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Am liebsten nach Chennai
Sie meldeten sich am Samstagmittag bei mir. Sie hatten meinen Namen in ihrer Kartei bei Hofmann Personal und fragten, ob ich einen Job bräuchte. Im Gefängnis hatte ich mit Holz gearbeitet, ganz früher sogar mal eine Ausbildung zum Schreiner angefangen und eine Zeitlang in einer kleinen Tischlerei im Wedding gearbeitet, aber das war lange her und seit Jahren hangelte ich mich von Zeitarbeit zu Zeitarbeit.
Am Montag fuhr ich mit dem Bus in das Industriegebiet. Die letzten dreihundert Meter ging ich über den Bahndamm und rauchte eine Zigarette. In der Lagerhalle stand ich zusammen mit zweihundert anderen vor langen Tischen, die sie aufgebaut hatten. Darauf befanden sich Dutzende Behälter. Wir sollten die Briefe herausnehmen, die Schriftstücke und die Signatur kontrollieren und auf Schäden oder Verunreinigungen überprüfen. Die aussortierten Briefe kamen in eine rote Kiste, alle anderen in eine blaue, und so ging es den ganzen Tag. Ich hatte keine Ahnung, wofür das gut sein sollte, und es war mir auch egal. Ich ließ mir Zeit, aber für eine Sichtung brauchte ich kaum länger als zehn Sekunden. Die Arbeit war für anderthalb Wochen veranschlagt, und ich hatte schon nach einer Stunde genug von diesem Ort. Die vollen Kisten wurden mit Rollwagen abgeholt, um gescannt oder vielleicht auch verbrannt zu werden, wer wusste das schon? Als von einem der Wagen einmal mehrere Kisten herunterfielen und die Briefe überall auf dem Boden und zwischen den Tischen herumflogen, lachte der ganze Tisch.
Neben denjenigen, die die Briefe sortierten, so wie ich es tat, gab es ein paar Männer, die sich abseits hielten. Sie trugen keine gleichförmigen Klamotten, keine Uniformen oder so etwas, aber trotzdem war klar, wer zu ihnen gehörte und wer nicht. Man hatte sie uns in die Halle gestellt, damit sie uns auf die Finger schauen und kontrollieren konnten, ob wir auch wirklich arbeiteten. Aber sie nahmen ihren Job ungefähr so ernst wie ich. Meistens standen sie zusammen in einer Ecke der Halle, unterhielten sich und ließen uns in Ruhe. Ein unausgesprochenes Gesetz, das ich auch aus anderen Jobs kannte, ließ nichts anderes zu. Nur einer von ihnen, ein hagerer Typ mit Glatze und einer silbernen, schwergliedrigen Kette um den Hals, nahm die Rolle, die man ihm zugeschanzt hatte, ernst und brach diesen Pakt. Er ging umher, blaffte die Leute an den Tischen an und versuchte, uns zu einem höheren Pensum anzutreiben. Er hatte eine kehlige Stimme, die nicht so recht zu seiner ausgezehrten Gestalt passen mochte. Man hörte ihn, wenn er loslegte, auch noch zwei Ecken weiter. Soweit ich es sah, nahm ihn niemand ernst. Wenn er kam, unterbrach man sein Gespräch für den Moment, und wenn er weiterging, nahm man seine Unterhaltung wieder auf. Auf sein Gezeter ging niemand ein, und die allermeisten lachten verstohlen, wenn er meinte, laut werden zu müssen. Ich kannte solche wie ihn, hatte oft genug mit ihnen zu tun gehabt. Große Fresse, Amstaff-Jogginghose, immer besonders laut, aber wenn es wirklich auf die Backen gibt, die ersten, die das Maul halten. Im Grunde arme Schweine, aber für mich waren Typen wie er trotzdem der letzte Dreck und ich glaube, dass er das auch spürte, denn er ließ mich in Ruhe, egal wie schnell oder langsam ich arbeitete.
An meinem Tisch sprach kaum jemand Deutsch. Viele redeten Arabisch miteinander, ein paar Schwarze unterhielten sich auf Französisch und in meiner Nähe arbeitete auch eine Gruppe Frauen aus Indien oder Bangladesch, das wusste ich nicht so genau. Sie lachten, machten Scherze, und einmal sangen sie sogar. Leise und nur für einen kurzen Augenblick, aber es klang schön. Eine der Frauen fiel mir auf. Sie hatte ein hübsches Gesicht, ein warmes Lachen, war etwas korpulenter als die anderen und ging mir vielleicht bis zur Schulter.
