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Alter Narr

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18.07.2022
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Alter Narr

Die Jahre der großen Taten sind für Walther längst vorbei. Der Lebensabend ist entschleunigt, Pflichten reduzieren sich auf ein Minimum. Als Rentner lebt er in den Tag hinein und versucht so gut es geht gesund zu bleiben.
Die Beine sind müde, in die Jahre gekommen. Aber der Kopf ist noch frisch und jung. Geruhsam sitzt Walther in seinem Ledersessel und liest. Bücher regen seine Fantasie an und schaffen klare Bilder vor seinen trüben Augen. Alle paar Seiten klappt er das Buch kurz zu und denkt nach. Die Brille lässt er dabei an der dunkelroten Kordel auf seiner Brust hängen. Er wischt sich die Augen, sinniert über Vergangenes und starrt dabei aus dem Fenster. Das nasse, braune Laub tanzt mit dem Wind um die Bäume.
In seinen 87 Jahren hat er viel erlebt. Sogar mehr als die meisten anderen seines Alters im Wohnheim.
Er denkt häufig an die goldenen Zeiten, die schönen Jahre. An seine schon lange verstorbene Ehefrau Daisy, die ihm nicht nur ein wunderschönes Leben, sondern auch drei Kinder und sieben Enkel beschert hat. Es vergeht kein Tag, an dem Walther nicht vor dem gerahmten Foto auf dem Sekretär stehen bleibt und seiner Frau zulächelt.
Die vielen schönen Jahre, die sie gemeinsam hatten, werden allerdings durch die Erinnerung an eine beschwerlichere Zeit getrübt. Am Anfang, als sie sich kennenlernten, wusste niemand, ob sie sich je wieder sehen würden. Mit 20 Jahren wurde Walther eingezogen und musste im Krieg gegen die Deutschen kämpfen. Sein Einsatz dauerte drei Jahre, dann war der Krieg vorbei. Das letzte halbe Jahr verbrachte er verletzt in einem Krankenhaus in Südengland, bevor er nach Hause konnte. Dort lernte er George kennen, einen Piloten der Royal Air-Force. Die beiden entwickelten eine tiefe Freundschaft, die noch viele Jahre nach dem Krieg andauerte.
Doch irgendwann stritten sich die beiden wegen eines Investments. Walther sagte zu George, dass er ihn nie wieder sehen wollte und den Tag bereut, an dem er ihn kennengelernt hatte.

So vergingen 27 Jahre.

