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- 01.09.2005
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Am Arsch der Welt
Als das Licht seiner Scheinwerfer auf den gefesselten Mann fiel, dachte Norman zunächst an eine optische Täuschung. Es war dunkel, es war spät, er war müde. Dass er seit einer guten Stunde über Feldwege und Landstraßen fuhr und bei seiner Suche nach einem Weg zurück in Zivilisation langsam die Geduld zu verlieren begann, tat der Zurechnungsfähigkeit seiner Augen sicher auch keinen Gefallen.
Dann kam der nackte Körper näher und weigerte sich, zu verschwinden, egal wie oft Norman die Augen zukniff, öffnete, mit den Fingern darin herumrieb, zukniff und wieder öffnete. Einen Moment lang zog er in Betracht, einfach in die andere Richtung sehend vorbeizufahren. Ihn zu ignorieren, sich einzureden, er habe sich das alles nur eingebildet. Spätestens in einer Stunde alles vergessen zu haben, so wie es immer klappte, wenn er mal ein Tier überfahren hatte.
Stattdessen nahm er den Fuß vom Gas, schaltete runter und bremste schließlich.
„Meine Fresse ...“, flüsterte Norman. Er ließ den Motor laufen. Wer immer den panisch mit den Augen rollenden Fettsack mit Seilen und so an den Baum gefesselt hatte, dass der mit den Füßen den Boden nicht berührte – er war entweder kräftig oder nicht allein gewesen. In beiden Fällen wollte Norman nicht erst den Wagen starten müssen, falls der oder die Täter sich noch in der Nähe aufhielten. Außerdem ...
Norman holte die Gaspistole, die er gekauft hatte, als er nach Berlin gezogen war, aus dem Handschuhfach. In der Metropole, hatte er damals gedacht, konnte man ja nie wissen. Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass er die Waffe einmal im Niemandsland zwischen dem Zuhause seiner Eltern und seiner Wohnung in der Bundeshauptstadt in die Hand nehmen würde. Wozu? Zum Schutz gegen tollwütige Kühe vielleicht?
„Guten Abend“, sagte Norman. Es klang hilflos und verstört, aber es war das Erste, was ihm in den Sinn kam und er hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Er ging zu dem Gefesselten und ließ die Autotür offen stehen. Aus dem Inneren des Wagens hörte man das Gebrabbel einer Radiotalkshow. Irgendwer hatte irgendwem den Orgasmus vorgetäuscht.
Der Mann am Baum war aus der Nähe als Junge erkennbar, auf keinen Fall älter als zwanzig. Er war gigantisch, voluminös, ausladend – seine Nacktheit ersparte Norman kein einziges Detail eines Körpers, der ungefähr um das dreieinhalbfache über seinem Idealgewicht lag. Juli-Mücken, den Beulen nach zu urteilen so groß wie Babyhände, hatten sich sichtlich über das wehrlose Fleisch gefreut und dessen Träger wohl an den Rand es Irrsinns getrieben. Die Haut des Opfers musste einmal weiß gewesen sein, von der Art, die entweder weiß bleibt oder einen Sonnenbrand kriegt. Jetzt war sie purpurn.
Norman löste das zum Knebeln verwendete Taschentuch und sah dabei in Augen, die hinter dicken Brillengläsern vor Angst starrten. Als der Knebel fort war, fiel dem Opfer etwas aus dem Mund, das gelb war und ein Geräusch machte, als es auf den Boden fiel. Norman betrachtete das Objekt und identifizierte es als Quietscheente, ein ungefiederter Plastikfreund, wie er Ernie in der Sesamstraße die Stunden in der Badewanne versüßte.
Als Norman wieder hochblickte, sah er, dass auch der Gefesselte die Ente betrachtete, die eben noch im Speichel seiner Mundhöhle gebadet hatte. Der Dicke sah auf und Norman in die Augen. „Fragen Sie nicht. Machen Sie mich los und lassen sie uns abhauen. Schnell!“
„Aber– “
„Schnell!“
„Was ist passiert?“, fragte Norman und suchte nach Stellen, an denen er die Seile lösen konnte.
„Ist egal“, winselte der Dicke mit tiefer Stimme. „Ist jetzt egal. Wir müssen hier weg. Wir müssen hier weg.“ Immer wieder sah er in die Richtung, aus der sein Retter gekommen war. Norman hatte mittlerweile begonnen, die Seile mit seinem Feuerzeug zu lösen. Glücklicherweise waren sie dürr genug, um durchgeschmort zu werden.
