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Am liebsten nach Chennai

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05.07.2020
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Am liebsten nach Chennai

Sie meldeten sich am Samstagmittag bei mir. Sie hatten meinen Namen in ihrer Kartei bei Hofmann Personal und fragten, ob ich kurzfristig einen Job bräuchte. Ich sagte zu. Im Gefängnis hatte ich mit Holz gearbeitet, ganz früher sogar mal eine Ausbildung zum Schreiner angefangen und eine Zeitlang in einer kleinen Tischlerei im Wedding gearbeitet, aber das war lange her und seit Jahren hangelte ich mich von Zeitarbeit zu Zeitarbeit.
Am Montag fuhr ich mit dem Bus in das Industriegebiet. Die letzten dreihundert Meter ging ich über den Bahndamm und rauchte eine Zigarette. Kalter Wind blies mir ins Gesicht und ich fror.
In der Lagerhalle stand ich zusammen mit zweihundert anderen vor langen Tischen, die sie aufgebaut hatten. Darauf befanden sich Dutzende Behälter. Wir sollten die Briefe herausnehmen, die Schriftstücke und die Signatur kontrollieren und auf Schäden oder Verunreinigungen überprüfen. Die aussortierten Briefe kamen in eine rote Kiste, alle anderen in eine blaue, und so ging es den ganzen Tag. Ich hatte keine Ahnung, wofür das gut sein sollte, und es war mir auch egal. Ich ließ mir Zeit, aber für eine Sichtung brauchte ich kaum länger als zehn Sekunden. Die Arbeit war für anderthalb Wochen veranschlagt, und ich hatte schon nach einer Stunde genug von diesem Ort. Die vollen Kisten wurden mit Rollwagen abgeholt, um gescannt oder vielleicht auch verbrannt zu werden, wer wusste das schon? Als von einem der Wagen einmal mehrere Kisten herunterfielen und die Briefe überall auf dem Boden und zwischen den Tischen herumflogen, johlte die ganze Halle.

In der Pause stand ich in einer Ecke und sah mir an, mit wem ich zusammenarbeitete. Bis auf die Vorarbeiter-Arschlöcher, die man uns in die Halle gestellt hatte, damit uns wer auf die Finger schaute und kontrollieren konnte, ob wir auch wirklich arbeiteten, die herumschrien und uns zu einem schnelleren Pensum antreiben sollten, sprach kaum jemand Deutsch. Viele redeten Arabisch miteinander, einige Schwarze unterhielten sich auf Französisch und an meinem Tisch arbeitete auch eine Gruppe indischer Frauen. Sie lachten, machten Scherze, und einmal sangen sie sogar, bis einer der Vorarbeiter in der Nähe vorbeiging und sie schnell damit aufhörten, als hätte man sie bei etwas Verbotenem erwischt. Eine der Frauen fiel mir auf. Wenn sie lachte, schloss sie ihre braunen Augen und es bildeten sich Fältchen auf ihren Wangen und auf der Nase.
Ich sprach sie in der Pause an. Sie stand im Flur und trank Kaffee. Sie ging mir vielleicht bis zur Schulter und hatte ihre schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden.
„Ist der Kaffee gut?“, fragte ich. Sie sah mich an. Ich deutete auf den Becher in ihrer Hand und sie lächelte. Dann zuckte sie mit den Achseln.
„Ist okay, denke ich.“ Sie sprach langsam, mit leichtem Akzent.
„Okay, reicht mir“, sagte ich und suchte in meiner Hosentasche nach ein paar Münzen für den Automaten. Ich zahlte, drückte auf den Knopf und stellte einen Becher unter die Maschine.
„Wir arbeiten am selben Tisch“, sagte sie, und ich nickte.
„Stimmt.“ Ich hielt ihr die Hand hin. „Günther.“
Sie griff zu. Ich war überrascht, sie hatte einen sehr festen Händedruck.
„Lasala.“
Ich nahm den Becher, trank einen Schluck und verzog das Gesicht. Sie lachte und schloss dabei ihre Augen.