„‘N guten Piloten hätten sie niemals gekriegt.“ Flucht Walther und gießt sich ein kleines Gläschen Kräuterlikör ein.
Wie jedes Jahr am 28. Juli erhebt er das Glas auf George und trinkt auf sein Wohl. Das tut er auch an Daisys Geburtstag und zu seinem eigenen.
„Kümmerst dich bestimmt noch immer um deine Hühnerfarm, alter Zausig!“ Schimpft er und leert das Glas.
Natürlich würde er zu gerne wissen, was George heute treibt und wie es ihm geht. Zwar hat er ihm nie verziehen, aber den genauen Grund des Streits weiß er auch nicht mehr.
Aus der hintersten Ecke des Kleiderschranks zieht er eine alte Keksdose aus Blech.
„Jesus! Verdammtes Kreuz!“ Flucht er, als er sich wieder aufrichtet.
Zurück ins Wohnzimmer geschlürft lässt er sich in den Sessel fallen und atmet durch.
Die Kiste ist randvoll mit Fotos und Ansichtskarten. In die Jahre gekommenes Zeug, brüchig, vergilbt. Walther geht die Fotos einzeln durch, nimmt jedes in die Hand und schwelgt in Nostalgie.
Es sind Farbfotos seiner Kinder und Enkel bis hin zu schwarz-weiß Fotos aus alten Tagen. Er atmet den Staub aus längst vergangenen Zeiten, riecht den Geruch vergessen geglaubter Momente. Ein Foto schaut er besonders intensiv an. Es zeigt George und ihn, damals, auf einer Parkbank vor dem Netley Hospital. Die Graustufen des Bildes erzeugen eine eigenartige Reminiszenz, als ob es damals keine Farben gegeben hätte. Der längliche Knick skizziert den Bruch der alten Freundschaft auf eine besonders charakteristische Art.
Walther legt es auf die Seite und sucht weitere Bilder mit George heraus. Das monotone Ticken der alten Wanduhr treibt ihn an wie einst Trommelschläge einen Galeerensklaven. Nach Stunden des Betrachtens und Sortierens hält er vierzehn alte Momentaufnahmen in den Händen. Zu jedem Bild fallen ihm Geschichten ein und er erinnert sich, als wären sie erst gestern geschehen.
Er setzt sich an die alte Schreibmaschine, prüft die Schreibwalze und bewegt vorsichtig den Farbbandhebel. Die alte Lady hat mindestens so viele Jahre auf dem Buckel wie die Fotos. Walther nimmt einen Bogen Papier aus der Schublade und beginnt zu schreiben. Der Brief endet mit den Worten „du alter Narr, es tut mir leid. -W.“
Sorgsam liest er den Brief noch einmal durch, schaut sich die Fotos dazu an und verpackt alles in einem großen braunen Umschlag. Mit dem Füller schreibt er die Adresse auf das Couvert, die er in seinem alten kleinen Adressbuch gefunden hat. Ob sie noch aktuell ist wird sich zeigen.
Wochen vergehen. Walther denkt schon kaum noch an den Brief aber verflucht ihn, wenn er es tut.
An einem Samstagmittag klingelt es plötzlich. Es muss jemand aus der Familie sein, denn sonst bekommt er im Wohnheim von niemandem Besuch. Er öffnet die Tür und erblickt eine junge Frau.
Der Herbstwind hat ihr die Haare zerfurcht. Sie schaut ihn mit einem ernsten Lächeln an.
„Sind Sie Walther Wilson?“
Überrascht starrt er sie an, aber erkennt die feinen Gesichtszüge.
„Und sie müssen eine Armstrong sein.“ Sagte er mit fester Stimme.
„Das war ich, heute bin ich eine Brown, Silvia Brown.“
Sein Blick wird ernster und er mustert sie von Kopf bis Fuß.
„Nun; Was hat der alte Narr zu sagen?“
Sie greift in ihre Handtasche und holt das verknitterte, braune Couvert raus, welches Walther vor zig Wochen verschickt hat.
Es wurde nie geöffnet.
„Ich weiß nicht, was er zu sagen hätte, aber ich soll Ihnen das hier geben.“ Sie holt einen weißen Briefumschlag heraus und gibt ihm beide. Walther setzt seine Brille auf und nimmt die Briefe in Augenschein.
„Für den Fall, dass Sie sich jemals melden, sollten Sie diesen Brief bekommen. Das hat er vor Jahren schon so verfügt.“
„Verfügt?“ Fragt er ungläubig.
„Er liegt im North Devon Hospiz. Fortgeschrittene Demenz. Wirklich schlimm.“
Walther kann seinen Blick nicht von den zwei Umschlägen lösen, aber als er es tut, läuft die junge Dame schon über den Hof zu ihrem Wagen. Er blickt ihr hinterher bis sie wegfährt, dann schließt er die Tür und geht zu seinem Sekretär.
Als erstes öffnet er den Brief, den er selbst verschickt hat. Der Inhalt ist unangetastet und wurde außer von Walther selbst von niemandem gesehen. Er öffnet die mittlere Glastür und bedient sich am Kräuterlikör, während er die Fotos erneut begutachtet.
In zwei Zügen leert er das kleine Gläschen und öffnet mit nervösen Händen den weißen Umschlag.
27 lange Jahre hat er nichts mehr von George gehört. Walther hatte sich all die Jahre gefragt, ob er nachgeben und den Kontakt wieder herstellen sollte. Doch er tat es nicht, obwohl er schon lange nicht mehr wirklich böse auf ihn war. Er liest den Brief seines einst besten Freundes wieder und wieder.

