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- 31.08.2008
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An der Alster
Die Sirenen heulten; es war Fliegeralarm. Die Alsterwiesen lagen friedlich in der Mittagssonne. Leichter Wind ließ das Wasser kräuseln und kleine Wellen bilden, die um die Bootsrümpfe herum plätscherten. Die Schwäne zogen am Röhricht entlang auf der Futtersuche, als wüßten sie um ihre Pflicht, dieses Idyll zu vervollständigen.
Felix ging zügig aus der Wohnung in Harvestehude an den Steg. Er band die erste Jolle los, führte sie an der Bootsleine an den äußersten Steg und gab ihr einen kräftigen Stoß, damit sie auf die offene Wasserfläche trieb. Der Wind wehte leicht aus Südwest, so daß die Jolle vom Steg wegtrieb. Er band die nächste Jolle los. Führte sie ebenso nach außen und stieß sie weg.
Gestern war er noch Segeln gewesen, diesmal mit Wilhelmine; ihr Verlobter war an der Front, sie war allein und es war sehr nett mit ihr. Auch mit Caroline segelte er gern. Sie war genauso gepflegt und gut erzogen, sehr gebildet, aus gutbürgerlichem Haus. In Felix´Alter gab es fast keine Männer in der Stadt; er war daher sehr begehrt.
Eben hatte er das Boot zu fassen, mit dem er mit Wilhelmine gesegelt hatte. Es war eine schöne gepflegte H-Jolle; der Lack glänzte und die Wassertropfen von der nassen Bootsleine perlten über das Deck. Sie hatten die Segel nicht abgeschlagen, weil sie nicht mit Regen gerechnet hatten. Nachher würde er sich darum kümmern. So fuhr er fort, bis er alle Boote, es waren etwa ein Dutzend, auf die Alster befördert hatte. Ein Ruderboot blieb am Steg. Damit würde er die Boote zurückholen, wenn der Alarm vorbei ist.
Eigentlich war es nicht wirklich nötig, die Boote zu lösen. In Harvestehude fielen keine Bomben. Aber wer weiß? Einmal war auf der anderen Seite ein Fehltreffer in die Steganlage gegangen; der Verein dort hatte fast alle Boote verloren. Deshalb hatte der Vereinsvorstand in Felix` Verein verfügt, daß bei Fliegeralarm die Boote zu lösen seien, damit nicht alle auf einmal verloren gehen können. Das war Felix´ Aufgabe.
Felix ging zurück. Bald hatte er das Haus erreicht, in dem er zur Untermiete ein Zimmer bewohnte. Es war wie die meisten anderen in frischem Weiß gestrichen. Wie schön es hier war, verglichen mit dem Ort, aus dem er stammte! Wo er die Straße vor dem schmucklosen grauen Haus fegen mußte. Wo er im Herbst die Kartoffeln nachlesen mußte. Wo er mit dem Fahrrad zur Lehrstelle fahren mußte, bei jedem Wetter bis in das Nachbardorf. Aber schließlich war das Glück zu ihm gekommen, und er zum Glück, und dieses Glück hieß Hamburg.
Felix ging nicht mehr in sein Zimmer, sondern direkt in den Keller. Das taten hier alle, wenn die Engländer kamen. Die Luftschutzbunker waren weit weg, und wer weiß, ob man darin sicherer war. Auch die vielen armen, ängstlichen Menschen und die schreienden Kinder konnte er nicht ertragen. Hier war alles gut. Die Engländer wußten genau, wo sie hin wollten. Die Hafenanlagen waren ihr Ziel, und die Arbeiterviertel wie zum Beispiel Wilhelmsburg. Ohne Hafenanlagen war der Krieg nicht zu gewinnen, und ohne die Arbeiter auch nicht. Bürgerstöchter und alte Menschen waren nicht wichtig, reiche auch nicht. Und, wer weiß, vielleicht dachten sie auch an die Zeit danach, wenn sie für ihre Besatzer komfortablen Wohnraum brauchen würden. Vielleicht auch an die vielen Freunde aus Wirtschaft und Politik der Hansestadt, die hier wohnten und trotz der widrigen Zeiten natürlich Freunde geblieben waren.-
Im Keller waren schon einige der übrigen Hausbewohner; es gab ein kurzes Hallo. Felix machte es sich auf einem alten Sofa bequem, nahm ein Buch und begann beim Schein der Kellerleuchte zu lesen. „Seemannschaft“ hieß das Buch, das er beim letzten Mal mitgenommen hatte und das seitdem hier lag. Er las von Manövern und von Knoten, von den vielen Bezeichnungen für die Teile des Riggs eines Rahseglers, die er auf einer Jolle nie brauchen würde. Das Dröhnen von vielen Motoren kam heran, erst leise aus einer Richtung; dann drang es gleichmäßig und laut durch alle Kellerfenster herein. Es wurde wieder leiser. Dann, das Dröhnen war kaum noch zu hören, folgte ein tiefes Rollen, wie bei einem schweren, weit entfernten Gewitter. Felix las weiter. Die anderen unterhielten sich leise. Das Dröhnen kam wieder, bald war es wieder über ihnen. Als es leiser wurde, folgte wieder das tiefe Grollen.
Felix hatte gerade ein Kapitel abgeschlossen, da ertönten wieder die Sirenen und gaben die Entwarnung. Er legte das Buch beiseite und machte sich auf den Weg an die Alster. Am Steg nahm er das Ruderboot, band es los, legte die Riemen ein und ruderte auf die Alster. Die Jollen waren weit weggetrieben; einige dümpelten noch auf der Wasserfläche, andere lagen auf der gegenüber liegenden Seite im Schilf. Er nahm sich zuerst die vor, die noch in der Nähe lagen. Jede mußte einzeln geschleppt werden; zwei Jollen mit dem Ruderboot zu ziehen, war zu schwer. Es dauerte über zwei Stunden, bis er die Boote wieder am Steg hatte. Jetzt brachte er jedes an seinen Platz und vertäute es. Dabei wurden die Bugleinen am Steg auf den Klampen belegt. Die Heckleinen wurden über Kreuz geführt und mit je einem Palstek über den Dalben gelegt. So wurden die Boote sehr gut in der Lage gehalten. Er machte jetzt das Boot fest, das Wilhelmine gehörte. Sie hatte es von ihren Eltern zum Geburtstag geschenkt bekommen. Es lag etwas Lametta auf dem Vordeck. Er sammelte es ein und bewahrte es auf; Lametta gab einen schönen Tannenbaumschmuck zu Weihnachten. Statt die Segel abzuschlagen, nahm er nur die Fock ab, rollte sie auf und steckte sie in den Segelsack. Das Groß ließ er angeschlagen und legte die Segelpersennig darüber. Die würde es ausreichend schützen. Es ging nicht nur um den Regen, der die Baumwolle angriff, sondern noch mehr um die fettigen Rußpartikel, die nach den Angriffen manchmal die Segel verschmutzten. Sie waren viel schwerer zu entfernen als der Ruß, der sich aus der Ofenheizung der Häuser auf den Segeln niederschlug.
Als Felix fertig war, sah er nochmal zufrieden über die schöne Außenalster. Die Sonne senkte sich und tauchte die liebliche Landschaft und die weißen Villen auf der gegenüber liegenden Seite in warmes Licht. Im Südosten Hamburgs verfärbte sich der Himmel glutrot.