Als Norman sah, dass der Gefesselte offenbar jemanden erwartete, begann auch er, nervös die Straße entlag zu blicken. Der Mond strahlte in seinem bleichen Licht und machte alle ohnehin nicht vorhandenen Straßenlaternen überflüssig. Gut zwei Kilometer weit konnte man den Biegungen und Geraden der Straße mit den Augen folgen, dann erst verschluckte eine Melange aus Dunkelheit und Entfernung sie und entzog ihren weiteren Verlauf dem menschlichen Sehapparat.
„Was ist denn da?“, fragte Norman.
„Nichts“, hechelte der Dicke. „Noch nichts. Sie sind Gott sei Dank rechtzeitig gekommen. Sie haben nicht damit gerechnet, dass hier um die Uhrzeit noch jemand vorbeifahren würde.“
„Sie?“
„Binden Sie mich bitte los und dann lassen Sie uns weg hier!“
Das letzte Seil riss. Der Dicke fiel vornüber und plumpste mit einem peinlichen Laut auf den Boden wie ein Pfund dicken weißen Specks auf die Theke des Schlachters.
Der Befreite hastete zum Auto und winkte Norman zu, dass er ihm folgen solle. „Kommen Sie! Wir müssen weg hi-“
In der Entfernung strahlten jetzt Scheinwerfer. Motorengeräusche kamen näher. Für einen Moment erstarrte der Dicke. Norman dachte in erster Linie daran, was ein nächtlicher Vorbeifahrer von ihnen beiden denken sollte, wenn er die Nacktheit des einen und all das auf dem Boden herumliegende Equipment sah.
„Das ist er!“, schrie der Dicke.
„Was?“, fragte Norman. „Wer ist das?“
„Bauer Winkelstein!“, schrie der Dicke und drehte sich mit entsetztem Gesicht zu seinem Retter um. Norman zuckte die Schultern.
„Oh Gott, es ist ein Landwirt“, sagte er. „Der Himmel steh uns bei.“
Der Dicke sah Norman fragend an. „Winkelstein … nein, natürlich sagt ihnen das nichts. Er kommt, um mich zu holen. Ich sollte ihm geopfert werden.“
Norman glaubte, das Fragezeichen über seinem Kopf in der Luft schweben zu spüren.
„Verdammt!“, schrie der Dicke und schlug auf das Dach des Wagens.
„Hey!“, rief Norman. „Du spinnst wohl!“
„Lassen sie uns endlich fahren, er kommt näher! Ich erzähle ihnen alles unterwegs!“
Norman setzte sich in den Wagen, nachdem er das Dach gestreichelt und dabei dem Befreiten einen bösen Blick zugeworfen hatte. Bevor er die Tür zuschlug und das Auto startete, erkannte er das Geräusch des sich nähernden Gefährts als das Knattern eines Traktorenmotors.
„Wie heißt du?“, fragte Norman den Dicken, der sich panisch im Wechsel immer wieder umdrehte und in den Rückspiegel sah.
„Tobias. Können Sie nicht schneller fahren?“
„Von mir aus können wir uns duzen. Wer ist das hinter uns?“
„Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Sein Name ist Winkelstein.“
„Und warum hast du Angst vor ihm?“
„Weil dies seine Nacht ist und ich sein Opfer.“
„Hat er dich an den Baum gefesselt?“
„Nein. Das war das Dorf. Heute Nachmittag schon.“
„Du hast da seit heute Nachmittag gehangen? Ist denn kein Auto vorbeigekommen?“
„Es kommt nie ein Auto, wenn sein Tag ist. Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, aber … Kannst du nicht bitte schneller fahren, verdammt, er ist schon so nah.“
„Wer ist er?“
Tobias schlug die Hände vors Gesicht. „Kannst du nicht einfach fahren?“
„Nein. Aber ich kann anhalten und mit dir zusammen auf deinen Freund warten, wenn du mir nicht sagst, was hier los ist.“