Am Abend saß ich in meiner Küche. Mein Rücken schmerzte vom langen Stehen und meine Knie konnte ich auch spüren. Sie hatten gesagt, dass sie uns Stühle hinstellen wollten, aber das glaubte ich erst, wenn ich welche sah.
Ich hatte meinen alten Atlas aus dem Regal geholt. Ein blaues stilisiertes Auge und rote Pfeile waren auf dem Umschlag abgebildet. Als ich einfuhr, hatte ein Freund meine paar Sachen in Kartons gepackt und in seiner Garage aufbewahrt, und als ich wieder rauskam, hatte er mich bei sich auf dem Sofa schlafen lassen und mir geholfen, eine Wohnung zu finden. Später brach der Kontakt ab und das letzte Mal hab ich ihn vor fünf oder sechs Jahren gesehen, als er mit seiner Tochter unterwegs war. Wir haben nur ein paar Worte miteinander gewechselt und er sah mir dabei nicht mal richtig in die Augen.
Ich suchte im Inhaltsverzeichnis nach dem indischen Subkontinent, schlug die angegebene Seite auf und fuhr mit dem Finger über die Karte. Meine Fingerspitzen waren dunkel verfärbt, von der Druckertinte der Briefe. Ich wanderte über Mumbai und betrachtete den Golf von Bengalen. Weiter als bis Stettin war ich in meinem Leben nie gekommen. Auf der PVC-Tischdecke war ein Kaffeefleck und ich kratzte mit meinem Daumennagel daran herum. Indien, dachte ich. Was wusste ich eigentlich über Indien? Elefanten gab es da. Und Tiger. Den Ganges, Hindus und Vishnu. Und warm war es, viel wärmer als hier. Im Radio lief Sport, aber ich hörte nicht hin.

„Wo kommst du her?“, fragte ich. Sie strich mit ihren Fingern die Maserung ihres Bechers entlang. Ich lehnte an der Wand und beobachtete sie.
„Aus Chennai. Aber das ist lange her. In Deutschland bin ich seit über zehn Jahren.“
„Liegt am Meer, oder? Chennai, mein ich.“
Sie hob die Augenbrauen. „Du kennst die Stadt?“
Ich schüttelte den Kopf. „Wollte nur ein bisschen angeben. Ich war nie weiter als in Polen.“
Wir lachten. Als die Pause vorbei war, warfen wir unsere leeren Becher in den Mülleimer neben dem Kaffeeautomaten.

Nach der Arbeit fuhr ich mit dem Bus nach Hause. Zwei Sitzreihen vor mir saßen eine junge Frau und ihr Sohn. Zwischen ihnen standen Taschen voller Einkäufe. Ich sah Toilettenpapier, Milchpackungen und eingeschweißtes Weißbrot. Der Junge beobachtete mich durch den Schlitz zwischen den Sitzen hindurch. Ich tat, als bemerkte ich es nicht, und sah eine Weile aus dem Fenster. Dann drehte ich mich zu ihm und streckte die Zunge heraus. Er sah mich mit großen Augen an. Ich machte ein Spiel daraus und hielt seinem Blick stand. Langsam schob sich sein Gesicht hinter den Sitz und ich sah nur noch einen Schopf dunkler Haare. An der nächsten Station stiegen sie aus. Ich sah ihnen durch die Scheibe nach. Sie, mit den schweren Tüten in den Händen, ihr Junge durch dunkle Pfützen stapfend voran, durch den Regen in Richtung der Siedlungen. Wir fuhren weiter. Tropfen schlugen gegen die Scheibe und liefen in langen Schlieren daran herab. Die Augen fielen mir zu. Während ich dämmerte, immer wieder hochschreckte, wenn der Bus hielt und sich die Türen zischend öffneten, dachte ich an Lasala, die an meinem Tisch arbeitete und Briefe sortierte, viel schneller, als ich es konnte, die lachte und indische Lieder sang.

