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Altsilber

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03.06.2007
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Altsilber

Altsilber

Ja, ich erinnere mich an meinen Vater. Ich weiß noch, wie ich auf seinem Schoß saß und er mir Geschichten ins Ohr flüsterte, Geschichten aus Afrika. Er flüsterte sie auf Französisch, weil er mit meiner Mutter Französisch sprach. Ich erinnere mich an den Tag, an dem mir mein Großvater einen Zahn ausschlug. Meine Mutter war in die Schule bestellt worden, meine Leistungen im Fach Französisch waren abgesackt. Ich erhielt ständig schlechte Noten, weil ich mit einem unüberhörbaren afrikanischen Akzent sprach und meine Aussprache trotzdem nicht korrigieren lassen wollte.

Mein Großvater schlug mir mit der Faust ins Gesicht, wobei besagter Zahn abbrach. Ich heulte nicht. Die Wahrheit war, ich hatte absichtlich so gesprochen.
Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich meiner Mutter 200 Mark aus der Geldbörse stahl. Damals war ich neun und in der Schule behandelten wir das Thema Familie und viele Mädchen hatten alten Schmuck, den sie von ihren Großmüttern geschenkt bekommen hatten, mitgebracht. Ich hatte nichts, was ich von meiner Oma bekommen hatte, aber in unserer Straße war ein Laden, der Antikschmuck verkaufte. Eine Kette im Schaufenster sah so ähnlich aus wie die meiner Banknachbarin und sie kostete 200 Mark.

Beim Einkaufen sah ich zwei blaue Scheine in der Geldbörse meiner Mutter und ich wartete abends, bis sie eingeschlafen war und nahm, sie mir. Am nächsten Morgen schwänzte ich die erste Stunde und kaufte die Kette. Als ich schließlich in der Schule war, hatten wir längst ein neues Thema angefangen und ich hatte keine Gelegenheit mehr, die Kette vorzuzeigen. Am Nachmittag nahm mich meine Mutter ins Verhör. Ich sagte kein Wort, kein einziges, und durfte als Strafe schließlich nicht mit auf Klassenfahrt.

Ich erinnere mich an den Tag, an dem meine Großmutter eine Schulfreundin von früher traf. Sie hatte sie auf der Straße schon von weitem kommen sehen. Geh weg, zischte sie mir zu, ich kenn dich nicht, bleib aber in der Nähe. Also setzte ich mich vor einem Hauseingang auf die Treppe, und meine Großmutter und ihre Freundin redeten und redeten. Mir wurde langweilig, ich hatte aber kein Spielzeug bei mir und so fing ich an, Weitspucken zu üben. Meine Großmutter bemerkte es. Eine Schande, diese Bimbokinder, die sollte man dahin zurückschicken, wo sie hergekommen sind. Die Freundin nickte eifrig.

Ich erinnere mich an den Tag meines ersten epileptischen Anfalls. Meine Mutter weinte. Dieser Scheiß-Nigger, schrie meine Großmutter, von uns hat sie das nicht. Ich erinnere mich an den Tag, an dem mein Großvater starb. Er raste in eine Leitplanke und verkohlte in seinem Auto. Im Tod war er also noch schwärzer als ich. Aber das tröstet mich nicht.

 

Hallo BrokedownAngel,

und herzlich willkommen hier.
Ich gebe zu, am Anfang nervte mich diese Aufzählung von Erinnerungen, bis ich begriff, dass du darüber tatsächlich eine Geschichte erzählst, die mit diesen Aufzählungen zu tun hat. Dann fand ich es geschickt, wenn auch noch nicht optimal genutzt.
Was mir fehlt ist der Grund, warum das Mädchen bei den Großeltern mütterlicherseits wohnt, nicht bei den Eltern oder der Mutter. Oder lebt die Mutter mit ihrem Kind bei den Großeltern? Warum zieht sie nicht aus, wenn die das Kind derartig behandeln? Die Mutter wird ja wohl nicht ähnlich rassistisch sein? Kurz, bei allem Geschick fehlen mir noch einige Informationen, die es nicht unbedingt zum Verständnis, mMn aber zur Abrundung braucht.

Lieben Gruß, sim

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo BrokedownAngel,

auch ich möchte dich im Forum begrüßen und dir viel Spaß wünschen.

Deine Geschichte finde ich sehr ansprechend. Sie ist durch den knappen und präzisen Stil äußerst eindringlich. Man hat das Gefühl, wirklich nur das Wesentliche, das heißt, das für die Prota Wesentliche, zu erfahren.

Mehr, so denke ich, muss man nicht wissen. Ich habe trotz der kurzen Beschreibung erstaunlich viel gesehen und weitergesponnen. Diese Geschichte belegt eindeutig, dass man mit wenigen Worten unglaublich viel beschreiben kann. Eine Fähigkeit, von der ich mich sehr gern beeindrucken lasse.

Guter Einstieg!

Grüße von Rick

 

Und noch ein Willkommen, Angel :)

Es bleibt mir nicht mehr viel zu sagen, zu deinem Erstling, da alles schon ausgesprochen wurde. Diese Geschichte ist trotz ihrer relativen Kürze von eindringlicher Tiefe. Ob du es inzuitiv richtig gemacht hast,oder viel knobeln musstest, hier sitzt jedes Wort. Besonders glänzen tun die Wörter, weil sie alle ihre definitive Berechtigung haben, keines zuviel ist und damit umstehende ins triviale mitreißt.
Obwohl du sehr distanziert schreibst, bringst du dem Leser deinen Prot sehr nahe. Das ist gekonnt, liegt an den starken Bildern die du gibst. Eigentlich lässt du sie nur kurz aufblitzen, doch im Kopf des Lesers weiten sie sich ungemein.
Man kann gespannt auf weiteres von dir sein.

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo BrokedownAngel,

ich finde es erstaunlich wie du es schaffst in einem so kurzen Text eine derartige Tiefe herzustellen.
Ein Leben, dass hier auf ein paar "Höhepunkte" reduziert ist - und doch kann man sich auch den ganzen Rest des Lebens vorstellen.
Wirklich prima, wie dir das gelungen ist.

Du hast ein Thema gewählt, bei dem man sich als Autor leicht zum Polarisieren verleiten lässt. Das bist du geschickt umgangen - mithilfe des Ich-Erzählers, der die Ereignisse scheinbar emotionslos herunterrattert - umgehst du das. Und durch diese Art stellst du auch niemanden direkt an den Pranger - auch das haben Geschichten dieser Art oft an sich.

Naja - lange Rede, kurzer Sinn:
Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Auch ich bin nicht der Meinung, dass hier noch irgendwelche Informationen fehlen. Die Geschichte ist für mich komplett, so wie sie dasteht.

Lieben Gruß, Bella

 

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