„In den Sechzigern kamen vier Männer ins Dorf und behaupteten, Winkelstein habe als Aufseher in einem KZ in Polen gearbeitet. Sie wollten ihn mit nach Israel nehmen. Winkelstein entkam ihnen und versuchte hintereinander, sich auf verschiedenen Höfen zu verstecken. Einer nach dem anderen verriet ihn. Alle hatten sie Angst, denn die Männer hatten Pistolen. Schließlich wurde Winkelstein auf einem Acker erschossen. Die Männer erklärten sich in abgehackten Sätzen und gaben Winkelsteins Sohn – seine Frau war ein Jahr zuvor an Krebs gestorben – ein Foto, dass seinen Vater in SS-Uniform zeigte, Anweisungen gebend an einem Graben, vor dem ungefähr zwanzig Menschen standen. Frauen, Kinder und alte Leute. Beschämt verscharrten die Dorfbewohner Winkelsteins Leichnam in einem Loch auf demselben Acker, auf dem er erschossen worden war.“
„Also ist es sein Sohn, der jetzt hinter dir her ist?“
Tobias schüttelte den Kopf. „Ein Jahr später kehrte Winkelstein zurück. In der Kleidung, in der sie ihn begraben hatten. Mit getrocknetem Blut auf seinem Rücken, wo ihn die Kugeln getroffen hatten. Er ging zu jedem Hof im Dorf und sagte, dass er ein Opfer wolle, von nun an jedes fünfte Jahr an seinem Todestag, als Wiedergutmachung für die Feigheit, mit der man ihn im Stich gelassen hatte. Er-“
„Moment.“ Norman rieb sich mit einer Hand die Augen. „Die Geschichte ufert da ein bisschen aus. Erzählst du mir gerade, dass der alte Nazi als so ’ne Art Zombie zurückgekehrt ist?“
„Willst du hören, wie es weiterging, oder nicht?“
Norman schüttelte den Kopf. „Ja. Doch. Sicher. Erzähl.“
Tobias warf einen nervösen Blick in den Rückspiegel. „Fahr bitte schneller. Nach den ersten fünf Jahren verweigerten sie Winkelstein das Opfer. Viele waren mittlerweile überzeugt, einer Art kollektiven Wahnvorstellung zum Opfer gefallen zu sein, als sie damals Winkelstein nach seinem Tod gesehen hatten. Doch in den Wochen und Monaten, nachdem sie ihm sein Opfer hätten geben sollen, erging es dem Dorf furchtbar. Missernten, Epidemien unter den Tieren. Kinder ertranken in Brunnen oder wurden von Hunden zerfleischt, mit denen sie ein Leben lang gespielt hatten. Als sich der Todestag Winkelsteins zum zehnten Mal näherte, zogen die Erwachsenen Strohhalme. Die Frau mit dem kürzesten, Eva Brenndeck, wurde an einen Baum vor der Ruine des Winkelstein-Hofes gefesselt. Am nächsten Morgen war sie verschwunden. Die Missernten hörten auf, die Tiere starben nicht mehr. Den Brenndeck fand man eines Tages erhängt in seiner Scheune. Zuvor hatte er im Suff in der Dorfkneipe erzählt, er hätte mit seinem Pflug eine Furche in den Acker gegraben, die an einer Stelle in die Erde hineinführe. Wie in eine Höhle. Er behauptete, daraus seine Frau weinen gehört zu haben.“
Norman spürte etwas Kaltes seine Arme entlang krabbeln. „Wir werden gerade von einem traktorfahrenden Zombie verfolgt?“
„Ein Zombie, ein Gespenst, ein Vampir, ein Werwolf, was weiß ich. Wenn du hier aufwächst, machst du dir nicht viel aus solchen Geschichten. Wir wissen, was Angst ist, weil jeder von uns schon einmal im Dunkeln auf einem Feldweg unterwegs war. Wir brauchen keine mumifizierte Furcht, konserviert auf Buchseiten oder auf eine silberne Scheibe gebrannt.“
„Liest du gern?“
„Was?“
„Du redest so.“
„Oh, er kommt vom Land und sagt ‚dessen’ statt ‚dem sein’, ruft das Völkerkundemuseum an.“
Norman lachte. Die Lichter des Traktors kamen im Rückspiegel näher.
„Verdammt, ich fahre achtzig. Dem müsste doch längst der Motor um die Ohren geflogen sein. Und wann zum Teufel ist diese scheiß Landstraße zu Ende?“
„Heute Nacht“, Tobias starrte ins Leere, „gar nicht. Es ist seine Nacht.“
Norman schaltete runter und setzte zum Rechts ranfahren an.
„Was tust du? Bist du wahnsinning?“, schrie Tobias panisch.