Am nächsten Tag, neun Uhr in der Früh, wickelt Walther seinen Schal um den Hals. Er streift sich den warmen Mantel über und setzt seine Schiebermütze auf. Die ledernen Handschuhe machen den Schutz gegen die herbstliche Witterung komplett.
Er steigt in das Taxi, das er noch am Vorabend bestellt hat. Es fährt los in Richtung North Devon und hinterlässt eine nasse Spur auf dem kalten Laub.

„George Armstrong bitte. Wo finde ich ihn?“, fragt Walther an der Pforte. Die junge Schwester beginnt wortlos den Computer zu befragen.
„Mr Armstrong liegt in Zimmer B-19.“
„Und wo verflucht ist das??“
„Haus B, Zimmer 19.“, sagt sie entrüstet und zeigt durch die große Fensterfront auf das Nebengebäude.

Als Walther das Zimmer betreten will, kommt gerade ein Pfleger hinaus und schmeißt einen Strauß welker Blumen in den Müll neben der Tür.
Sie grüßen sich. Walther holt unauffällig den Strauß aus dem Müll und richtet ihn notdürftig her. Dann geht er hinein.

In dem fast schon opulenten Zimmer steht ein großes metallenes Bett, Blickrichtung aus dem Fenster, in den Park.
Darin liegt eine fahle Gestalt, eingefallen, hautüberzogene Knochen. Es riecht nach Sterillium und muffiger Bettwäsche. Ein EKG zeigt stummgeschaltet den Rhythmus seiner letzten Reise, die wohl bald irgendwann enden wird.
Walther setzt sich langsam auf den Hocker, der neben dem Bett steht und nimmt die Hand der Gestalt. Die alten Blumen legt er auf den Nachttisch. Ob es George ist, kann er nicht genau sagen, denn von seinem einstmals besten Freund ist nur ein zugedeckter Haufen Reisig geblieben.
„Damals, kurz nach dieser Sache da… Du hast diesen Brief geschrieben. Warum hast du ihn mir nie gegeben?“ Er drückt seine Hand und George reagiert. Er dreht langsam den Kopf und schaut Walther an.
„27 verfluchte Jahre… Das hätte nicht sein müssen. Ein Drittel! Wir haben ein Drittel unseres Lebens vergeudet…“
George beginnt mit seinen trockenen Lippen zu schmatzen.
„Wer… sind… Sie?“, presst er unter Anstrengung hinaus.
Walther holt das gefaltete Couvert aus seiner Mantel-Innentasche und hält George die alten Fotos vor die Brust. George betrachtet das erste Foto intensiv, ohne es zu greifen.
„Erinnere dich, alter Narr!“, fordert Walther und zeigt ein anderes Foto. George starrt, als würde er durch die Bilder hindurchsehen.
„Weißt du nicht, wer ich bin? Walther! Walther Wilson! Damals, Netley Hospital ‘44, die hatten dich abgeschossen.“ Er lacht.
„Haben dich vom Himmel geholt, die Mistschweine. Bist wie ein Engel vom Himmel gefallen…“. Sein Lachen wird trüb und nachdenklich.
„Naja, bald bist du ja wieder oben.“ Er nimmt die Fotos und legt sie sorgfältig in George’s Hand.
Walther steht auf und geht zum Fußende des Bettes. George’s Blick folgt ihm.
„Du sollst nur wissen, dass du mal einen besten Freund hattest. Im Krieg habt ihr euch kennengelernt, und im Krieg seid ihr auseinander gegangen. Dafür entschuldige ich mich.“

Mit traurig-ernster Miene schaut er George an. George schaut nur paralysiert zurück, so als würde er durch Walther durchschauen.
„Leb wohl, alter Freund. Man sieht sich.“
Er klopft ihm zwei Mal aufs Fußende und geht Richtung Ausgang.
Sein Herz ist schwer, seine Augen nass.

„Alter Narr!“-hört er, kurz bevor er den Raum verlässt.

 
Zuletzt bearbeitet:

Moin @LexLehman,

keine Ahnung, warum ich im ersten Augenblick nach dem Lesen deines Nicks an Lex Luthor denken musste ... das kommt, wenn man zu viel Batman-Comics gelesen hat in der Jugend. Aber wie dem auch sei. Ich fang mal an.

