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Am Wasser
Einmal, als meine Mutter im Garten hinter dem einschichtigen Zöllnerhaus am Inn Wäsche aufhängte, lehnte ich mich an den mit Wasser gefüllten Holzbottich, steckte den Kopf hinein und ließ ihn unter Wasser ohne mich zu rühren, ganz still, kampflos, bis den Instinkten meiner Mutter die Stille Gefahr verriet, sie mich am Arm hochriss und in die helle Welt zurückholte.
Hatte mich das Wasser gelockt, geglitzert, waren durch einen Luftzug kleine zitternde Wellen geschaffen worden, die etwas versprachen, was es unter der Oberfläche zu sehen gäbe?
Vom einschichtigen Zöllnerhaus am Inn zogen wir in ein Zöllnerhaus an der Donau, und dort muss das dunkle schwere Wasser, das wenige Meter hinter dem Haus floss, mich zu sich gelockt haben, denn meine Mutter erzählte von den vielen Malen, wo ich an der Uferböschung stand, oder schon auf den Steinstufen, die ins Wasser führten, einmal mit einer Puppe, der ich vorher die Zöpfe aufgelöst hatte. Immer sah mich jemand rechtzeitig, bevor ich die fehlenden Schritte ins Wasser setzte, und immer zog mich jemand am Arm zurück und führte mich vom gefährlichen Strom weg.
Die dunklen Wasser der Kindheit waren auch in einem Moorsee, an den mein Vater einmal meinen Bruder und ich gebracht hatte, eine Fischerhütte, in der der Vater sein Angelzeug vorbereitete, ein Steg über dem Wasser, auf dem ich saß und mit einem kleinen Messer an einem Holzstock schnitzte. Und der kleine Bruder, der ins Wasser gefallen war und zunächst strampelte und prustete und den Kopf senkrecht über Wasser zu halten versuchte. Ich beobachtete ihn interessiert, als wäre er in ein Spiel vertieft, das ich nicht ganz verstand, und als er allmählich ruhiger wurde und schließlich ganz still im Wasser lag, das Gesicht nach unten, da war mir, als hätte er eine Art Ziel erreicht. Als kein Geräusch mehr zu hören war, stürzte der Vater aus der Hütte, mit dem Messerchen in der Hand deutete ich aufs Wasser, Vati, schau, der Peter, meinte ich nur, und mein Vater sprang mit den Füßen voran ins Wasser, packte den reglosen Körper, schob ihn von unten auf den Steg, hievte sich hoch, und da hustete der kleine Bruder schon, spie Wasser auf die grauen Planken und lebte.
Danach kamen das Mittelmeer und der Ozean.
Die erste Reise ins Ausland, das erste Mal ans Meer fahren – niemand kann sich mein Entzücken vorstellen, als ich von den Vorbereitungen für die Reise in den Süden erfuhr. Ans Meer! Wir fahren nach Medulin, sagte Vater, auf den Campingplatz. Alle Bekannten meiner Eltern fuhren damals in den Ferien nach Medulin, einem kleinen Dorf auf der istrischen Halbinsel, in der Nähe von Pula. Es war billig, man konnte sich selbst versorgen, und man war unter sich. Hoffentlich sind keine Wiener dort, hörte ich von Frau Preisinger, die mit ihrem wienerisch. Was ist wienerisch?, fragte ich die Mutter. Die überlegte kurz. Das ist, wenn man heast sagt, erklärte sie schließlich. Heast, wiederholte ich leise, heast. Und so schienen mir auch die Wiener, die ich bald kennenlernen würde, ein bisschen wie ein fremdes Volk.
Im Morgengrauen fuhren wir mit unserem VW-Käfer los, wir Kinder eingeklemmt zwischen Seesäcken, Reisetaschen und Campingutensilien. Der kleine Bruder schlief bald wieder ein, ich aber saß da mit einem Brausen im Körper, als würde Wasser schäumend durch meine Adern fließen, voll wilder Freude, als würde ich nicht wegfahren, sondern nach Hause.