„Warum arbeitest du eigentlich hier?“, fragte sie. Wir standen vor der Halle auf dem Parkplatz. Die Sonne war zwischen den Wolken herausgekommen und es war etwas wärmer als die letzten Tage.
„Muss irgendwie meine Miete bezahlen“, sagte ich. „Und bisschen was essen will man ja auch. Früher stand ich jahrelang schwarz aufm Bau und schleppte Zement, aber die Knie machen das nicht mehr mit. Jetzt eben so was hier. Ab und an, da putz ich sogar Flure und Büros, das ist mir egal. Hauptsache, die vom Amt steigen mir nicht aufs Dach.“
„Dachte zuerst, du gehörst zu denen, so wie du aussiehst.“ Sie deutete auf die Vorarbeiter.
„Es gibt Grenzen“, sagte ich. „Aber viel Auswahl habe ich nicht, stimmt schon.“
Sie nickte und ich war froh, dass sie nicht weiter nachfragte. Wir lehnten an der Wand, ich rauchte und eine Weile schwiegen wir.
„Hast du eine Frau?“, fragte sie irgendwann. Sie hatte die Augen geschlossen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
Ich schüttelte den Kopf. „Auch keine Kinder. Was ist mit dir?“
„Zwei Kinder. Mein Sohn wird bald eingeschult und meine Tochter geht schon in die fünfte Klasse. Kleine Monster!“
Wir lachten. Sie erzählte, wie sie mit ihrem Mann im Winter vor Jahren nach Berlin gekommen war. Sie hatten einige Monate zusammen mit der Tochter in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Hellersdorf gelebt. Die Heizung fiel nach zwei Wochen aus und als der Hausmeister nichts dagegen unternehmen wollte, war ihr Mann drauf und dran gewesen, dem Kerl an den Hals zu gehen.
„Er wollte draußen auf ihn warten, mit einem Besen in der Hand, verstehst du?“ Sie lachte und ich lachte auch, aber ich verstand, dass es nicht einfach gewesen war. Ihr Mann hieß Bharat. Er arbeitete als Pflegehelfer in einem Altenheim. Ich versuchte, mir vorzustellen, was er dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass ich mit seiner Frau in der Mittagspause Kaffee aus kleinen Plastikbechern trank und meinen Blick nicht von ihr nehmen konnte. Vielleicht wusste er es? Vielleicht hatte Lasala von mir erzählt. Von dem großen Deutschen, der nicht zu den Vorarbeiterschweinen gehörte.
„Du würdest ihn mögen“, sagte sie.
„Ganz bestimmt! Ich könnte euch beiden ja mal ein paar Ecken in Berlin zeigen, das glaubt ihr gar nicht! Und danach gehen wir zusammen zu Eisern-Union!“

Es hatte zu regnen begonnen, und weil ich einen Schirm mitgenommen hatte, bot ich an, sie zu ihrer Haltestelle zu begleiten. Wir standen unter dem Wartehäuschen, eng gedrängt mit anderen, die wie wir auf den Bus warteten. Die Tropfen schlugen hart auf das Pflaster der Straße, so dass sich ein diesiger Nebel bildete, und das Prasseln der Tropfen war so laut, dass wir kaum verstanden, wenn wir etwas zueinander sagten. Ich begann, mir eine Zigarette zu drehen. Als ich fertig war, machte Lasala eine Handbewegung und nickte mir zu. Überrascht gab ich ihr meine Zigarette, holte mein Drehzeug erneut hervor, nahm ein neues Papier und krümelte etwas Tabak darauf. Ich zündete unsere Zigaretten an, erst ihre, dann meine, und dann rauchten wir und sahen staunend dem Wasser zu, das sintflutartig die abschüssige Straße entlangfloss, das Prasseln der Regentropfen auf dem Dach über uns so seltsam laut, beinahe wie in einem Traum.
Als der Bus kam und schnaufend neben uns hielt, warf Lasala die halbfertige Zigarette weg. Sie drehte sich zu mir und wir umarmten uns hastig, so wie es zwei Bekannte tun, die sich voneinander verabschieden. Sie stieg ein, ihre Kapuze über dem Kopf, und ich verlor sie aus den Augen, weil wegen der Feuchtigkeit im Bus die Scheiben beschlagen waren. Ich stand noch zwei oder drei Minuten unter dem Wartehäuschen und wartete, obwohl der Bus längst davongefahren und der Regen mittlerweile in ein harmloses Nieseln übergegangen war. Ich dachte an unsere Umarmung und daran, wie sie sich angefühlt hatte, trotz der dicken Jacken, die wir trugen, und trotz des Regens, und obwohl wir uns ja nur voneinander verabschiedet hatten, wie zwei Bekannte es tun würden.