„Ich nicht, nein. Aber ich glaube, hier im Hinterwald ist euch irgendwas in den Saft getropft. Ich habe eine Decke im Kofferraum, falls du dir was vor die … privaten Teile legen willst. Ich würde das wollen.“
Der Traktor blieb in zehn Metern Entfernung stehen. Norman sah, dass es sich um ein altes Ding handelte, dass jemand mit Tierknochen und Sensenklingen bearbeitet hatte, bis es aussah wie eine Requisite aus einem Mad Max-Film. Die Gestalt, die das Gefährt steuerte, trug eine blaue Latzhose. Ein Hut warf einen Schatten aufs Gesicht, so dass man es nicht erkennen konnte.
Norman stellte sich auf die Straße ins Licht der Scheinwerfer. Auf dem Beifahrersitz hatte Tobias sich in Embryonalstellung zusammengezogen und gab kindliche Wimmerlaute von sich, hier und da durchsetzt von unanständigen, höchst erwachsenen Flüchen. Norman breitete provokativ die Arme aus.
„Hören Sie, ich weiß nicht, was für Perversitäten hier bei euch am Arsch der Welt abgehen, und es interessiert mich auch nicht. Sie machen mir keine Angst, indem sie mit einem getunten Trecker hinter mir herfahren und jetzt da sitzen und bedeutsam schweigen. Was mir Angst macht, ist die Tatsache, dass meine Tanknadel sich dem roten Bereich nähert und diese verdammten Felder kein Ende nehmen wollen. Ich würde mich also freuen, wenn wir uns jetzt wie erwachsene Menschen verhalten und Sie mir den Weg zurück auf die Hauptstraße zeigen könnten.“
Der Mann in der Latzhose bewegte sich so plötzlich, dass Norman zusammenzuckte. Mit mechanischen, roboterhaften Bewegungen stieg er vom Traktor herab und ging auf ihn zu. Norman spürte sein Grinsen einfrieren.
„Hören Sie …“
Das Mondlicht begann, das Gesicht unter dem Hut zu erhellen. Norman sah graue Haut und Zähne, deren Zahnfleisch sich viel zu weit zurückgezogen hatte.
„Hey!“ Er zielte mit der Gaspistole auf den Man mit Hut. Der blieb stehen. Norman lächelte unsicher.
„Ja, das hab ich mir gedacht. Plötzlich hast du keine Lust mehr, mich zu verarschen, was?“
Der Mann in der Latzhose nahm seinen Hut ab. Norman schrie. Er sah dunkele, gelbschwarze Augen aus tiefen Höhlen starren. Aus einem Nasenloch schlängelte sich ein Wurm. Norman drehte sich um und lief ungebremst in den Ellbogen von Tobias. Er spürte das Bewusstsein aus seinem Kopf laufen wie das Wasser aus einem umgekippten Goldfischglas.
Eine Backpfeife ließ Norman erwachen. Er schrie, bekam noch eine Backpfeife und hörte auf zu schreien. Vor ihm stand Tobias, in seine Sachen gekleidet, die ihm viel zu klein waren. Hochwasserhose über nackten Füßen, den Schuhen hatte er erst gar keine Chance gegeben. Unter dem karierten Hemd hatte sich der Bauch seinen Weg gebahnt. Ein Knopf war abgerissen.
Tobias machte eine Geste wie jemand, der einen kläffenden Hund geschlagen hatte und jetzt in einer Drohgebärde andeuten wollte, dass im Falle eines Lautgebens noch mehr Prügel dort warteten, wo die letzten hergekommen waren.
Norman wollte etwas sagen. Er hatte den Mund voll. Er sah an sich herab und stellte fest, dass er sich in derselben mitleiderregenden Position befand wie Tobias, als er ihn kennen gelernt hatte. Aber man hatte ihn nicht an einen Baum an der Straße gefesselt. Norman sah sich um, so sehr es ihm seine Lage erlaubte, und fand seine Glieder mit Stricken an ein altes Kutschrad fixiert. Er sah auf das, was von den Häusern eines Bauernhofes übrig geblieben war. Die Scheune zu seiner linken bestand fast nur noch aus den Streben, die einst das Dach, nur noch rudimentär vorhanden, gehalten hatten. Und von irgendwoher trug der lauwarme Mittsommernachtswind einen Gestank, wie Norman ihn noch nie zuvor gerochen hatte.
Neben Tobias trat der Mann in der Latzhose. Norman quiekte panisch wie ein Kind, so sehr es der Knebel zuließ. Gefesselt und nackt fühlte er sich so verletzlich wie nie zuvor in seinem Leben. Tobias gab ihm eine Backpfeife.