Endlich waren wir im fremden Land, Schilder mit Aufschriften, die ich nicht verstand, und schließlich die damals noch kleine Straße nach Medulin, an der Frauen mit Kopftüchern unbekannte Früchte verkauften. Das sind Feigen, sagte Mutter, die sind ganz süß.
Das Geräusch, das Zikaden erzeugen, wenn sie ihre Flügel aneinander reiben, ließ Vater an den Motorschaden denken, den er befürchtet hatte, alle mussten aussteigen, und Vater öffnete schimpfend die Motorhaube. Erst da fiel ihm auf, dass das Sirren nicht aus dem Auto, sondern von den Bäumen kam, und wir konnten die letzten Meter in den riesigen, pinienbewachsenen Campingplatz fahren.
Als der VW schließlich auf dem ihm zugewiesenen Platz stand, drängte ich mich vom hinteren Sitz nach vorne, schlängelte mich aus der Türe und rannte dorthin, wo ich schon etwas glitzern sah, der Strand, Sand, einige Felsen, und da, Wasser, das eigentlich so aussah wie das Wasser im Attersee, nur durchsichtiger und blauer. Ich beugte mich vor, höhlte die rechte Hand und schöpfte ein wenig Meerwasser hinein, betrachtete es kurz und steckte dann die Zunge hinein. Ungläubig ließ ich die Zunge einige Augenblicke im Meerwasser. Es war salziger als alles, was ich bisher gekostet hatte, salziger als die salzigste Suppe, ja, salziger als das Salz selbst. Dass der Schein so trügen konnte! Immer wieder betrachtete ich das Wasser in meiner Hand und kostete davon, so lange, bis die Hand leer war.
Die erste Reise alleine, mit dem Rucksack nach Rom, Neapel, Brindisi. In Brindisi kam ich um Mitternacht an und ging aus dem Bahnhof, ein Wagen blieb vor mir stehen, und der junge bärtige Mann fragte mich, ob ich zum Hafen wollte. Mit dem Urvertrauen der Jugend stieg ich ein, froh um die Fahrgelegenheit, keinen Moment besorgt oder ängstlich, und es war ja auch gar nicht nötig, er führte mich bis zum Kai, von dem die Fähre nach Piräus ablegte. Noch heute frage ich mich, was dem Mann durch den Kopf ging, ob er nicht doch Unredliches im Sinn hatte und vielleicht von meiner Arglosigkeit gerührt oder beschämt war und so von seinem Vorhaben abging.
Der Hafen von Piräus, so laut und wuselnd, und ich so klein darin, und die Fähren zu den Inseln, voller Verheißung, groß und weiß über mir. Im Kartenbüro las ich die Fahrpläne der Schiffsgesellschaften, damals noch mit Kreide auf große schwarze Tafeln geschrieben, ohne Mühe konnte ich die griechischen Lettern entziffern, Chania, Sifnos, Kos, Paros, Naxos, Ios… Ich entschied mich für Ios, die Morgenröte, und tappte mit meinem schweren Rucksack über die steile Eisentreppe auf das oberste Deck. Ein unbeschreibliches Chaos, Rucksacktouristen aus aller Welt breiteten ihre Schlafsäcke aus, die Griechen, die ihre Verwandten besuchen wollten oder auf der Insel zuhause waren, gingen in die Innenräume, prosochi parakalo, Achtung bitte, hörte ich ständig durch den Lautsprecher, der Rest unverständlich. Wieder war dieses Brausen in mir, das Glück über das Wasser zu gleiten, die Möwen segelten neben und über dem Schiff, ich zeigte den Offizieren, die erst nach dem Ablegen der Fähre die Fahrkarten kontrollierten, meinen winzigen Zettel mit den griechischen Zeichen, Piräus – Ios. Heute liegt er in einem Ordner „Interessante Sachen“, und wenn ich ihn sehe, ist sofort wieder der Duft nach Salz und Algen und Diesel da, das strahlende Blau des Mittelmeers und der atemberaubende Anblick der weißen Kykladeninsel, die wir in den Abendstunden erreichten. Heute ist es kaum mehr möglich, von einem beliebigen Ort auf der Welt keine Vorstellung zu haben, aber damals Anfang der Siebziger Jahre war das Bild der kleinen Insel mit den weißen Häusern und den blauen Türen und Fensterläden für mich vollkommen neu, eine Schönheit, die ich kaum fassen konnte, hier bleibe ich für immer, dachte ich einige Tage, aber dann zog ich doch weiter und weiter und wieder zurück nach Hause.