Am späten Freitagnachmittag gingen wir aus der Halle und unterhielten uns über das anstehende Wochenende. Sie erzählte, dass Freunde zu Besuch kommen und sie gemeinsam etwas kochen würden. Auf dem Parkplatz wartete ihr Mann. Als er auf uns zukam, versuchte ich, irgendeine Art angemessenen Blickkontakts zu ihm aufzunehmen, aber er beachtete mich kaum, warf mir nur einen flüchtigen Blick zu. Lasala und er umarmten sich. Ich stand daneben und kam mir mit einem Mal vor wie ein Idiot. Peinlich berührt vergrub ich die Hände in den Hosentaschen. Ich hatte das Gefühl, dass alle, die aus der Halle an uns vorbeikamen, herübersahen und Bescheid wussten. Lasala löste sich. Sie sagte etwas zu ihrem Mann und ich meinte, meinen Namen herauszuhören. Er streckte seinen Arm aus und wir gaben uns die Hand. Er hatte ein freundliches Gesicht und einen dunklen, buschigen Schnurrbart. Er sah sehr müde aus, hatte Schatten unter den Augen, aber er lächelte, als er meine Hand schüttelte, und ich glaube, dass es ein aufrichtiges Lächeln war. Er stellte sich vor. Dann standen wir nebeneinander und einen Moment lang sagte niemand etwas. Lasala fragte, ob ich nicht auch zum Essen kommen wolle, und ich dachte zunächst, dass ich mich verhört haben musste. Bharat verzog keine Miene, aber sein freundliches Gesicht wirkte eingefroren. Ich zögerte.
„Danke, das ist wirklich sehr nett“, sagte ich leise. „Aber ich kann heute Abend leider nicht kommen. Tut mir leid.“
Natürlich stimmte das nicht. Ich hatte nichts vor und wäre Bharat nicht hier gestanden, wer weiß? Vielleicht hätte ich mir die ganze Sache überlegt. Aber ich wollte es nicht übertreiben. Außerdem wollte ich nicht zwischen den Freunden von Lasala und Bharat sitzen und erklären, wer ich war und was mich zu ihnen an den Tisch gebracht hatte. Lasala nickte, als wüsste sie Bescheid. Sie lächelte, aber ich meinte, in ihrem Blick so etwas wie Enttäuschung zu sehen. Sie nahm meine Hand und ich erschrak. Aber nur ein wenig, denn es war auch schön, die warme, weiche Haut ihrer Finger zu spüren.
„Nächstes Mal!“, sagte sie bestimmt. Nächste Woche, ja?“ Sie ließ meine Hand los.
„Nächste Woche“, sagte ich. „Abgemacht.“
Zum Abschied winkte ich. An einer Straßenecke blieb ich stehen. Andere aus der Halle, die wie ich zum Busbahnhof unterwegs waren, überholten mich. Ich drehte mich noch einmal um, ging ein paar Schritte zurück und sah um die Ecke, aber da waren die beiden schon nicht mehr da. Später im Bus dachte ich an den kommenden Montag und rieb die Finger der Hand, die Lasala ergriffen hatte, sachte aneinander.

Am Abend bekam ich einen Anruf von Hofmann Personal. Sie sagten, dass der Auftrag früher als geplant abgeschlossen wäre, und sie meinten, ich bräuchte am Montag nicht mehr zu kommen. Ich schloss die Augen. Natürlich, die wurden pauschal für jeden Auftrag bezahlt. Wenn wir früher fertig waren, umso besser. Dann zahlten sie uns die Stunden, die wir dagewesen waren, strichen die Differenz ein und machten einen Schnitt. Und jedem von uns fehlten am Ende ein paar hundert Euro. Sie fragten, ob sie mich bei Bedarf wieder anrufen könnten. Ich legte auf.
Ich ging zu einem Kiosk drei Straßen weiter. Der Mann hinter dem Verkaufstresen gab mir ein Bier. Ich bezahlte und trank die Hälfte davon in einem Zug, dann den Rest und dann noch eine zweite Dose. Am Ende meinte der Mann in seinem Kabuff, der kein Wort gesagt hatte, jedes Mal, wenn ich eine neue Dose von ihm wollte, ob ich nicht gleich zehn Biere kaufen wolle, dann könnten wir uns einen Teil des Aufwands sparen. Ich nickte und ging. Er rief mir hinterher, wo ich denn jetzt so plötzlich hinwolle
„Am liebsten nach Chennai“, antwortete ich leise und wankte weiter. „Das ist in Indien.“
Noch lange saß ich an meinem Küchentisch und dachte an Lasala. An ihren Nachnamen, den ich nicht kannte, und an die Adresse, die ich nirgendwo finden würde.

