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Als ich zum Opfer wurde
Als ich zum Opfer wurde
Es war ein noch dunkler Morgen im Herbst. Ich eilte zur Bushaltestelle, wurde von einem hellen „Guten Morgen.“ am Zipfel gezupft. Ein kleines Kind stand in dem finsteren Garten, in den ich meistens hineinlugte, wenn ich von der Uni zurückkehrte. Ich erwiderte den Gruß und zog weiter, meine Laune war sichtlich erhöht. Wie gut, dass Worte nicht bis in die letzten Ecken menschlicher Gefühlskategorien hinreichen konnten. Wie gut, dass sich der Mensch nicht selbst erschaffen konnte. Wie gut, dass Ehrlichkeit Selbstbetrug war.
Als die Schläge niederprasselten, schaute ich weg. Ich schwebte. Mein Körper wurde geschunden. Das brauchte ich nun wirklich nicht, plagten mich schon seit Stunden strahlende Kopfschmerzen. Mein Kopf. Und das jetzt auch noch. War das nicht mein damaliger Musiklehrer? Wenn ich Lehrer oder Professoren radeln sah, erheiterte mich das ungemein. Sehe, was geschehe.
Mit dreizehn Jahren hatten mich Züge fasziniert. Zugekifft waren wir auf den Bahngleisen gelaufen. Ganz nah hatte ich mich herangetastet, wenn ein Zug vorbei fuhr. Sie hielten mich fest, damit ich nicht die Grenze überschritt. In Dänemark war ich alleine. Ich saß auf einer Stange und wartete auf einen Zug. Er kam nie. Es waren nur Ferien. Die Zeit hatte nicht gereicht. Mein Zug war Godot.
Er nannte mich Hure. Er hatte eine Grenze überschritten, und von diesem Tag an verlor ich jeglichen Respekt. Was sich liebt, das reizt sich bis aufs Blut. Ich genoss es sein Herz so lange zu drücken, bis es fast zu schlagen aufhörte. Er stellte mir dafür immer stechendere Schmerzen aus. Ich nahm sie an und schwieg, bis es überkochte. Aber er war jedes Mal stärker. Ich hatte nicht gewusst, dass man kochendes Wasser herunterdrücken konnte. Zurück in seinen Topf. Er verbrannte sich dabei kein-Wort-könnte-es-beschreiben stark, aber er gab nie auf. Ich mutierte unter seinem Schutz.
Sie saßen tuschelnd an zwei zusammengestellten Tischen. Mit Stolz präsentierte mir Alina eine tiefe Schnittwunde. Sie trug sie nicht einmal verdeckt, zeigte sie der Welt wie ein Radfahrer sein gelbes Trikot. Wir befuhren die Pyrenäen. Mich verglich man mit einem angriffslustigen Emporkömmling, ich sah es in ihren Augen. Ich war eine Bedrohung, die man nicht aus den Augen ließ. Sie waren nur begrenzt nett zu mir. Dabei hatte ich sie nie gebraucht. Ich redete mir nachtnächtlich ein, dass ich nur mich und ihn brauchte. Er war auch selten nett, aber auf ihn war Verlass.
„Hallo, Sonnenschein!“ zupfte mich am Zipfel. Ich drehte mich um und sie drückte und küsste mich. Ich hatte das bislang nie erwidern können. Solche Zutraulichkeiten lähmten mich. Man schreckte sogar vor meinen Berührungen zurück, es passte nicht hinein. Daran hatte ich Spaß gefunden. Die überraschende Andersartigkeit der Ghalia B. Ich liebte mich, wenn ich andere beeindruckte.
Wir saßen im Auto. Sie weinte. In meiner Gegenwart. Nicht alleine unter der Bettdecke weinen. Kein Teddybär, der einen blind verstand, den man danach vor den Augen der Außenwelt verstecken musste. Sie hätten gemerkt, dass er versteht und ihn mitgenommen. „Meine Mutter tritt seit Jahren gegen Gewalt in Familien auf. Seit Jahren ist sie engagiert und schreibt lange Reden. Dass wir eine Heidenangst vor unserem Vater hatten, das wollte sie nie hören.“ Was hätte ich ihr alles erzählen können. Aber ich konnte nicht diese Grenze überschreiten. Nicht in ihrer Gegenwart.
Er lag auf mir und mühte sich ab. „Liebst du mich?“ Ich glaubte nicht recht zu hören. Allzu lange durfte ich nicht zögern. Ich lachte auf und warf ihm vor: „Was für eine Frage!“ „Du zeigst es aber nie, so wie es andere Frauen tun.“ Wut stieg in mir auf. Ich schluckte, lächelte und sprach gespielt irritiert: „Sicher tue ich das!“ Ruckartig drehte ich mich um, schloss meine Augen und hoffte, dass er mich in Ruhe ließ. Hätte mich nicht gewundert, wenn er mich wegen des zugekehrten Arsches verprügelt hätte.
Mit dreizehn hatte ich sterben wollen. Irgendwann hatte ich diese Zeit als einen Teil der Pubertät abgeschrieben und mir eines geschworen: Niemals würde ich mich wieder so hängen lassen.
Die Todessehnsucht nahm mich bei der Hand. Verzweifelt hörte ich Liebeslieder, schaute Liebesfilme, las Romeos Schwüre, um an Schönes zu denken. Doch entweder zermürbte mich der traurige Schluss der Geschichten oder ich verging in der Sicherheit, dass mir nie etwas Gutes begegnen würde. Oder er gesellte sich zu mir und schwärmte seiner großen Liebe von der großen Liebe vor. Ließe ich ihn allein, so stürbe er. Ich stellte ihn mir tot vor. Seelisch tot. Ein Teil von mir würde ihm ins Grab folgen.
Es war ein dunkler Morgen im Herbst. Ich versuchte nicht an die Scham zu denken. Nicht an die Konsequenzen, die ich in meiner Vorstellung nicht ertragen konnte. Ich schob die Anderen beiseite und konzentrierte mich auf mich. Die Ahnung tat weh. Die furchtbare Ahnung von der Zerstörung, die ich anrichtete. Ich trat vor: „Mein Mann schlägt mich.“ Ich trat auf. Die Lichter fingen mich ein. Wärme. Klebrige Wärme. Es ekelte mich an. Sie zogen an mir; bis ich mich fallen ließ. Ich gab mich meinem Schicksal als Opfer hin.