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Alles so klar
Bevor die Klarheit über mich kam, verkörperte ich das, was sich die meisten zu sein wünschen. Heute kann ich darüber nur lächeln. Oft ist es ein gequältes Lächeln, denn ich habe einen hohen Preis für diese Erkenntnis bezahlt. Und doch würde ich um nichts in der Welt tauschen wollen. Denn selbst wenn die Momente der Klarheit flüchtig bleiben, sind sie in der Erfüllung, die sie in sich tragen, durch nichts zu ersetzen.
Manchmal kann ich nicht unterscheiden zwischen dem, was wirklich ist und dem, was ich mir nur einbilde. Die Stimmen meiner Sünden zersetzen oftmals meine Wahrnehmung. Erst wenn ich den Stift in der Hand halte und schreibe, überkommt mich wieder Ruhe. Aber ich greife vor.
Hübsch, das war eigentlich das einzige Kriterium. Ob blond, brünett, schwarzhaarig, ob große Brüste, kleine Brüste, ob kurze oder lange Beine – alles hat seine Qualitäten. Die Komponenten mussten nur passen, ein harmonisches Zusammenspiel ergeben.
Zu Beginn war ich wie die meisten Anfänger auf den klassischen Model-Typ aus: Blond, groß, voller Busen, lange Beine; jene Frauen, die dir aus den Werbespots und von den Plakaten zulächeln und von einer besseren Welt heucheln. Ganz klar hat dieser Typ seinen Reiz. Aber er verflüchtigt sich allzu rasch. Diese von Gott begünstigten Wesen werden langweilig, weil sie sich nie bemühen mussten, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, nie in die Verlegenheit gekommen sind, sich ihren Platz zu erkämpfen. Ihnen liegt die Welt zu Füßen. Sie wissen, wie sie bekommen, was sie wollen. Wahrscheinlich sind sie deshalb in ihrer Fantasie so eingeschränkt.
Mit anderen Worten: Dieser Typ Frau stillt den Appetit, nicht aber den Hunger.
Also machte ich mich auf die Jagd nach anderen Geschöpfen, nach Frauen, die sich dadurch auszeichneten, dass sie etwas aus sich machten; jene, die im Verlauf ihres Lebens lernen mussten, Strategien erwarben, um zu dem zu kommen, was sie begehrten. Dieser Typ Frau ist wesentlich kreativer. Einfallsreicher in allen Belangen. Insbesondere in dem Belang, auf den ich es abgesehen hatte.
Dann gab es da noch den für mich in Frage kommenden Typ drei. Das waren die Stillen und Unscheinbaren. Noch halb geschlossene Rosen, die nichts von der Pracht ahnten, die ihre Blätter zu verbergen suchten.
Jemand wie ich, der seinen Lebensinhalt darin sah, eben an jenen geschützten Nektar zu kommen, erkannte sehr schnell den feinen aber gewichtigen Unterschied zwischen denen, die eigentlich hübsch sein konnten und jenen, die eigentlich hübsch waren.
Der letzte Schlag bereicherte meine Streifzüge mit den wildesten Abenteuern, die zumeist zuverlässig in den Olymp der Befriedigung einzogen.
Gleichzeitig waren es auch die anstrengendsten. Dieser Typ Frau verkraftet die Erkenntnis meistens sehr schlecht, nur als Eroberung gedient zu haben.
Zwar berührten die Tränen mich nur so weit, wie ich aufgelegt war, sie an mich heran zu lassen (was in der Regel bedeutete, dass sie von meiner Fassade der Verständnis abperlten), aber es schmälerte im Nachhinein den zuvor erlebten Genuss. Ein Stück Kork macht den Wein nicht schlecht, doch er verfälscht eben die ihm eigene, besondere Note.
Ich kann trösten, ja das kann ich; aber diesen Teil meines vollendeten Schauspielrepertoirs gebe ich lediglich dann zum Besten, wenn daraus etwas Lohnendes zu erhoffen ist.
Ich muss mir zu Gute halten, dass ich mich nicht an den gebrochenen Herzen ergötzte. Ich spürte sehr wohl einen Hauch des Mitgefühls, wenn ich sah, wie die Realität die Objekte meiner Leidenschaft von ihren Wolken stieß. Doch ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass sie kleine Engel waren und ich sie das Fliegen lehrte. Immerhin hatten sie nicht nur gegeben, sondern auch empfangen.