Am Montagmorgen fuhr ich mit dem Bus in das Industriegebiet. Bevor ich meine Wohnung verließ, riss ich vorsichtig mit beiden Händen die Seite des indischen Subkontinents aus dem Atlas heraus. Es war nicht schwer, die Leimbindung löste sich bereits. Ich faltete das Papier in der Mitte zusammen und steckte es in meine Jackentasche.
Ich lief die dreihundert Meter über den Bahndamm, rauchte eine Zigarette und fror. Ich ging über den Parkplatz. Er war beinahe leer, nur ein paar wenige Autos trotzten dem eiskalten Wind.
Die Halle war abgeschlossen, kein Mensch da und der ganze Ort sah mit einem Mal so anders aus, als wäre ich niemals vorher hier gewesen. Ich lehnte mich gegen die Eingangstür und blickte über den verwaisten Parkplatz und auf die gegenüberliegende Straßenseite. Ich wartete. Eine Frau kam den Gehweg entlang. Einen Moment lang dachte ich, sie wäre es, aber dann ging die Frau weiter. Ich blickte in den Nieselregen, der wieder eingesetzt hatte. Noch zehn Minuten, sagte ich mir. So lange warte ich noch. Ich befühlte das Papier in meiner Tasche, während ich fror und der kalte Wind gegen meine Jacke schlug.

 
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Moin @Habentus ,

wow, der Stapel der Challengebeiträge wächst und ich habe gerade mal eine sehr zarte Idee im Hinterkopf.
Lass schauen, was Deine Version eines aus dem Rahmen fallenden Ortes ist.

Chennai
Offensichtlich etwas weiter weg! Ich bin gespannt.

Ich sagte zu. Im Gefängnis hatte ich mit Holz gearbeitet, ganz früher sogar mal eine Ausbildung zum Schreiner angefangen und eine Zeitlang in einer kleinen Tischlerei im Wedding gearbeitet, aber das war lange her und seit Jahren hangelte ich mich von Zeitarbeit zu Zeitarbeit.
Ich finde die Verortung und Vorstellung des Protagonisten gelungen. Deine ruhige, sehr schliche Sprache nimmt mich mit in die Geschichte. Das scheint kein Glückspilz zu sein.

Ich fror und kalter Wind blies mir ins Gesicht.
Gefühlt würde ich den Satz drehen, Ursache und Wirkung?

Die vollen Kisten wurden mit Rollwagen abgeholt, um gescannt oder vielleicht auch verbrannt zu werden, wer wusste das schon? Als von einem der Wagen einmal mehrere Kisten herunterfielen und die Briefe überall auf dem Boden und zwischen den Tischen herumflogen, johlte die ganze Halle.
Auch hier gelingt es Dir mit kurzen Worten die Atmosphäre einzufangen. Zugegebenerweise hat mich die Geschichte neugierig gemacht, in einem Rutsch durchgezogenund ich habe erst beim zweiten Lesen rauszitiert.

Bis auf die Vorarbeiter-Arschlöcher, die man uns in die Halle gestellt hatte, damit uns wer auf die Finger schaute und kontrollieren konnte, ob wir auch wirklich arbeiteten, die herumschrien und uns zu einem schnelleren Pensum antreiben sollten, sprach kaum jemand Deutsch.
Hier finde ich es interessant, wie überzeugend/glaubhaft Du seine Vorurteile bringst . Ich sehe ihn vor mir, zu dem Mann passt es absolut, das die Vorgesetzen alle nur schlechtes wollen.

ein paar Schwarze Männer
Ich bin ahnungslos! Ja, gewollt ist die Bezeichnung schwarzer Mann. Aber großgeschrieben wäre es ja ein Eigenname, oder?
PS habe es gerade im Internet gelesen - also Deine Version ist anscheinend richtig - Danke fürs schlauer machen

„Ist OK, denke ich.“
Grins! Ich habe gerade einen kleinen Friedel auf der Schulter (der sitzt da auch, wenn ich okay schreibe)
Seine Erläuterung (die ich hiermit vorwegnehme) lautet. Das OK ist eventuell das Kürzel von Oklahoma. Was Du abkürzen möchtest wäre korrekt geschrieben o.k. und verbraucht somit genausoviele Zeichen wie ausgeschrieben okay.