Das nasse, braune Laub tanzt mit dem Wind um die Bäume
Ein Hinweis auf die Jahreszeit, nehme ich an (Laub kann ja länger liegen oder bei zu großer Trockenheit schon im August auf der Straße liegen). Aber nasses Laub, wenn es gut nass ist, klebt häufig am Boden. Vielleicht lassen sich Jahreszeit und Laub verbinden durch: Das Herbstlaub tanzt mit dem Wind um die Bäume. Oder so ähnlich ...

Ehefrau Daisy, die ihm nicht nur ein wunderschönes Leben, sondern auch drei Kinder und sieben Enkel beschert hat
Klar, was du meinst, aber präziser ist ein 'und somit' oder 'und damit' oder 'und diese Jahre später sieben Enkel', weil dann die Enkel nicht direkt von Daisy kommen, sprachlich. Beschert hat sie ihm drei Kinder. Und diese ihm dann sieben Enkel.

Walther sagte zu George
Nur fürs Protokoll: Gibt es im Englischen das 'th' in Walter?

„‘N guten Piloten hätten sie niemals gekriegt.“ Flucht Walther
So wie du es schreibst, muss es heißen: "... hätten sie niemals gekriegt", flucht Walther ..." Aber: das ist ja kein Fluch. Also besser so: "... hätten sie niemals gekriegt", sagt Walter und schickt einen Fluch hinterher.

Zurück ins Wohnzimmer geschlürft lässt er sich in den Sessel fallen und atmet durch
geschlürft ... die Suppe, den heißen Tee. Du meinst: geschlurft. Ist aber umständlich eingebaut. Walter schlurft zurück ins Wohnzimmer, lässt sich in den Sessel fallen und atmet durch.

Die Kiste ist randvoll
Vorher ist es ne Blechdose. Da hat man eine Größenvorstellung. Jetzt ist es eine Kiste. Könnte auch aus Holz sein. Und viel größer. Lass es eine Blechdose sein.
schwarz-weiß Fotos
Wenn du es als Adjektiv schreibst, dann schwarz-weiße ... aber das wäre sehr ungewöhnlich, wenn nicht verkehrt. Also Schwarzweiß-Fotos.

Ein Foto schaut er besonders intensiv an
Weil das Wort 'Foto' zuvor gefallen ist, genügt: 'Eines davon ...'

Die Graustufen des Bildes erzeugen eine eigenartige Reminiszenz, als ob es damals keine Farben gegeben hätte
Das ist mal richtig 'tell', also du erklärst. Das denkt nicht Walther, sondern der Autor erklärt, was passiert. Mit seinen Worten. Aber wir Leser wollen nah bei Walther bleiben. 'Komisch, denkt Walther, als hätte es damals keine Farben gegeben und fährt mit dem Finger über das Foto (wir wissen ja, dass es Schwarzweiß-Bilder sind)

Der längliche Knick skizziert den Bruch der alten Freundschaft auf eine besonders charakteristische Art
Ebenso hier. Autor erklärt. Walther sieht den Knick, die abgeblätterte Beschichtung. "Ein Knick durch unsere Freundschaft", flüstert er.

Walther denkt schon kaum noch an den Brief aber verflucht ihn, wenn er es tut
schon = Füllwort. Kann weg. Du brauchst noch den Bezug von denken zu fluchen. Also: 'Walther denkt kaum noch an den Brief, verflucht es, wenn ihm das passiert.'

An einem Samstagmittag klingelt es plötzlich
plötzlich ist auch ein Unwort und sollte sehr sparsam eingesetzt werden. Denn plötzlich kann immer sein. 'An einem Samstag klingelt es.' Du kannst höchstens ergänzen '... zu ungewöhnlicher Zeit. Die Post kann es nicht sein.'

„Nun; Was hat der alte Narr zu sagen?“
"Nun, was hat der alte Narr zu sagen?"

Walther setzt seine Brille auf
sein/e, mein/e, sich, mir ... in der Regel unnötig und eine Dopplung des Besitzes. Da nur er als Briefleser anwesend ist, KANN es nur seine Brille sein. Also: 'Walther setzt die Brille auf.'