Anders ausgedrückt: Die Szene danach war ein unbequemer Nebeneffekt, aber er bereitete mir keine schlaflosen Nächte.
Schlaflose Nächte waren allein für das Vergnügen reserviert.
Und ich schöpfte reichlich aus dem Quell des Vergnügens. Aber wie das so ist, mit dem Vergnügen: Es ist und bleibt etwas Vergängliches.
Ich erinnere mich noch genau an das euphorische Gefühl, als mir meine erste Eroberung glückte. Es schien, als hätte ich den höchsten Berg erklommen, den ich mir damals vorstellen konnte. Ich hatte den Gipfel der Männlichkeit bestiegen – ich selbst war der Gipfel der Männlichkeit. Und als mir bewusst wurde, welche Macht ich über das weibliche Geschlecht hatte, geriet ich in einen regelrechten Rausch.
Ich studierte die Frauen wie Insekten. Im Prinzip waren sie irgendwann auch nicht länger mehr als das. Ich entwickelte mich zu einem Sammler. Zu einem fanatischen Sammler. Nicht die Objekte der Begierde standen dabei im Vordergrund, sondern das Sammeln an sich. Das Zur-Schau-Stellen, das Ausstellen, das Dokumentieren, das Streben danach, in seinem Fach der unbestrittene Meister zu sein.
Während ich die Frauen studierte, vervollkommnte ich meine Fähigkeiten. Ich verbrachte mehr Zeit vor dem Spiegel als mit meinen Freunden (was wahrscheinlich auch daran lag, dass ich zu diesem Zeitpunkt kaum mehr einen Freund hatte). Jede Bewegung, jede Geste, jeder Blick, jedes noch so achtlos wirkende Wort, das ich von mir gab, jeder winzige Aspekt meiner nach außen gerichteten Persönlichkeit, wurde Teil einer perfekt inszenierten Show. Einer Show, die flexibel war und sich problemlos auf das Publikum einstellen konnte. Eine Show, die voller Variablen steckte und doch nur auf eine Art enden konnte.
Am liebsten war mir der Vergleich mit einem Schmetterlingssammler. Der Entomologe ist für die Schönheit der Schmetterlinge empfänglich, weiß um deren Fragilität, um deren Hilflosigkeit. Er fühlt sich von diesem sanften Zauber angesprochen und zögert dennoch nicht, diese unschuldigen Geschöpfe seiner Faszination zu durchbohren, um sie zu auszustellen. Mit Sicherheit bereitet es dem Sammler kein sadistisches Vergnügen, diese Magie seiner Lebendigkeit zu berauben, aber es wird ihm auch keine großen Gewissensbisse bereiten. Das Objekt der Begierde wird schlicht der Leidenschaft des Sammelns – des Besitzens – untergeordnet.
Und hier kommt die Frage nach dem Vergnügen ins Spiel. Das Vergnügen stellte sich nicht länger bei der Eroberung selbst ein, sondern erst nachdem ich sie hinter mich gebracht hatte, nachdem ich einen weiteren Eintrag in mein penibel geführtes Tagebuch verewigen konnte. Peinlich genau verfasste ich Steckbriefe über jeden Aspekt meiner Unterwerfungen. Allgemeine körperliche Gesichtpunkte, die Masche der Eroberung, die dafür aufgewendete Zeit, und so fort. Natürlich nahm der Teil, der den Höhepunkt einer gelungenen Verführung markierte – nämlich meinen – den größten Teil der Notizen ein. Sexuelle Vorlieben, Überredungstaktiken, tatsächlich realisierte Praktiken, Anzahl der Orgasmen, unterschieden in tatsächliche und vorgetäuschte (oh ja, das bildete ich mir ein, unterscheiden zu können), Anzahl und Dauer des Aktes – und ganz wichtig: die Qualität desselben. Erwähnung fanden selbstverständlich auch Komplimente und Kosenamen, mit denen ich bedacht wurde.
In dem Maße, wie meine Ausführungen immer akribischer wurden, nahm meine Sucht nach Eroberung zu. Ein Fieber hatte sich meiner bemächtigt, das beharrlich anstieg und nur im Schoß einer neuen Frau vorübergehend Linderung fand.