Ich sprach sie in der Pause an. Sie stand im Flur und trank Kaffee. „Is the coffee good?“, fragte ich. Wann hatte ich das letzte Mal etwas zu jemandem auf Englisch gesagt? Ich konnte mich nicht erinnern. Sie sah mich an. Ich deutete auf den Becher in ihrer Hand und sie lächelte. Dann zuckte sie mit den Achseln.
„Ist okay für Automatenkaffee, denke ich.“ Sie sprach langsam, mit kaum erkennbarem Akzent.
Natürlich sprach sie Deutsch. Es war mir ein bisschen peinlich, aber ich ging darüber hinweg. „Okay, reicht mir“, sagte ich und suchte in meiner Hosentasche nach ein paar Münzen für den Automaten. Ich zahlte, drückte auf den Knopf und stellte einen Becher unter die Maschine.
„Wir arbeiten am selben Tisch“, sagte sie, und ich nickte.
„Stimmt.“ Ich hielt ihr die Hand hin. „Günther.“
Sie griff zu. Ich war überrascht, sie hatte einen sehr festen Händedruck.
„Lasala.“
Ich nahm den Becher, trank einen Schluck und verzog das Gesicht. Sie lachte und schloss dabei ihre Augen.
Am Abend saß ich in meiner Küche. Mein Rücken schmerzte vom langen Stehen und meine Knie konnte ich auch spüren. Sie hatten gesagt, dass sie uns Stühle hinstellen wollten, aber das würde ich erst glauben, wenn ich welche sah.
Ich hatte meinen alten Atlas aus dem Regal geholt. Ein blauer stilisierter Planet und rote Pfeile waren auf dem Umschlag abgebildet. Als ich einfuhr, hatte ein Freund meine paar Sachen in Kartons gepackt und in seiner Garage aufbewahrt, und als ich wieder rauskam, hatte er mich bei sich auf dem Sofa schlafen lassen und mir geholfen, eine Wohnung zu finden. Später brach der Kontakt ab und das letzte Mal hab ich ihn vor fünf oder sechs Jahren gesehen, als er mit seiner Tochter unterwegs war. Wir haben nur ein paar Worte miteinander gewechselt und er sah mich dabei nicht mal richtig an.
Ich suchte im Inhaltsverzeichnis nach dem indischen Subkontinent, schlug die angegebene Seite auf und fuhr mit dem Finger über die Karte. Meine Fingerspitzen waren dunkel verfärbt von der Druckertinte der Briefe. Ich hatte versucht die Farbe abzuwaschen, aber sie hielt sich hartnäckig. Ich wanderte über Mumbai und betrachtete den Golf von Bengalen, fuhr nördlich bis nach Bangladesch. Weiter als bis Stettin war ich in meinem Leben nie gekommen. Auf der PVC-Tischdecke war ein Kaffeefleck und ich kratzte mit meinem Daumennagel daran herum. Im Radio lief Sport, aber ich hörte nicht hin.
„Wo kommst du her?“, fragte ich am nächsten Tag. Sie strich mit ihren Fingern die Maserung ihres Bechers entlang. Ich lehnte an der Wand und beobachtete sie.
„Aus Indien, Chennai. Aber das ist lange her. In Deutschland bin ich seit über zehn Jahren.“
„Liegt am Meer, oder? Chennai, mein ich.“
Sie hob die Augenbrauen. „Du kennst die Stadt?“
Ich schüttelte den Kopf. „Wollte nur ein bisschen angeben. Ich war nie weiter als in Polen.“
Wir lachten. Als die Pause vorbei war, warfen wir unsere leeren Becher in den Mülleimer neben dem Kaffeeautomaten.
Nach der Arbeit fuhr ich mit dem Bus nach Hause. An einer Haltestelle stiegen eine Frau und ihr Junge aus. Sie, mit den schweren Tüten in den Händen, ihr Sohn durch dunkle Pfützen stapfend voran, durch den Regen in Richtung der Siedlungen. Ich sah ihnen nach, dann fuhren wir weiter. Tropfen schlugen gegen die Scheibe und liefen in langen Schlieren daran herab. Während ich dämmerte, immer wieder hochschreckte, wenn der Bus hielt und sich die Türen zischend öffneten, dachte ich an Lasala, die an meinem Tisch arbeitete und Briefe sortierte, viel schneller, als ich es konnte.
„Warum arbeitest du eigentlich hier?“, fragte sie. „Kenn kaum einen Deutschen, der das macht.“
Wir standen vor der Halle auf dem Parkplatz. Die Sonne war zwischen den Wolken herausgekommen und es war etwas wärmer als die letzten Tage.