Er streift sich den warmen Mantel über und setzt seine Schiebermütze auf
Er streift den warmen Mantel über und setzt die Schiebermütze auf.

„Haus B, Zimmer 19.“, sagt sie entrüstet
"Haus B, Zimmer 19", sagt sie entrüstet ...

Walther holt unauffällig den Strauß aus dem Müll und richtet ihn notdürftig her. Dann geht er hinein
Das ist ein gutes Detail und trägt stark zur Charakterisierung von Walther bei.

steht ein großes metallenes Bett, Blickrichtung aus dem Fenster
... steht ein großes, metallenes Bett in Blickrichtung zum Fenster

Darin liegt eine fahle Gestalt, eingefallen, hautüberzogene Knochen. Es riecht nach Sterillium und muffiger Bettwäsche. Ein EKG zeigt stummgeschaltet den Rhythmus seiner letzten Reise, die wohl bald irgendwann enden wird
Da stelle ich die Frage: Es ist Herbst. Ist der Arme nicht zugedeckt? Ist er zugedeckt, sieht man ein fahles Gesicht, eingefallene Wangen, einen knochigen Kiefer ... so was in der Art.
bald irgendwann ... da musst du dich entscheiden. Ich empfehle keines. Im Prinzip ist klar, dass es nicht mehr lange dauern kann.

ist nur ein zugedeckter Haufen Reisig geblieben
Wie? Ist das ein Bild für 'ein knöchriges Gerippe'?

Er drückt seine Hand und George reagiert. Er dreht langsam den Kopf und schaut Walther an.
Walther drückt seine eigene Hand? 'Er drückt die Georges schmale Hand. Der reagiert, dreht langsam den Kopf und blickt Walther an.'

sorgfältig in George’s Hand
Im Englischen ist ein Apostroph korrekt. Im Deutschen nicht (meine ich jedenfalls). Müsste also Georges Hand sein.

George’s Blick folgt ihm
dito

Er klopft ihm zwei Mal aufs Fußende
Unpräzise. Klopft er auf Georges Fußende? Oder auf das Fußende des Betts?

„Alter Narr!“-hört er
"Alter Narr!", hört er ...

Grundsätzlich ein interessanter Plot. Aber ich persönlich bin noch zu weit weg von Walther. So was wie den Blumenstrauß aus dem Müll holen, lässt mich weitaus näher an ihn ran, wie der Satz "Walther geht es schlecht"; als Beispiel. Es ist nicht das, was du als Autor über ihn sagst, es ist das, was Walther tut und wenn wir Leser:innen analoge Dinge getan haben (streichen über ein Foto), dann ist Empathie geweckt.

Vielleicht findest du ihn meinen Hinweisen Brauchbares. Viel Spaß weiterhin hier und beim Schreiben.

Grüße
Morphin

 

Hi Morphin!

Vielen Dank für die detaillierte Kritik! Freut mich sehr und zeigt mir, wie viel da noch geht. Man selbst hat sich ja irgendwann blind-gelesen und sieht keinen Verbesserungsbedarf mehr.
Das wird mir sicherlich für neue Geschichten hilfreich sein. :)
Ach, mit dem Reisig wollte ich tatsächlich auf morbide Weise ein abgemagertes Gerippe beschreiben.

Grüße und schönen Montag noch!

 

Hallo @LexLehman =)

Willkommen im Forum!

Ich mag deine ruhige, bewusste Art des Schreibens. Entfernt fühlte ich mich an Ben Myers erinnert, wahrscheinlich durch die Verortung in Großbritannien. Mit der Wahl deines Settings - Pflegeheim, Rückblende, Krieg - hast du auch Themen gewählt, die sich vielleicht an ein breiteres Publikum richten. Solche Existenzgeschichten, die ihre emotionale Schlagkraft aus Verlust, Tragik und Sterblichkeit ziehen (oder letzteres vortäuschen; Kitschdiskussionen gab es hier im Forum ja schon häufig).