Doch selbst diese hielt nicht lange vor, sodass meine nächtlichen Abenteuer den Charakter von triebhaften Raubzügen annahmen. Kurz bevor mich das Fieber verbrennen konnte, begegnete ich dem einen Schmetterling, dessen Flügelschlag mein Weltbeben auslöste.
Der Bass beherrschte den gesamten Raum, pumpte das Adrenalin in die Körper, ließ die verschwitzten Leiber zucken, trieb die Lichter zu einem halluzinierenden Rhythmus, machte die Nacht zum Tag.
Es war ihre Nacht. Leilas Nacht. Leila, Inbegriff von Lebenslust und Sinnlichkeit. Und es würde meine Nacht sein. Ich spürte, dass es diesmal etwas ganz Besonderes sein würde. Ich sah es in der Art, wie Leila sich bewegte, sah es in ihren Augen, in diesen blitzenden Augen, und sah es in ihrem Lächeln. Sie war das pralle Leben, strahlte eine Energie aus, die dem Bass in nichts nachstand.
Und ich merkte es an mir selbst (das allerdings erst viel später). Ich stellte plötzlich fest, dass ich mich nicht mehr in meiner Choreografie bewegte, nicht länger meinen hart erarbeiteten Mustern folgte. Ich hatte mich in ihr Energiefeld saugen lassen. Natürlich ließ ich mich immer von meiner Beute anstecken, Empathie war der Schlüssel zu allem. Jedoch musste dies bewusst geschehen, denn letztlich galt es, den Partner zu lenken. Sanft, für ihn nicht spürbar. Ähnlich dem Phänomen in der Schule, wo man die besten Lernerfolge erzielt, wenn die Kinder die Beschulung nicht registrieren. So ist es auch in diesem Fall: Meine Opfer dürfen die Fäden nicht spüren, die ich spanne, die sie immer näher an mich heran ziehen, an mich binden. In dem Moment, in dem sie bemerken, wie ihnen geschieht, muss das gewebte Netz bereits so weich und einladend sein, dass sie nicht widerstehen können, dass sie nicht widerstehen wollen, dass sie freiwillig ihre gute Erziehung fahren lassen und sich in diesem Augenblick danach sehnen sich hinzugeben – sich hingeben müssen, weil sie sonst verbrennen würden.
Aber jetzt, während ich tanzte und tanzte und tanzte, wurde mir bewusst, dass ich wirklich nur tanzte, mich so sehr am Tanz mit Leila erfreute, dass ich mich ganz darin verloren hatte. Von Lenkung keine Spur.
Verloren, das ist wahrlich der rechte Begriff. Die Erkenntnis erschütterte mich, ließ mich straucheln, warf mich aus dem Takt. Es war nur eine Schrecksekunde, doch sie schlug mit vernichtender Macht auf mich nieder.
Ich! - aus dem Takt! Ich schlingerte von meiner Spur, ich hatte mich verlaufen, ich stürzte, ich …
Leilas Lächeln fing mich auf. Ein Blinzeln und all meine Ängste zerstäubten im Flackern des Stroboskops.
Wir saßen an der Bar, ich trank mehr als üblich, aber ich fühlte mich auf einer seltsam luftigen Ebene so klar wie nie zuvor. Es ist die Phase des Austauschs von Belanglosigkeiten. Eine Phase, die sich lediglich auf Smalltalk reduziert, da der Geräuschpegel nicht mehr zulässt. Und doch ist dies eine sensible Phase. Denn hier ist der Scheidepunkt. Hier wird entschieden, ob man „kurz mal rausgeht“, um sich besser unterhalten zu können oder ob es bei den Gesprächsfetzen blieb. Auch hierfür gab es ein Register an Regeln. Eine wichtige war - trotz aller Banalität des Gesagten - das Zuhören! Das Gefühl verstanden zu werden, war die gute Hälfte der Miete für ein warmes Bett.
Aber ich war kaum fähig zuzuhören. Ich ertrank in ihren Blicken, ließ mich verzaubern von den Blitzen, die darin Funken sprühend feierten. Dazu dieses Lächeln, dieses … Verdammt, ich hatte vollkommen die Kontrolle über mich verloren (Ganz am Rande ahnte ich, dass ich in einen Zustand verfallen war, den jene unerfahrene Tölpel gepachtet hielten, die den Heimweg stets allein antraten). Aber das Gefühl der Angst wiederholte sich nicht. Leilas Lächeln war ein Spanntuch aus Zuversicht. Ich war längst gesprungen und lag sicher darin, konnte keine Angst mehr vor dem Fallen haben.