„So richtig ausgesucht hab ich mir das nicht“, sagte ich. „Aber muss irgendwie meine Miete bezahlen. Und bisschen was essen will man ja auch. Früher stand ich jahrelang schwarz aufm Bau und schleppte Zement, aber die Knie machen das nicht mehr mit. Jetzt eben so was hier. Ab und an, da putz ich sogar Flure und Büros, das ist mir egal. Hauptsache, die vom Amt steigen mir nicht aufs Dach.“
„Dachte zuerst, du gehörst zu denen, so wie du aussiehst.“ Sie deutete auf die hagere Glatze, die ein paar Tische weiter herumstolzierte.
„So tief bin ich noch nicht gesunken. Aber stimmt schon, viel Auswahl habe ich nicht.“
Sie nickte und ich war froh, dass sie nicht weiter nachfragte. Wir lehnten an der Wand, ich rauchte und eine Weile schwiegen wir.
„Hast du eine Frau?“, fragte sie irgendwann. Sie hatte die Augen geschlossen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
Ich schüttelte den Kopf. „Auch keine Kinder. Was ist mit dir?“
„Zwei Kinder. Mein Sohn wird bald eingeschult und meine Tochter geht schon in die fünfte Klasse. Kleine Monster!“
Wir lachten. Sie erzählte, wie sie mit ihrem Mann im Winter vor Jahren nach Berlin gekommen war. Sie hatten einige Monate zusammen mit der Tochter in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Hellersdorf gelebt. Die Heizung fiel nach zwei Wochen aus und als der Hausmeister nichts dagegen unternehmen wollte, war ihr Mann drauf und dran gewesen, dem Kerl an den Hals zu gehen.
„Er wollte draußen auf ihn warten, mit einem Besen in der Hand, verstehst du?“ Sie lachte und ich lachte auch, aber ich verstand, dass es nicht einfach gewesen war. Ihr Mann hieß Bharat. Er arbeitete als Pflegehelfer in einem Altenheim. Ich versuchte, mir vorzustellen, was er wohl dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass ich mit seiner Frau in der Mittagspause Kaffee aus kleinen Plastikbechern trank und meinen Blick nicht von ihr nehmen konnte. Vielleicht wusste er es? Vielleicht hatte Lasala von mir erzählt. Von dem großen Deutschen, der nicht zu den Vorarbeitern gehörte.
„Du würdest ihn mögen“, sagte sie.
Es hatte zu regnen begonnen, und weil ich einen Schirm mitgenommen hatte, bot ich an, sie zu ihrer Haltestelle zu begleiten. Wir standen unter dem Wartehäuschen, eng gedrängt mit anderen, die wie wir auf den Bus warteten. Die Tropfen schlugen hart auf das Pflaster der Straße, so dass sich ein diesiger Nebel bildete, und das Prasseln war so laut, dass wir uns kaum verstanden, wenn wir etwas zueinander sagten. Ich begann, mir eine zu drehen. Als ich fertig war, machte Lasala eine Handbewegung und nickte mir zu. Überrascht gab ich ihr meine Zigarette, nahm ein neues Papier und krümelte etwas Tabak darauf. Ich gab uns Feuer, erst ihr, dann mir, und dann rauchten wir und sahen dem Wasser zu, das die abschüssige Straße entlangfloss, das Prasseln des Regens auf dem Dach so seltsam laut, beinahe wie in einem Traum.
Als der Bus kam und schnaufend neben uns hielt, drehte sich Lasala zu mir und wir umarmten uns hastig, so wie es zwei Bekannte tun, die sich voneinander verabschieden. Sie stieg ein, ihre Kapuze über dem Kopf, und ich verlor sie aus den Augen, weil wegen der Feuchtigkeit im Bus die Scheiben beschlagen waren. Ich stand noch zwei oder drei Minuten unter dem Wartehäuschen, obwohl der Bus längst davongefahren und der Regen in ein harmloses Nieseln übergegangen war. Ich dachte an unsere Umarmung und daran, wie sie sich angefühlt hatte, trotz der dicken Jacken, die wir trugen, und trotz des Regens, und obwohl wir uns ja nur voneinander verabschiedet hatten, wie zwei Bekannte es tun würden.
Am späten Freitagnachmittag verließen wir die Halle und unterhielten uns über das anstehende Wochenende. Sie erzählte, dass Freunde zu Besuch kommen und sie gemeinsam etwas kochen würden. Auf dem Parkplatz stand ein Mann und sah in unsere Richtung.