Es muss jemand aus der Familie sein, denn sonst bekommt er im Wohnheim von niemandem Besuch.
Das ist eine Erklärung, die meiner Ansicht nach der Text nicht braucht.
Als Walther das Zimmer betreten will, kommt gerade ein Pfleger hinaus und schmeißt einen Strauß welker Blumen in den Müll neben der Tür.
Du schreibst einen ruhigen Text. Aus der Ruhe entfalten sich Details vor dem geistigen Auge, mit dem ich - als dein Leser - die Szenen deines Textes betrachte. Ich sehe keinen Müll sondern einen Mülleimer. Ruhige Texte operieren von einem bewegungslosen Punkt, sie gewinnen an Kraft durch ihre besondere Perspektive auf die Wirklichkeit, sie verdichten und die Perspektive verlangt auch eine Verdichtung, wie sie der Lyrik - glaube ich - ganz eigen ist. Einfach gesagt: Ein Text wie deiner verlangt ein hohes Maß an sprachlicher Präzision (behaupte ich jetzt einfach mal als Mensch, der sehr gerne liest). Vielleicht auch nach dem "Wow, wie schön"-Effekt.

Dein Anfang beschreibt das Leben von Walther. Ich erfahre, dass er in einem Pflegeheim lebt, mit einer Frau namens Daisy eine schöne Beziehung geführt hat. Im Krieg hat er gegen die Deutschen gekämpft hatte (er ist also wirklich, wirklich alt, Jahrgang 1920, 1922). Ein, für mich als Leser, recht unspektakuläres Leben. Oder es wird, behaupte ich frech, unspektakulär erzählt. Oder, noch frecher, so wird ein Leben erzählt, wenn jemand über ein Leben schnell erzählen muss. Du musst das aber nicht. Spontan hatte ich die Idee, auf Walthers Leben im Heim einzugehen. Er sitzt vielleicht auf einem Balkon vor einem Ententeich, die Beine sind schwer und eine karierte Decke liegt auf seinen Oberschenkeln, aber obwohl die Pfleger den Tee bereits servieren, hält er einen Brief in beiden Händen und wundert sich über das grobe Papier, ein Papier, das vor 1980 hergestellt wurde, vielleicht ein selbstgeklebter Umschlag ... also, mir geht es nicht darum, dir zu zeigen, wie es besser geht. Aber die Ruhe deines Textes öffnet den Raum für die Details und die sinnlichen Details machen deinen Text nicht nur interessant sondern besonders. Hier zum Beispiel:

Dort lernte er George kennen, einen Piloten der Royal Air-Force.
Nein, er lernte George nicht bei der RAF kennen. Er lernte ihn bei der XX. South Coast Protect Unit (keine Ahnung, ob es so etwas gab). Ich möchte in die kleine Welt eingezogen werden, die du mir beschreibst.
Die alten Blumen legt er auf den Nachttisch. Ob es George ist, kann er nicht genau sagen, denn von seinem einstmals besten Freund ist nur ein zugedeckter Haufen Reisig geblieben.
Den Reisig würde ich weglassen.

Persönlich finde ich etwas unglücklich, wie du das Hospiz beschreibst. Ich weiß, unpersönliche Pflege und so. Und ich kenne auch wirklich grauenvolle Heime. Aber ein Hospiz? Einen Sterbenden so alleine lassen, Blumen in den Müll werfen? Hospize sind nochmal sehr spezielle Einrichtungen und die Menschen arbeiten (zumindest die, die ich dort kennenlernen durfte) mit einem sehr hohen Maß an Respekt und ethischem Bewusstsein. Unabhängig davon erscheinen mir diese Details für deine Geschichte als unnötig. Warum ein EKG angeschlossen ist, erschließt sich mir auch nicht (würde ich weglassen).

Lg
kiroly

 

Als Rentner lebt er in den Tag hinein und versucht[,] so gut es geht[,]1 gesund zu bleiben.