Mir wurde schwindelig, als sie sich zu mir vorbeugte und fragte, ob wir kurz rausgehen wollen. Meine Wahrnehmung verlor sich in einer Wolke aus Moschus.
Hätte ich keinen Hocker unter dem Hintern gehabt, wäre es diesmal nicht bei einem Stolpern geblieben, diesmal wäre ich brutal gestürzt.
Meine Chance, bei dieser Erscheinung landen zu können, hatte ich längst abgeschrieben; die Ursache einem internen Betriebsfehler unbekannter Art zugewiesen. Es erschien mir wie eine Fehlgleichung, dass ausgerechnet Leila die nächste Phase einleitete, wo ich mich wie ein ausgemachter Narr verhielt, allen Geboten zuwider handelte. Um meine Unfähigkeit zu unterstreichen, fragte ich aus einem mir unbekannten Reflex heraus: „Was hast du gesagt?“
Das ist eine Killerphrase, deren Ideenlosigkeit nur mit ihrer Fatalität gleichzieht.
„Ich brauche frische Luft“, variierte sie.
Leila ließ keinen Raum, um diese zweite Chance zu vereiteln, sondern stand auf und zog mich wie einen Magneten mit sich. Ich folgte ihr nach draußen in die bereits aufkommende Dämmerung. Es war erstaunlich frisch, aber ich hieß die Kühle willkommen. Das Prickeln auf den nackten Armen und im Gesicht half mir, diese Situation als real einzustufen. Und wie gut die Luft schmeckte. Mir war bisher nicht bewusst gewesen, dass „klar“ ein Geschmack sein konnte, aber genauso war es. Die Luft schmeckte klar. Belebend. Lebendig.
„Schön, nicht?“, fragte sie und blickte in den Sonnenaufgang. Die Stadt war in sanftes Rosarot getaucht. (Rosarot – man lese die Zeichen!)
Ich lächelte, sagte „ja“ und meinte es so.
Wir standen dicht beieinander, aus dem Club dröhnte gedämpft der Bass, bildete einen seltsamen Kontrast zu dem Frieden hier draußen.
Ich überlegte, was als nächstes geschehen müsste. Eigentlich hätte ich eine Jacke dabei haben sollen, um sie ihr umlegen zu können. Sie jetzt schon umarmen? In ein Gespräch verwickeln? Schlicht nur den romantischen Augenblick genießen, still dabei bleiben?
Da mir keine Antwort kam, schwieg ich einfach und kostete diese Zweisamkeit aus. Ich erkannte mein Zeichen, als Leila sich die Oberarme rieb. Aber bevor ich sie wärmen konnte, wurde der Frieden gestört. In einem Film vernähme man jetzt das misstönende Geräusch von einem Tonabnehmer, der quer über eine Vinylplatte gezogen wurde.
„Wer is’n der?“
„Das geht dich gar nichts an, Olaf. Was willst du?“
„Nur mal mit dir reden.“
„Ich aber nicht mit dir. Es wurde alles gesagt.“
„Ey du“, fixierte er mich, „troll dich, ich will mit meiner Freundin allein reden.“
In meinem Metier gab es viele Regeln. Eine der wichtigsten lautete: Gestehe deine Niederlage ein, wenn sie klar (alles ist so klar) ersichtlich ist. Das galt insbesondere bei unerwarteten „Fremdkörpern“. Anders ausgedrückt: Es gibt zwei Wege zu erobern. Durch Kampf oder durch List und Tücke. Ein kluger Feldherr agiert mit letzterem und stellt sich nur dann einem Kampf, wenn für ihn klar ist, dass er ihn gewinnen wird.
Olaf war einen halben Kopf größer als ich und deutlich breiter. Zudem hatte er einen Kerl bei sich, für dessen Körperwuchs wohl einst das Merkmal „schlecht gebauter Schrank“ ersonnen wurde. Die Augen des Hünen waren starr aufgerissen und er nickte unablässig neben dem Takt, der aus dem Club stampfenden Musik.