„Da ist Bharat“, sagte Lasala und winkte. Er kam auf uns zu, und ich versuchte, irgendeine Art angemessenen Blickkontakts aufzunehmen. Er beachtete mich kaum, warf mir nur einen flüchtigen Blick zu, bevor Lasala und er sich begrüßten. Er strich ihr über die Schulter, sie fasste eine Stelle oberhalb der Rippen, fuhr mit ihrem Daumen darüber und beide lächelten. Ich stand daneben und kam mir vor wie ein Idiot. Peinlich berührt vergrub ich die Hände in den Hosentaschen. Lasala sagte etwas und ich meinte, meinen Namen herauszuhören. Bharat drehte sich zu mir, streckte seinen Arm aus und wir gaben uns die Hand. Er hatte ein freundliches Gesicht und einen dunklen Dreitagebart. Er sah müde aus, hatte Schatten unter den Augen, aber er lächelte, als er meine Hand schüttelte, und ich glaube, dass es ein aufrichtiges Lächeln war. Er stellte sich vor. Dann standen wir nebeneinander und einen Moment lang sagte niemand mehr etwas. Ich wollte mich verabschieden, als Lasala fragte, ob ich nicht auch am Abend zum Essen kommen wollte. Bharat verzog keine Miene, aber sein freundliches Gesicht wirkte eingefroren. Ich zögerte.
„Danke, das ist wirklich sehr nett“, sagte ich. „Aber ich kann leider nicht kommen. Tut mir leid.“
Lasala nickte, als wüsste sie Bescheid. Sie lächelte, aber ich meinte, in ihrem Blick so etwas wie Enttäuschung zu sehen. Sie nahm meine Hand und ich erschrak.
„Nächstes Mal!“, sagte sie bestimmt. Nächste Woche, ja?“ Sie ließ meine Hand los.
„Nächste Woche“, sagte ich. „Abgemacht.“
Zum Abschied winkte ich. An einer Straßenecke blieb ich stehen. Andere aus der Halle, die wie ich zum Busbahnhof unterwegs waren, überholten mich. Ich drehte mich noch einmal um, ging ein paar Schritte zurück und sah um die Ecke, aber da waren die beiden schon nicht mehr da.
Am Abend bekam ich einen Anruf von Hofmann Personal. Sie sagten, dass der Auftrag früher als geplant abgeschlossen wäre, und sie meinten, ich bräuchte am Montag nicht mehr zu kommen. Natürlich, die wurden pauschal für jeden Auftrag bezahlt. Wenn wir früher fertig waren, umso besser. Dann zahlten sie uns die Stunden, die wir dagewesen waren, strichen die Differenz ein und machten einen Schnitt. Und jedem von uns fehlten am Ende ein paar hundert Euro. Sie fragten, ob sie mich bei Bedarf wieder anrufen könnten. Ich legte auf.
Ich ging zu einem Kiosk drei Straßen weiter. Der Mann hinter dem Verkaufstresen gab mir ein Bier. Ich bezahlte und trank die Hälfte davon in einem Zug, dann den Rest und dann noch eine zweite Dose. Nach der vierten meinte der Mann in seinem Kabuff, der bisher kein Wort gesagt hatte, ob ich nicht gleich zehn Biere kaufen wolle, dann könnten wir uns einen Teil des Aufwands sparen. Ich nickte, drehte mich um und ging. Er rief mir hinterher, wo ich denn jetzt so plötzlich hinwolle.
„Am liebsten nach Chennai“, antwortete ich leise.
Noch lange saß ich an meinem Küchentisch und dachte an Lasala. An ihren Nachnamen, den ich nicht kannte, und an die Adresse, die ich nirgendwo finden würde.
Am Montagmorgen fuhr ich mit dem Bus in das Industriegebiet. Bevor ich meine Wohnung verließ, riss ich vorsichtig mit beiden Händen die Seite des indischen Subkontinents aus dem Atlas heraus. Es war nicht schwer, die Leimbindung löste sich bereits. Ich faltete das Papier in der Mitte zusammen und steckte es in meine Jackentasche.
Ich lief die dreihundert Meter frierend über den Bahndamm. Ich ging über den Parkplatz. Er war beinahe leer, nur ein paar wenige Autos standen herum.
Die Halle war abgeschlossen, kein Mensch da und der ganze Ort sah mit einem Mal so anders aus, als wäre ich niemals vorher hier gewesen. Ich lehnte mich gegen die Eingangstür und blickte über den verwaisten Parkplatz und auf die gegenüberliegende Straßenseite. Ich wartete, befühlte das Papier in meiner Tasche, während ich fror und der Wind gegen meine Jacke schlug. Eine Frau kam den Gehweg entlang. Einen kurzen Moment dachte ich, sie wäre es, doch sie ging vorbei, ohne ihre Schritte zu verlangsamen.