Und dann noch weiter weg, an die wilden Atlantikküsten Europas und Amerikas, zu den weißen Stränden der Karibik mit dem unwirklichen Wasser, gefärbt wie kostbares Glas.
Und schließlich der Pazifik.
Streng und schwarz wie der Moorsee meiner Kindheit lag das Wasser im Hafen von Tofino, einem kleinen Ort auf Vancouver Island, wo man Bären und Wale beobachten konnte. Wieder ein Steg über dem Wasser, aber kein Vater in der Fischerhütte und kein Bruder, der im Wasser um sein Leben kämpfte. Ich stieg in ein Kajak, mit dem wir in den Clayoqout Sound hinausfuhren. Wasserflugzeuge landeten und stiegen auf, ein Seeadler stach mit ausgestreckten Beinen senkrecht aufs Wasser und stieg mit einem Fisch in den Krallen wieder hoch, mir war, als wäre ich in einer der naturkundlichen Sendungen in den Fernsehsendern früherer Jahre. Es war Sommer, aber wir froren im Boot trotz unserer dicken Jacken, und am Ufer standen die Douglastannen hoch und zerzaust von den brutalen Winden. Am Ufer die seltsamsten Algengebilde, außerirdischen Wesen gleich, mit Tentakeln und Auswüchsen wie Ballons und Federn aus Gummi, meterlang lagen sie im Sand. Hier war nichts lieblich, und was unter meinem Kajak schwamm und durch das schwarze Wasser pflügte, wollte ich mir gar nicht vorstellen. Erst als gegen Mittag die Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke brachen, das Meer endlich blau glänzte und das Kajak ruhig an den kleinen Inseln vorbeizog, ich an Seeottern vorbeifuhr, die auf dem Rücken im Wasser lagen und die Pfötchen vor dem Bauch verschränkt hielten, da war es wieder da, das Entzücken, die Freude am Wasser zu sein, vorbei die Gefahr, hineingezogen zu werden zu den schaurigen Geschöpfen unter mir.
Auch aus Tofino musste ich wieder weg und nach Hause.
Nun ist es spät in meinem Leben. Ich wohne in einem Haus an einem fast ausgetrockneten See im Burgenland, in einer Landschaft voller Windräder und Storchennester auf den Rauchfängen. Riesige Gänseschwärme fliegen vom See zu ihren Weideplätzen und wieder zurück, ich höre das Rauschen ihrer Flügelschläge und ihre Rufe, immer fliegt eine einzelne Gans oder ein Gänserich nach, mit rascheren Flügelschlägen und drängenderem Rufen. Im schlammigen Seeufer suchen Sichelstrandläufer nach Würmern und Asseln. Sie kommen aus der Tundra im hohen Norden Russlands, von den Ufern des arktischen Meeres und der sibirischen Flüsse, Ob, Lena, Jenissej, sie rasten hier im Seewinkel und ziehen dann weiter nach Afrika zum Victoriasee und schließlich an die Küste des Indischen Ozeans in Südafrika.
Ich gehe zum See und sehe den Vögeln zu. Ich stelle mir vor, wie weit sie fliegen, diese kleinen Wesen, kaum größer als Stare, wie sie fliegen vom Arktischen Meer zum Indischen Ozean, und wie weit ich gekommen bin und wo ich schließlich gelandet bin. In meinem Garten steht ein Holzbottich, zwei Seerosen schwimmen darin, und wenn ich mich darüber beugte und den Kopf hineinstreckte und unter Wasser hielte, reglos und kampflos, würde mich niemand am Arm hochreißen und in die helle Welt zurückholen, und meine Haare würden auf dem Wasser liegen wie die aufgelösten Zöpfe einer Puppe.