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Am Ende
Ich öffne die Augen. Mein Schädel pocht unangenehm und langsam bemerke ich, dass die Welt auf dem Kopf steht. Ich befinde mich in einem Auto, das offensichtlich auf dem Dach liegt. Ich bin immer noch angeschnallt, mein gesamter Körper ist taub. Mein linkes Auge ist komplett zugeschwollen, mit dem rechten erkenne ich durch die zerborstene Windschutzscheibe Autotrümmer. Die Straße ist nass, das Prasseln des Regens fällt mir erst jetzt auf. Was zum Teufel ist passiert? Ich höre nahendes Sirenengeheule, jemand schreit.
Irgendwie schaffe ich es, meine linke Hand zu befreien, die zwischen Lenkrad und dem verbogenen Armaturenbrett eingeklemmt ist und hebe sie vor mein Gesicht. Sie ist blutüberströmt und zwei Finger stehen unnatürlich verbogen zur Seite weg. Ich spüre keinen Schmerz, obwohl ich mir sicher bin, dass ich einige Verletzungen davongetragen haben muss.
Die regennasse Strasse reflektiert die Szenerie um mich herum. Irgendwo brennt etwas, ich kann verzerrte Flammenzungen erkennen. Das Schreien schwillt zu einem albtraumhaften Kreischen an. Ich höre, wie jemand in Todesangst gegen eine Scheibe schlägt, kraftlos, vom Horror geschwächt, von den Flammen verzehrt. So hört es sich also an, wenn jemand bei lebendigem Leib verbrennt!
Ich schließe meine Augen und dämmere weg. Das ist also mein Ende. Ich verspüre jedoch keinerlei Angst. Nur Bedauern, dass mir lediglich zweiunddreißig Jahre vergönnt waren. In Gedanken an meine Frau und meine kleine Tochter drifte ich ins Nichts. Ich sterbe.
* * * * *
"Karl?"
Eine sanfte Stimme ruft meinen Namen. Schon seit geraumer Zeit. Dennoch bringe ich es nicht fertig, meine Augen zu öffnen. Es scheint, als wäre auch das letzte Fünkchen Kraft aus meinem Körper gewichen. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin oder was passiert ist.
"Karl?"
Die Stimme lockt mich immer und immer wieder. Langsam gelingt es mir, aus meiner Bewusstlosigkeit aufzutauchen. Es kostet mich unglaublich viel Mühe meine Lider zu öffnen. Licht!
"Karl, kannst du mich hören?"
Ich blinzle einige Male. Plötzlich fällt es mir leichter, meine Augen geöffnet zu lassen. Verschwommen nehme ich meine Umgebung wahr. Die Farbe weiß dominiert. Ein Krankenzimmer, eindeutig. Jemand beugt sich über mich, eine Frau.
"Kannst du mich hören?"
Ich sehe, wie sie ihre Lippen bewegt, aber die Worte erreichen mich zeitverzögert. An Nicken ist nicht zu denken, mein gesamter Körper ist taub und gehorcht mir nicht. Die Frau scheint das zu merken.
"Blinzle, du mich hören kannst."
Ich schließe und öffne meine Augen. Die Frau macht einen zufriedenen Eindruck und lächelt mich an. Es ist das Lächeln eines Engels, das mich wärmt und mir das Gefühl gibt, dass alles wieder in Ordnung kommt. Ich fühle mich sicher und geborgen. Ohne, dass ich etwas dagegen tun kann, dämmere ich erneut weg. Weitere Worte dringen an mein Ohr, aber ich verstehe sie nicht. Während mich die Dunkelheit erneut umarmt, begleiten mich ihre Worte, ihres Sinnes beraubt und dennoch schön wie Engelsgesang.
* * * * *
Ich öffne meine Augen. Es ist kein langsames Wachwerden, vielmehr bin ich von einer Sekunde auf die nächste voll da - orientierungslos und verwirrt. Ich liege in einem Krankenzimmer, soviel steht fest. Als ich meinen Kopf langsam zur Seite drehe, sehe ich durch das geschlossene Fenster, dass es Nacht ist. Eine Stehlampe in einer Ecke des Raumes spendet gedimmtes Licht. Erst jetzt erkenne ich, dass jemand neben meinem Bett sitzt und mich beobachtet.
"Was ist passiert?", frage ich krächzend.
Für einen kurzen Moment glaube ich, dass ich zu meiner Frau spreche. Stattdessen beugt sich jedoch die Frau aus meinen Träumen vor und lehnt sich an den Bettrand.
"Du hattest einen Autounfall."
Ich versuche die Geschehnisse in mein Gedächtnis zu rufen, aber da ist nichts.
"Du wirst dich nicht daran erinnern können", errät die Frau meine Gedanken.
Ihr Gesicht ist wunderschön. Ich frage mich, wer sie ist. Nach einer Krankenschwester sieht sie nicht aus. Sie trägt zwar weiße Kleidung, diese ähnelt jedoch der, im Krankenhausalltag praktischen, Arbeitskleidung in keiner Weise.
"Wer sind Sie?", kann ich mich schließlich zur nächsten Frage aufraffen.
Sie lächelt mich auf eine Art und Weise an, die mein Herz zum Schmelzen bringt. Der Gedanke, dass ich jetzt, nachdem ich ihr wunderschönes Gesicht sehen durfte, sterben könnte, ohne etwas Wichtigeres verpasst zu haben, drängt sich mir auf.
"Nenn' mich einfach Leyla", sagt sie immer noch lächelnd.