Umso erstaunter war ich, als ich mich selbst sagen hörte: „Ich fürchte, die Dame sieht das anders.“
Jetzt hatte ich Olafs volle Aufmerksamkeit. Ungläubige Falten fraßen sich in dessen Stirn, schienen irgendwie auf die Augen zu drücken und ein Schielen auszulösen.
„Ich hoffe für dich, deine Beine arbeiten schneller als dein Gehirn. Verzieh dich!“, blies er mir seinen Alkohol geschwängerten Atem ins Gesicht. Sein Kumpan trippelte näher. Dessen Handschaufeln öffneten und schlossen sich unrhythmisch zum gedämpften Beat.
„Olaf, lass ihn!“, fuhr Leila dazwischen.
„Du halt dich da raus!“
Spätestens jetzt, da der Ton schärfer wurde, Aggression in der Luft lag, hätte ich mich ausklinken sollen. Aber ich verharrte und einen Augenblick später konnte ich nicht mehr zurück.
„Dein blödes Grinsen hau ich dir aus der Fresse!“, röhrte Olaf.
Leila schrie auf, als Olaf zu einem mächtigen Schwinger ausholte. Ich konnte unter dem Schlag wegtauchen, es war beinahe zu leicht. Ich fühlte mich ätherisch, unbezwingbar, musste grinsen, wollte jubeln, wollte –
Ich ahnte, dass mir jenes Grinsen im Gesicht stand, das ich bisher immer verachtet hatte. Ein unkontrolliertes Grinsen, das dem Hormontaumel entspross und in seiner Arglosigkeit ebenso unfreiwillig wie dümmlich wirkt.
Die Erfahrung, plötzlich am anderen Ende der Leitung zu stehen, um die eigene Schutzlosigkeit zu wissen und sich ihrer nicht zu schämen, verursachte ein Kribbeln, das sich allen Erklärungsversuchen entzog.
Das eigentlich Verblüffende war jedoch die Erfahrung, wie egal mir alles war, was jenseits dieses Gefühls lauerte. Mir schien, als wandelte ich auf einer transzendenten Ebene, die mir erlaubte, hinter die Leinwand des irdischen Dramas zu blicken. Und was ich erblickte, waren Menschen, wie ich selbst noch vor kurzem einen verkörpert hatte: Arrogante Individuen, gefangen im Spannungsverhältnis ihrer Sucht nach Anerkennung und der Angst vor dem Sich-Einlassen.
Und in diesem Augenblick der Umwandlung durchlebte ich ein Gefühl, das für mich ein spirituelles Erlebnis darstellte. Ich sah - ich erlebte - wie die Menschen bedacht wurden, die sich in ihrer Borniertheit aus dem Kosmos der Freude ausschlossen, dessen ich gerade teilhaftig wurde: Ich empfand Mitleid mit ihnen. Ich empfand Mitleid mit mir selbst.
Der Schrank erwischte mich von der Seite. Der Schmerz war so heftig, dass alles darin versank. Leilas Geschrei, die Schemen meiner Peiniger, der Club. Der Sonnenaufgang zerging von Rosa in Blutrot und erlosch in Schwarz.
Ich nehme das dicke lederbezogenen Buch in die Hand, befühle es. Es ist ganz abgegriffen. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht wenigstens einmal die Einträge durchgehe, mich mit ihnen geißle. Ich kenne sie längst auswendig, aber die Furcht, dass ich doch einmal einen Namen vergessen könnte, lässt mich nicht los.
Jeder Name verkörpert ein Verbrechen, dessen ich mich schuldig gemacht habe. Ich kann meine Taten nicht ungeschehen machen. Aber das Mindeste ist, dass ich die Opfer meiner Gier in Gedanken halte. Ich hoffe, dass ich damit ihre Stimmen besänftigen kann.
Ich blättere das Buch durch, überfliege die Notizen, nenne ihre Namen und bitte dabei um Vergebung.
Manchmal zweifle ich an alledem – aber sind die Stimmen nicht der Beweis für meine Sünden?
Das letzte Drittel des Buches unterscheidet sich von dem katalogartigen Aufbau.
