an deinen Schreibtisch. Ist doch ein gutes Thema, oder?“, lächelt sie und zupft in der Blumenvase das Vergissmeinnicht etwas höher. „Soll ich nachher drüberschauen?“
„Besser nicht. Ich weiß sowieso nicht, ob ich etwas zustande bringe.“
Am Abend, nach einer halben Flasche Barolo, schickt Urs seinen Text an die Redaktion. Titel: Was ich schon immer sagen wollte.