„Scht!“ Norman warf seinen Kopf abwechselnd von links nach rechts. Tobias schlug ihn erneut. „Scht!“
Der Mann in der Latzhose hatte seinen Hut nicht mehr auf. Er griff nach seinen lichten grauen Haaren und begann, sich die Haut vom Kopf zu ziehen. Norman versuchte zu schreien und spürte etwas Raues an seinem Gaumen kratzen, so dass ihn Brechreiz schüttelte. Tobias lachte.
Der Mann in der Latzhose hatte unter der grauen Haut, den langen Zähnen und den gelben Augen das Gesicht eines unintelligent schielenden Jungen in Tobias’ Alter. Er grinste und legte dabei Zähne frei, die kaum anders aussahen die der Maske, die er jetzt in der Hand hielt.
Tobias lächelte, während Normans Gesicht von Unverständnis zu Entsetzen wechselte, als der Schielende seinen Penis in die Hand nahm und begann, ihn zu drehen wie die Temperaturregelung einer Heizung.
„Wir sind dieses Jahr tatsächlich dran“, sagte Tobias. Als er merkte, dass Norman ihm nicht folgen konnte, schlug er seinen schielenden Partner auf den Hinterkopf. Der heulte auf, ließ von Normans Glied ab und sagte etwas, dass so unartikuliert klang, als hätte er eine Rinderzunge im Mund.
„Wir sind dran, der etwas einfach gestrickte Dennis hier und ich.“ Norman sah zu Boden. Erbrochenes lief aus seinen Mundwinkeln und tropfte ihm aus der Nase.
„Iih“, sagte Tobias teilnahmslos. „Dran mit der Nahrungssuche. Weißt du, wie viele Autos hier im Jahr durchkommen?“ Tobias griff dem schielenden Dennis an den Gürtel und zog ein Anglermesser aus einer ledernen Scheide. Er verschwand hinter dem Rad. Tobias spürte schneidenden Schmerz und versuchte einmal mehr vergeblich, zu schreien.
Als Tobias wieder vor ihm stand, hielt er in der linken Hand seinen Zeigefinger und in der rechten den Mittelfinger. Das Mondlicht wurde von dem goldenen Ring reflektiert, den eine Ex-Freundin ihm geschenkt hatte.
„Ein, zwei Stück vielleicht“, sagte Tobias und untermalte das Gesagte anschaulich mit Normans Fingern. Dann begann er an einem zu lutschen wie an einem Eis am Stiel. Dennis winselte wie ein Hund am Tisch, draußen im Garten beim Grillabend. Tobias gab ihm mit genervtem Blick den anderen Finger. „Hier am, wie du es richtig nanntest, Arsch der Welt, musst dir was einfallen lassen, wenn du ein Auto anhalten willst. Du musst Fantasie haben.“ Er deutete verächtlich auf Dennis. „Und leider sind wir keine Kolonie kreativer Genies, wenn du verstehst, was ich meine. Ich weiß nicht, wie viele Tage und Nächte hintereinander ich mich immer wieder von diesem Deppen hier an den Baum habe fesseln lassen. Aber letzen Endes“, Norman hörte seine Knochen knacken, als Tobias seinen Mittelfinger in zwei Teile biss, „hat es ja doch gefruchtet. Die Anderen werden sich sehr freuen.“
Die Anderen. In diesem Moment war Norman sicher, dass es kein furchtbareres Wort in der deutschen Sprache gab.
Tobias trat gegen das Wagenrad. Eine quietschende, rostende Konstruktion ließ das Rad sich um die Längsachse drehen.
Tobias sah eine Einbuchtung in einem Feld, eine Enklave begrenzt durch kopfhohes Gestrüpp. Er befand sich in dieser Einbuchtung zusammen mit alten, kaputten Autos, einige besser, einige weniger gut in Schuss, die meisten auf dem Weg zum Wrack. Der neueste war sein Polo, bei dem lediglich eine Scheibe eingeschlagen war. Und jetzt konnte er auch den Gestank einordnen, der ihm die ganze Zeit in der Nase gebrannt hatte.
Er sah andere Gefangene, die genau wie er an Wagenräder gebunden waren. Alle tot. Einige besser, einige weniger gut in Schuss. Aber keiner von ihnen war noch vollständig.
„Wir sehen uns zum Frühstück“, hörte er Tobias hinter sich sagen. Dennis machte die Laute nach, die er gehört hatte, und klang dabei wie ein betrunkener Papagei. Dann entfernten sich ihre Schritte.