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Alter
Alter
Tick, Tack, hallte es durch die einsame Unendlichkeit einer Dachgeschosswohnung im Nirgendwo.
Tick, Tack, erfüllte es den Raum, der spärlich möbliert bereits seit Jahrzehnten in diesem Zustand dahinvegitierte. Vor dem einzigen Fenster, in den letzten Strahlen der Dämmerung, auf einem leise vor sich hin knarrenden Stuhl sitzend, überdachte Karl sein Leben.
Tick, Tack, machte es in seinem Kopf, er konnte sich schon nicht mehr erinnern, wann seine Gedanken angefangen hatten, sich der Monotonie des Raumes anzupassen, welche den Lohn für sein Arbeitsreiches Leben darstellte. Leistung und Effektivität waren die Schlagworte seiner Generation gewesen, Arbeit und Funktionalität die Bürden seines Daseins. Heute war er bereits froh, aufstehen zu können, ohne dass seine Knochen bedrohlich knackten.
Tick, Tack, hallte es von den Wänden wider, als ob sie sich auch verzweifelt nach Gesellschaft sehnten. Der letzte Besuch seines einzigen Sohnes Bernhard war bereits einige Jahre her. Bernhards Job als Bankier ließ ihm einfach nicht mehr Zeit seinen alten Herrn zu besuchen. So war es doch auch bei ihm gewesen, als sein seliger Vater dem Umzug in das Seniorenheim endlich zugestimmt hatte. Irgendwie war es ihm so auch lieber, denn die Luft in der Einzimmerwohnung hallte noch immer von der Peinlichkeit des letzten Pflichtbesuchs seines Sohnes wider, mit dem dieser wahrscheinlich nur versucht hatte, sein Gewissen zu beruhigen.
Tick, Tack, schien es ihm zuzustimmen. Langsam, um seine gebeutelten Knochen nicht zu überanstrengen, wendete er seinen Kopf in Richtung der alten Standuhr, die beinahe die ganze Längsseite des kleinen Raumes einnahm und folgte, mit seinen vom Star trüben Augen, den verwitterten Holzkanten, die ihn von Jahr zu Jahr mehr an seine eigene, von Falten zerfurchte, Haut erinnerte. Das von den Jahren milchig gewordene Glas, schien seine alten Augen widerzuspiegeln. Die alten leicht verbogenen Zeiger vermochten nur noch unzureichend die Uhrzeit anzuzeigen.
Tick, Tack, schien sie ihm zum Trotz entgegenzuschreien. Ohne Hast, denn wenn er jetzt etwas im Übermaß besaß war es Zeit, obwohl ihm eben diese immer durch die Finger zu fließen schien, drehte er seinen Blick wieder zum Fenster und starrte auf den feuerroten Horizont, der sich vor ihm erstreckte. Langsam strich er mit seinen pergamentenen Händen über die metallene Schneide des Messers, das sich auf der Decke befand, die er als Schutz vor der Kälte um seine Füße geschlungen hatte. Langsam umklammerte er mit seinen klammen Fingern den kalten Griff und legte die Klinge auf seinen Unterarm.
Tick, Tack, schien es entsetzt zu keuchen. Doch von kühlem Kalkül geführt begann er langsam die, zur Küchenarbeit gedachte, geritzte Klinge über die faltige Haut seines Armes zu ziehen. Langsam öffnete sich seine Schlagader und ergoss ihren roten Saft über seinen welken Körper, wobei er durch die, erst vor kurzem von seinem Arzt verschriebenen Schmerzmitteln, nur ein leichtes Ziehen verspürte. Sie sollten eigentlich seine Altersbeschwerden vermindern, wobei sie ihm der Arzt ohne weiteres Nachfragen verschrieben hatte, über das Alter spricht man ja nicht. Langsam lehnte er sich an die knarrende Lehne seines Stuhles zurück und schloss zum letzten Mal seine Augen.
Tick, Tack, schien es ihn zu verabschieden.
Zur lieben Erinnerung
an unseren guten Vater, Schwiegervater, Opa, Bruder, Schwager, Onkel Herrn
Karl Steiner
pensionierter Bankier
welcher am 23. Oktober 1999 im 82. Lebensjahr von Gott zu sich gerufen wurde.
Möge er in Frieden ruhen
Ja, Ja, er hatte dem alten Herrn immer gesagt, er solle aufpassen was er da von seinem Arzt verschrieben bekommt. Langsam legte Bernhard die Zeitung in den Papierkorb und widmete sich wieder seinem Schriftverkehr, der sich seit dem Mittagessen angesammelt hatte. Während er den ersten Brief von der Intervest AG überflog, verspürte er plötzlich ein eigenartiges Ziehen in der linken Seite seiner Brust. Eigenartig, ein derartiges Gefühl hatte er noch nie gehabt, auch seine Augen begannen kurz in einer sonderbaren Weise zu zucken.
Plötzlich hörte das Gefühl wieder auf. Wahrscheinlich war ihm sein Burger nur nicht bekommen. Als er gerade den nächsten Brief zu Hand nahm, fing die einzelne Träne gerade an zu trocknen, die in trauriger Ehrerbietung an seinen Vater auf seine Krawatte gekullert war. Die schlimmste Art zu sterben ist noch immer vergessen zu werden!