Sie griff zu. Ich war überrascht, sie hatte einen sehr festen Händedruck.
„Lasala.“
Ich nahm den Becher, trank einen Schluck und verzog das Gesicht. Sie lachte und schloss dabei ihre Augen.
Ja, der Mann ist einsam! Braucht mehr Menschen in seinem Leben. ich habe nicht unbedingt das Gefühl, das es Vordergründig um sie als Frau geht, mehr menschliche Nähe denke ich.
Ich würd hier nochmal nach dem Satzbau schauen, ab und an häufen sie sich zu ähnlich, aber das ist schon sehr kleinteilig gemeckert.

Später brach der Kontakt ab und das letzte Mal hab ich ihn vor fünf oder sechs Jahren gesehen, als er mit seiner Tochter unterwegs war. Wir haben nur ein paar Worte miteinander gewechselt und er sah mir dabei nicht mal richtig in die Augen.
Ja, und der Knast und das "scheitern" im Leben macht ihn vorsichtig, empfindlich. Gut eingefangen.

Und warm war es, viel wärmer als hier
Denkste! Also am Meer, im tropischen Bereich nartürlich. Ich war in Sikkim zum Beginn der Regenzeit und habe lange nicht so gefroren. :klug:

Ich schüttelte den Kopf. „Wollte nur ein bisschen angeben. Ich war nie weiter als in Polen.“
Sehr sympathisch, so ehrlich.

Er sah mich mit großen Augen an. Ich machte ein Spiel daraus und hielt seinem Blick stand
Grins! Allerdings empfinde ich diese "nicht ausweichen" immer als Böse, sehe da eher Angst in den Kinderaugen. Mir fehlt zur Auflösung, das es ein Spiel ist, ein Lächeln oder ein Zunge raus des Kindes. Aber das ist wirklich sehr subjektiv gedacht.

Ich dachte an unsere Umarmung und daran, wie sie sich angefühlt hatte, trotz der dicken Jacken, die wir trugen, und trotz des Regens, und obwohl wir uns ja nur voneinander verabschiedet hatten, wie zwei Bekannte es tun würden.
Auch hier! Vielleicht liege ich ja auch falsch, aber ich lese da Sehnsucht nach menschlicher Nähe.

„Am liebsten nach Chennai“, antwortete ich leise und wankte weiter. „Das ist in Indien.“
Hier kommt für mein Lesen Deine Idee raus, die Sehnsucht nach einem warmen Ort, an dem gesungen wird. Freundliche Menschen sind? Aber das ist jetzt meinerseits sehr positiv interpretiert - gelesen habe ich es nicht. Momentan empfinde ich das als eine mit genauer Beobachtungsgabe und Menschenliebe geschriebene Geschichte, das Challengethema kommt mir noch zu kurz.

Ich befühlte das Papier in meiner Tasche, während ich fror und der kalte Wind gegen meine Jacke schlug.
Auch noch so ein Ansatz, aber da fühle ichmich als Leserin noch zu allein gelassen.
Vielleicht liest der nächste Kommentator die Geschichte ganz anders, auf alle Fälle schön, dass Du mitmachst.
Herzliche Grüße
greenwitch

 

@Habentus ,

Affäre, die endet, bevor sie beginnt. Eine Liebelei, die unter der Fristsetzung eines Leiharbeitbeschäftigungsverhältnis' leidet. Aber auch eine Milieustory von sozialer Realität, hier der große, riesige, oft sehr unsichtbare oder absichtlich-unsichtbar-gemachte Sektor aus Zeit- und Leiharbeiten, ABMs und Niedriglöhnerjob, Mini- und Midijobs, oft mit Menschen aus der geographischen und/oder sozioökonomischen Ferne und die der deutsche Arbeitsmarkt so sehr braucht, die Gesellschaft - je nach politischer Coleur - mal mehr, mal weniger akzeptiert. Das sind natürlich ganz andere Debatten, dennoch fließen diese Themen in deine kleine Geschichte mit ein oder wirbeln im Hintergrund mit. Mir gefällt, dass deine Story nicht überfrachtet, gar nicht viel versucht, sondern eine kurze Episode dieses Milieus nachzeichnet, mit einer schlagartig begonnenen wie beendeten emotionalen Wärme. Es ist die Arbeit, die diese Geschichte bestimmt.