Ich wende den Blick ab, um nicht weinen zu müssen, ihr Anblick ist einfach zu viel für mich. Sie nimmt meine Hand und drückt sie sanft. Mir ist, als würde meine Haut, dort, wo sie mich berührt, vibrieren. Kraft strömt in meinen Körper und ich spüre ein Kribbeln, wie wenn wieder Leben in einen eingeschlafenen Fuß zurückkehrt.
"Bin ich tot?", frage ich, einer plötzlichen Eingebung folgend.
Ihr Blick auf meinem Gesicht wärmt mich. Obwohl ich sie nicht ansehe, spüre ich, dass sie mich voller Güte und Liebe ansieht.
"Sieh' mich an.", sagt sie leise aber bestimmt.
Unfähig, mich ihrer Bitte zu widersetzen, wende ich meinen Kopf.
"Karl, du bist schon vor langer Zeit gestorben."
Ihre Worte verwirren mich kurz. Doch dann verstehe ich sie. Vermutlich spricht sie von meinem Leben und davon, dass ich nichts daraus gemacht habe. Dass ich mich treiben ließ und keine Ziele hatte, auf die hinzuarbeiten es sich gelohnt hätte. So gesehen war ich tatsächlich vor langer Zeit gestorben.
Plötzlich schüttelt sie ihren Kopf.
"Nein, Karl. Ich meine nicht, was du aus Deinem Leben gemacht hast. du bist tot. Vor sechsundneunzig Jahren gestorben."
Ich sehe sie verständnislos an. Wovon redet sie? Und woher wusste sie, was ich dachte?
"Wer sind Sie?", fragte ich erneut und verliere mich in ihren dunkelgrünen Augen.
Sie stößt einen bezaubernden Seufzer aus. "Ich wurde Dir zugeteilt, den Tag, an dem du geboren wurdest.", sagt sie in einer Stimme, als würde sie einem Fünfjährigen etwas erklären.
Stirnrunzelnd betrachtete ich sie. Ein Engel? Ein Schutzengel? Sie lächelt erneut, als sie meine Gedanken errät. Oder kann sie sie gar lesen?
"Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie meinen.", gebe ich schließlich von mir. Der Gedanke, tot zu sein, kommt mir absurd vor. Ich weiß, dass ich verletzt bin. Auch wenn mir der Grad meiner Verletzungen noch nicht bewusst ist, komme ich mir doch alles andere als tot vor.
"Du bist 1909 im Alter von zweiunddreißig Jahren an Tuberkulose gestorben.", gibt sie lächelnd von sich, so als würde sie mir einen guten Morgen wünschen.
"Aber ich wurde 1973 geboren!", entgegne ich ungläubig.
"Das stimmt. Du wurdest aber auch 1941 geboren."
Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie mich auf den Arm nimmt. Mir fällt nichts ein, was ich darauf entgegnen soll, also wende ich meinen Blick ab und starre die weiße Wand auf der anderen Seite des Raums an. Schließlich kommt mir ein Gedanke und ich wende meinen Blick erneut ihr zu.
"Wenn ich tot bin, wo bin ich dann jetzt? Wo sind wir hier?"
Sie lächelt mich mitleidig an. "Karl, das hier Jenseits. Du warst Zeit deines Lebens ein schlechter Mensch, der keine einzige gute Tat vollbracht hat. Du hast deine Frau und deine Kinder verlassen, ohne einen weiteren Gedanken an sie zu verschwenden, ehe Dich der Tod mit zweiunddreißig ereilt hat."
Ungläubig verzog ich die Mundwinkel. "Entschuldigen Sie, aber das ist der größte Schwachsinn, den ich jemals gehört habe! Ich habe meine Frau nicht verlassen, außerdem habe ich nur eine Tochter und nicht mehrere Kinder!"
Sie lässt meine Hand los, steht auf und geht ans Bettende.
"Glaub' es oder nicht. Ich habe die Erlaubnis erhalten, Dich heute Nacht zu besuchen, so wie ich es auch die vergangenen drei Male getan habe. Du wirst heute Nacht sterben Karl und du bist bis in alle Ewigkeit dazu verdammt, erneut geboren zu werden, um hier weiterzuleben. Die Welt, so wie du sie kennst, existiert nur in Deinem Kopf. Die richtige Welt hat nichts mit alldem hier zu tun. Ich begleite Dich nun schon geraume Zeit. Auch das letzte Mal warst du nicht bereit, mir Glauben zu schenken. Aber wir haben Zeit, viel Zeit. Ich wollte nur wieder versuchen, es Dir beizubringen."
Langsam kommt sie auf der anderen Seite zum Kopfende des Bettes und legt mir ihre Hand auf die Stirn. Als sie mich mit ihren dunkelgrünen Augen fixiert, habe ich das Gefühl, tatsächlich vor Glück sterben zu müssen.
Sie beugt sich zu mir herunter und küsst mich auf den Mund.
"Wir seh'n uns, mein Liebling.", haucht sie mir zu, als sie sich wieder aufrichtet.
Ich frage mich, wer sie tatsächlich ist und warum sie das hier tut. Während ihre Hand auf meiner Stirn ruht, spüre ich plötzlich, wie alles um mich herum verschwimmt. Es scheint, als würde ich erneut wegdriften. Alles wird dunkel. Wahrscheinlich schlafe ich wieder ein. Das ist gut. Schlafen wird mir helfen. Leise vernehme ich das Pochen meines Herzens in meinen Ohren. Es wird immer langsamer, bis es schließlich aufhört.
Sie sagte, ihr Name sei Leyla.
Leyla.. was für ein wunderschöner Name.