Diese Seiten sind nur einer einzigen Person gewidmet. Erst ab hier kann ich das Buch mit einem ruhigen Gefühl lesen, hier werden die anklagenden Stimmen leiser. Und mit jedem Wort, das ich hinzufüge, verstummen sie mehr und mehr. Hier tue ich etwas Gutes. Das spüre ich. Ich schreibe über die Liebe, über die wahre Liebe, die alles zu heilen vermag. Und diese Liebe heißt Leila. Leila und immer wieder Leila. Meine Läuterung. Ich schreibe ihr jeden Tag, bekräftige jeden Tag aufs Neue meine Schwüre mit flammender Schrift.
Ja, ich habe den Eindruck, als könne ich die Schmach meiner vergangenen Taten damit rein waschen, indem ich meiner Liebe zu Leila Ausdruck verleihe.
Immer, wenn mich mein schlechtes Gewissen überkommt, wenn mich die Bilder der Frauen heimsuchen und mich anklagen, zücke ich das Buch und schreibe an dem Brief für Leila weiter. Es ist wohl eine Art Manifest, eine Bibel, die ich mir irgendwo selbst schreibe, die mir Kraft gibt, die mich aufrichtet und die Furcht vertreibt. Die Stimmen vertreibt.
Bisher habe ich mich noch nicht getraut ihr das Buch zu zeigen. Unsere Momente sind zu kostbar, um sie mit dem Gewicht meiner Schuldgefühle zu belasten.
Ich höre die Tür schließen.
„Leila?“
„Ich bin es nur, Monsieur“, flötet meine Haushälterin durch den Flur. Ich schüttle den Kopf und muss über mich selbst lachen, müsste ich es doch besser wissen. Leila – um diese Zeit? Nein, das sah ihr gar nicht ähnlich. Leila kam nie um diese Stunde. Doch mein Lachen ist kein fröhliches. Ich weiß selbst nicht, weshalb mich plötzlich solche Trauer überkommt. Ich fühle mich so leer, so … unwirklich.
„Wie war Ihr Tag, Monsieur?“
„Wie immer, Virginia, wie immer.“
Dann lächle ich und erzähle Virginia von Leila. Das mache ich immer, es ist ein einstudiertes Ritual. Virginia räumt auf und kocht und ich erzähle von Leila. Ich mag es, Virginia von Leila zu erzählen. Sie stellt nie irgendwelche Fragen, sondern nickt munter mit dem Kopf, derweil sie emsig ihren Tätigkeiten nachkommt. Nur manchmal, wenn sie glaubt, ich würde es nicht bemerken, sieht sie mich mit diesem seltsamen Gesichtsausdruck an. Mitleid, denke ich. Aber ich kann mir das auch nur einbilden.
„So, dann wollen wir Sie mal bettfertig machen, Monsieur.“
„Das schaffe ich schon allein, Virginia.“
„Das weiß ich doch, Monsieur. Aber Sie zerfleddern immer das ganze Bett.“ Sie blinzelt mir verschwörerisch zu. „Was soll denn Leila davon halten?“
„Sie würden Leila mögen, Virginia“, lache ich, während sie mich ins Schlafzimmer schiebt. „Ich werde Leila bitten, morgen etwas früher zu kommen, damit ich sie beide vorstellen kann.“
Aus den Augenwinkeln nehme ich wieder jenen Blick wahr. „Ja, das wäre schön, Monsieur“, sagt Virginia, als sie mir ins Bett hilft. Ihre Stimme klingt traurig dabei. „Gute Nacht.“
Ich bleibe noch eine Zeitlang wach und warte. Auch das ist ein Ritual. Es ist wie der Versuch auf den Weihnachtsmann zu warten. Letztlich nicke ich immer ein. Zum Ritual gehört auch, dass mir hinter dem Schleier die Frauen aus meiner Vergangenheit auflauern. Das ist der schrecklichste Moment, der nichts mit dem Weihnachtsgefühl zu tun hat. Die Stimmen drohen mich zu zerreißen. Hier in der Dunkelheit bin ich ihnen schutzlos ausgeliefert. Doch bevor sie mich packen können, schwebt Leila sanft wie ein Schmetterling ins Zimmer. Kein Dämon hat eine Chance gegen dieses Leuchtfeuer in ihren Augen. Mit einem Blinzeln verscheucht sie die Geister meiner Vergangenheit und schmiegt sich an mich.
Und dann ist plötzlich alles wieder so klar.