Es gibt zwei, drei Aspekte, die sehr vage angesprochen werden. Scham zB, die Scham über sich und seinen Lebenslauf und vielleicht das Unerklärliche, was geschehen ist, dass man jetzt hier in einer Halle Briefe für Hofmann Personal umlagert. Die Scham ist auch etwas, was dieser Affäre ein Ende vor dem Anfang setzt.

Finde schon, dass die Geschichte irgendwas hat, vielleicht diese Ansätze einer Milieuzeichnung, vielleicht auch, weil man eigentlich ahnt, dass hier eine Hoffnung, mal wieder, mal wieder, vergeblich wird. Am Ende bleibt der Anfang.

Ich sagte zu. Im Gefängnis hatte ich mit Holz gearbeitet, ganz früher sogar mal eine Ausbildung zum Schreiner angefangen und eine Zeitlang in einer kleinen Tischlerei im Wedding gearbeitet, aber das war lange her und seit Jahren hangelte ich mich von Zeitarbeit zu Zeitarbeit
Den Satz aufteilen?
vor langen Tischen, die sie aufgebaut hatten
würde ich streichen
Die vollen Kisten wurden mit Rollwagen abgeholt, um gescannt oder vielleicht auch verbrannt zu werden, wer wusste das schon?
Auch das würde ich streichen. Das konzentriert den Text auf diese Arbeit des Briefeöffnens.
ein paar Schwarze Männer unterhielten sich auf Französisch
warum schwarz groß?
Wenn sie lachte, schloss sie ihre braunen Augen und es bildeten sich Fältchen auf ihren Wangen und auf der Nase.
Die Fältchen also. Mal wieder.
Sie hatten gesagt,
Hier würde die anonymisierte Autorität entfernen. Sie hatten, sie da ...okay, ja, das Stilmittel hat gewirkt. Nenne es konkreter. Deine Welt ist sortierter, da sind die Dinge benannt, wie sie sind.