(Fast) alles schon gesagt, dass ich mich auf eine auffällige Flut an das zwar einsibige, doch zugleich vielgestaltige „sein“ herantaste, das ja substantiviert seit europäischen Anfängen Sprache, Philosophie und Eigentumsordnung in seinen vielfältigen Bedeutungen regiert, dass ich - "eigentlich" - entsetzt bin, das vielgestaltige "sein" auf eine Bedeutung reduziert zu finden

Geruhsam sitzt Walther in seinem Ledersessel und liest. Bücher regen seine Fantasie an und schaffen klare Bilder vor seinen trüben Augen. … auf seiner Brust hängen. … In seinen 87 Jahren …
usw.

Als Satiriker kann ich da nur antworten:
Niemand hat die Absicht, ihm seine Brille, das potentielle - nun weiße und darum auf blasser Brust kaum zu erkennende Brusthaar oder dem Autoren das Possissivpronomen wegzunehmen ...

lieber @LexLehman,

nicht erschrecken, aber Du wirst zumindest schon ahnen, was ich meine ...

aber allemal:
Gern gelesen!

Moin @Morphin ,

ist schon lustig, wie haben das teaaitsch der Angeln und Sachsen klanglich aufgegeben (wahrscheinlich aus Sorge, die Zungenspitze könnte abgenutzt oder schlimmer, abgebissen werden), besetzen aber von kleinauf unsere Thrönchen ...

Friedel,
der von dem auf der Vogelweide immer noch unter den Linden erwartet wird ... in Berlin aber an der falschen Stelle landen würde ...


1Komma schon allein deshalb, weil „so gut es geht“ ein vollständiger Satz ist.

 

Kritiken wurden gelesen, akzeptiert und zu Herzen genommen. :)
Hätte nicht erwartet, dass hier so detailliert auf die Texte eingegangen wird, was mich positiv überrascht.
Also an der Stelle; Vielen Dank an alle!

 

Hallo @LexLehman,

ich finde, dass du einiges an Potential verschenkst, weil du am Anfang zu erklärend unterwegs bist. Das liest sich für mich noch so, als müsstest du dich als Autor sortieren. Das wird dann im mittleren Teil besser und ich hätte mir gewünscht, dass du dich noch stärker auf das Thema der Freundschaft fokussierst. Ich sehe ein wenig die Schwierigkeit, dass du sehr viele Informationen unterbringst, dabei allerdings das Erlebnis für mich als Lehrer reduziert wird. Ich gehe im Detail auf diesen Leseeindruck ein:

Die Jahre der großen Taten sind für Walther längst vorbei. Der Lebensabend ist entschleunigt, Pflichten reduzieren sich auf ein Minimum. Als Rentner lebt er in den Tag hinein und versucht so gut es geht gesund zu bleiben.
Das ist eine Behauptung und ich muss das als Leser kaufen. Ich hätte mir das als Szene gewünscht, sodass ich das selbst aus seinen Handlungen schließen kann. So ist es mir zu direkt und zu distanziert.

Die Brille lässt er dabei an der dunkelroten Kordel auf seiner Brust hängen.
Das finde ich ein schönes Detail, genau darauf könntest du die Szene aufbauen und so lebendig machen.

In seinen 87 Jahren hat er viel erlebt. Sogar mehr als die meisten anderen seines Alters im Wohnheim.
Auch das ist eine Behauptung. Wie wäre es, wenn du stattdessen mit einer Erinnerung startest, mich als Leser in seine Psyche und Vergangenheit mitnimmst? Würde mich interessieren, denn für mich ist bei Geschichten vor allem wichtig, dass ich ins innere Erleben komme und sich ein Erzählfluss aufbaut. Habe dazu ein spannendes Video gesehen: Die Kernthese war, dass eine funktionierende Geschichte den Bewusstseinszustand des Rezipienten verändert. Das fehlt mir hier noch und ich bin der Ansicht, dass du das über die szenische Darstellung erreichen kannst. Die Ansätze sind auf jeden Fall da (Beispiel mit dem oben zitierten Detail).