Ich hatte meinen alten Atlas aus dem Regal geholt. Ein blaues stilisiertes Auge und rote Pfeile waren auf dem Umschlag abgebildet. Als ich einfuhr, hatte ein Freund meine paar Sachen in Kartons gepackt und in seiner Garage aufbewahrt, und als ich wieder rauskam, hatte er mich bei sich auf dem Sofa schlafen lassen und mir geholfen, eine Wohnung zu finden.
Das ist nur ein vager Vorschlag. Aber deine Story hat ja auch ein Element der Ferne in sich. Und ich finde, ganz platt, dass der Günther vielleicht auch ein großer Freund des Exotischen ist, vielleicht interessiert er sich für eine große, weite Ferne, vielleicht ist der Atlas sein bester Freund. Bei Aldi gibts gelegentlich diese Weltatlanten für zehn Euro, die auf einer Doppelseite Nordindien zeigen, also Ticken detaillierter sind. Ich glaube irgendwie nicht, dass er nur bis Stettin kam. Was ich eher glaube: Er war mal in Istanbul. Mit billigsten Mitteln, rumänischer Fernbus, Trampen, war er genau dort. Völlig abgestumpft angesichts seiner prekären Umstände ist er nicht. Er mag die Weite. Da ist er Günther, der Tourist, vielleicht der Abenteurer und nicht Günther, der Gescheiterte, die Fallnummer 457 der Arbeitsagentur Wedding. Ich glaube, deine Geschichte ist auch eine der Sehnsucht nach etwas, wo man Würde erlebt. Jetzt assoziiere ich vielleicht etwas zu weit, aber kann man nachvollziehen, was ich damit meine?
Nach der Arbeit fuhr ich mit dem Bus nach Hause. Zwei Sitzreihen vor mir saßen eine junge Frau und ihr Sohn.
Erinnert mich an eine Szene aus Joker. Mir ist nicht klar, was diese Szene sagen soll. Würde die ganze Szene streichen.
Er wollte draußen auf ihn warten, mit einem Besen in der Hand, verstehst du?“
Diese kleine Erzählung ist ein kleines verlorenes Geheimnis deiner Geschichte, denn hier erfahre ich als Leser etwas über Lasala und ihren Mann, besser: Wie Lasala ihren Mann sieht. Und auch wenn deine Geschichte aus der Ich-Perspektive arbeitet und ich als Leser unmittelbar die Denke des Prots mitbekomme, ist diese sehr kleine Geschichte viel, viel mehr wert. Was du hier andeutest: Lasala hält gar nicht viel von ihrem Mann. So eine Art verlorener Held. Die Heizung will nicht, also stellt sich Bharat der Große mit Besenstiel ans Hausmeisterbüro (wahrscheinlich Sprechzeiten von 6:15 bis 7:05 an Vollmond) und wartet. Lasala findet dieses Bild witzig. Spottet sie? Vielleicht kann man die Szene schärfen, stärker konturieren. Lasala denkt vielleicht zum Ich-Prota Im Endeffekt wären wir ein glückliches Paar geworden, aber diese gesellschaftsökonomischen Umstände unserer Zeit! Vergeblichkeit!
obwohl der Bus längst davongefahren und der Regen mittlerweile in ein harmloses Nieseln übergegangen war.
Da hätte mein alter Mitbewohner gesagt: Viel Dynamik in der Atmosphäre! Nach einer Regentaufe, die an Noah und seine Tiere erinnert, zieht schlagplötzlich der klassische Nieselgriesel übers Land. Ich würde das streichen, da dein Text zu unmittelbar arbeitet. Sie sprechen, es regnet, der Regen scheint wichtig in der Szene zu sein, warum wird dann die Änderung so spät erwähnt? Aber das nur als kleiner Aspekt.
Natürlich stimmte das nicht. Ich hatte nichts vor und wäre Bharat nicht hier gestanden, wer weiß? Vielleicht h
Innerer Monolog, so heißt das, oder? Hm. Braucht es den? Braucht es den überhaupt in deiner Geschichte? Für meinen Geschmack eher nicht. Ich verstehe diese Zeilen als Hilfskonstruktion, das Dreieck auszuloten. Würde ich eher lassen.
Der Mann hinter dem Verkaufstresen gab mir ein Bier. Ich bezahlte und trank die Hälfte davon in einem Zug, dann den Rest und dann noch eine zweite Dose. Am Ende meinte der Mann in seinem Kabuff, der kein Wort gesagt hatte, jedes Mal, wenn ich eine neue Dose von ihm wollte, ob ich nicht gleich zehn Biere kaufen wolle, dann könnten wir uns einen Teil des Aufwands sparen. Ich nickte und ging. Er rief mir hinterher, wo ich denn jetzt so plötzlich hinwolle

Der Mann hinter dem Verkaufstresen gab mir ein Veltins. Ich zahlte. Trank die Hälfte in einem Zug, den Rest in einem zweiten, dann noch eine Dose.
Ob ich zwei Sixpacks kaufen wolle?
Ich nickte, zahlte und ging.

Ich schätze die Umstände deiner Geschichte, aber - sorry Habentus - aber ich fürchte immer ein bisschen Kitsch, ein bisschen Abgegriffenes. Er leidet an Liebeskummer, er betrinkt sich und wählt einen teuren Kiosk, erhält dann zehn Dosen (weiß gar nicht, ob irgendwo in Deutschland das Dezimalsystem bei Bier eingeführt ist, eigentlich basiert das ja auf Basis 6 oder 20). Ich verstehe den Wunsch nach ertränkter Trauer. Leider habe ich auch keine Idee. Aber ich würde hier irgendwie eine andere Bewältigung einbauen, irgendwas anderes. Zum Beispiel bestellt er sich ein riesiges Butter Chicken bei Lieferando (nein, das war ein dummer Scherz meinerseits)!

Stichwort Challenge-Thema. Ich sehe das anders als greenwitch. Du hast das ja ganz geschickt interpretiert, Chennai fällt ja aus dem Rahmen der Güntherschen Lokalrealität. Insgesamt sehr gerne gelesen!

lg
kiroly

 

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