Am Anfang, als sie sich kennenlernten, wusste niemand, ob sie sich je wieder sehen würden. Mit 20 Jahren wurde Walther eingezogen und musste im Krieg gegen die Deutschen kämpfen. Sein Einsatz dauerte drei Jahre, dann war der Krieg vorbei. Das letzte halbe Jahr verbrachte er verletzt in einem Krankenhaus in Südengland, bevor er nach Hause konnte.
Das meinte ich weiter oben damit, dass du sehr viele Informationen in diesen kurzen Text einbaust. Ich komme da als Leser nicht in die Geschichte rein, sondern sehe sie eher von außen.

Die beiden entwickelten eine tiefe Freundschaft, die noch viele Jahre nach dem Krieg andauerte.
Das ist für mich der Kern der Geschichte, das hätte ich gerne noch stärker im Fokus gehabt. Vielleicht mit einer Erinnerung, einer Erzählung oder der Schilderung der Vergangenheit?

Aus der hintersten Ecke des Kleiderschranks zieht er eine alte Keksdose aus Blech.
„Jesus! Verdammtes Kreuz!“ Flucht er, als er sich wieder aufrichtet.
Zurück ins Wohnzimmer geschlürft lässt er sich in den Sessel fallen und atmet durch.
Die Kiste ist randvoll mit Fotos und Ansichtskarten.
Hier geht es in eine Szene, finde ich besser. Das könntest du als Grundlage nehmen, um die Distanz durch mehr Nähe zu ersetzen. Anstatt zu behaupten, lieber erzählen, was das passiert, damit ich als Leser in die Geschichte komme und meine eigenen Schlüsse ziehe. Ziel ist ja am Ende der Einbezug bzw. Engagement der Lesenden.

Walther legt es auf die Seite und sucht weitere Bilder mit George heraus. Das monotone Ticken der alten Wanduhr treibt ihn an wie einst Trommelschläge einen Galeerensklaven. Nach Stunden des Betrachtens und Sortierens hält er vierzehn alte Momentaufnahmen in den Händen.
Schön, hat für mich viel besser als der Anfang funktioniert.

An einem Samstagmittag klingelt es plötzlich. Es muss jemand aus der Familie sein, denn sonst bekommt er im Wohnheim von niemandem Besuch.
Hier bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich in der Perspektive des alten Mannes oder die des Erzählers bin.

Doch er tat es nicht, obwohl er schon lange nicht mehr wirklich böse auf ihn war.
Finde ich sprachlich noch ausbaufähig. Was genau willst du hier ausdrücken? Je präziser, desto besser in meinen Augen.

Walther holt unauffällig den Strauß aus dem Müll und richtet ihn notdürftig her. Dann geht er hinein.
Die alten Blumen legt er auf den Nachttisch.
Fand ich eine merkwürdige Charakterisierung, auf mich wirkt das fast schon wie eine Beleidigung. Für mich war das etwas zu viel.

Es riecht nach Sterillium und muffiger Bettwäsche.
Finde ich gut, dass du den Geruchssinn mit einbaust. Genau das geht in die Richtung, das szenischer aufzubauen und mich als Leser reinzuziehen.

„Weißt du nicht, wer ich bin? Walther! Walther Wilson! Damals, Netley Hospital ‘44, die hatten dich abgeschossen.“ Er lacht.
Das könnte der Inhalt der Erinnerung sein, die du stärker ausbaust. Ist nur eine Idee, was ich damit sagen will: Mehr mit Szenen arbeiten und weniger mit Behauptungen.

„Alter Narr!“-hört er, kurz bevor er den Raum verlässt.
Das hat mich rausgebracht. Ich war gerade dabei zu akzeptieren, dass er wirklich dementsprechend ist und nichts mehr mitbekommt und daher passt das dann nicht in mein Bild. Sofort frage ich mich, wie das denn sein kann und zweifle an der Glauwürdigkeit.

Insgesamt sehe ich einige gute Ansätze und ich habe den Eindruck, dass sich dein Text verbessert, wenn du noch konsequenter mit Szenen arbeitest.

Schönes Wochenende und beste Grüße
MRG

 

Hi @MRG

Vielen Dank für das ausführliche Feedback!
Ich denke, da ist für jeden Luft nach oben, auch in verschiedene Richtungen.
Das Szenerische ist hier tatsächlich etwas mau, aber für mich ok. :)

 

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