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Angélique

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01.09.2005
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Angélique

Karaffenparty. Unsichere Schritte, Übelkeit und Rachegedanken. Kim hatte nicht bei Thomas und ihrer Mutter schlafen wollen, aber der Haustürschlüssel hing noch immer an ihrem Bund. Als die anderen die nächste Runde bestellten, war sie gegangen.
Eigentlich hatte sie die Nacht bei Kristin verbringen wollen. Die hatte einen guten Job bei Tegtmeier und eine eigene Wohnung, keine Fünfer-WG mit Nachtspeicher wie Kim in Hamburg. Aber Kristin hatte weitertrinken wollen, deshalb schlich Kim nun ins Elternhaus wie früher, hatte Angst, Thomas könnte auf sie warten, um zu fragen, mit wem sie wo gewesen war und ob sie Hasch geraucht hatte.


„Du machst Abi mit eins irgendwas und siehst auch ein bisschen nach was aus“, hatte er früher oft zu ihr gesagt. „Bei Tegtmeier würdest du so einen Job kriegen.“ Bei so schnippste er immer mit den Fingern. „Aber nicht, wie du rumläufst.“
Als sie sich heimlich den Misfits-Schädel auf die Schulter tätowieren ließ und nach dem Duschen mal vergaß ihn zuzudecken, gab Thomas ihr einen Stoß mit der Handfläche gegen das Sonnengeflecht. Er war stolz auf seinen braunen Gürtel, fast schwarz also. Er machte Sowieso-Karate, es interessierte sie nicht. Sie wollte hyperventilieren und kotzen, aber beides ging nicht, weil der Stoß alles in ihr blockierte.
Hinterher entschuldigte Thomas sich, bestand aber auch darauf, sie nicht geschlagen zu haben. Ihre Mutter glaubte ihm. „Er wollte dich nur zur Rede stellen und hat dich dabei aus Versehen zu fest gehalten“, sagte sie. Sie strich sich über die eigene Schulter und sah dabei Kims an. „Das ist aber auch … ein hässliches Ding.“
Thomas hatte sie immer dann aus Versehen zu festgehalten, wenn sie allein waren. Ihre Mutter sagte immer, sie übertreibt. Kim liebte sie trotzdem, aber warum ihre Mutter Thomas liebte, wusste sie nicht.
Thomas liebte was kroch und krabbelte, biss und stach. Im Keller hatte er einen Raum mit Terrarien eingerichtet. Er nannte es seine Schatzkammer. Glaskästen an der Wand statt Kisten voller Gold. Als Kind hielt Kim es kaum aus, allein runter zu gehen, um ein Eis aus der Truhe zu holen. Sie verzichtete oft darauf, selbst wenn sie sich nach dem Essen eines nehmen durfte.
Thomas hatte die Schatzkammer ausgerechnet in dem Raum eingerichtet, der wie kein zweiter im Haus ihrem Vater gehört hatte. Als C-Jungendtrainer hatte er den „Kram“ darin aufbewahrt, die Netze, die Bälle, die Stollenschuhe für die Kinder, die erst mal ein Probetraining machen wollten. Nach dem Unfall hatte ihre Mutter alles zurück an den Verein gegeben.
Den Raum hatte Thomas sich einfach genommen. Das behauptete ihre Mutter immer. „Und ich dachte, letzten Endes ist es nur ein Raum, Papa hätte das nicht schlimm gefunden.“ Sie strich Kim über den Kopf. „Findest du nicht?“
Fand sie nicht.

Mit fünfzehn hatte sie in der Küche ein Glas Wasser aus der Leitung getrunken. Kleine Nadeln wanderten unten über ihre nackten Füße. Zuerst dachte sie, es wäre nur das Kribbeln, das sie sich manchmal einbildete, im Wissen darüber, was im Keller wohnte. Doch es hörte nicht auf.
Sie sah nach unten und schrie. Das Glas fiel ihr aus der Hand in die Spüle. Sie trat ins Nichts, einfach weit weg mit dem Ding. Durch die Luft flog ein Tausendfüßler, lang und dick wie ein Stück Darm. Er klatsche an den Kühlschrank, fiel zu Boden und suchte wild nach einer dunklen Ecke, in die er sich verkriechen konnte.
Thomas kam rein und fing den Ausreißer mit einer Grillzange. Kim schimpfte, er solle besser auf seine scheiß Viecher aufpassen, der scheiß Riesenwurm sei ihr über die Füße gekrabbelt. Thomas lachte.
„Du Arschloch!“, schrie Kim.
Danach hielt er sie sehr fest. Als sie auf dem Küchenboden lag und nach Luft schnappte, die Knie angezogen und die Arme darum geschlungen, trat er ihr in den Rücken. Dabei zerquetschte er aus Versehen den Tausenfüßler mit der Zange und fluchte den Rest des Tages, was für eine selbstsüchtige Kuh sie sei.
Später entschuldigte er sich. Ihre Mutter fragte, ob alles wieder okay sei. Kim nickte.
In ihrem Zimmer weinte sie in der Nacht, das Bild ihres Vaters an die Brust gepresst, sie auf seinen Schultern mit einem Eis in der Hand. Es war im Heide Park, hinter ihnen die große Holz-Achterbahn. Auf den Auslöser gedrückt hatte ihre Mutter, vier Monate, bevor Nieselregen bei null Grad auf der Kreisstraße gefror und ihr Vater vor einen Baum knallte. Kim wusste, er hatte schnell nach Hause gewollt, weil sie mit Magen-Darm im Bett lag. Er hatte sie trösten wollen. Sie hatte geweint am Telefon, denn sie hatte nichts mehr in sich gehabt und musste trotzdem noch kotzen. Hätte sie sich zusammengerissen, wäre er noch am Leben. Sie war eine selbstsüchtige Kuh, und zur Strafe hatte das Universum ihr Thomas geschickt.


Jetzt stand sie vor der Treppe nach unten. Von hier oben konnte sie die Tür zur Schatzkammer sehen. Ob Angélique noch lebte? Bis zu 20 Jahre alt könnte sie werden und eine Beinspannweite von 30 Zentimetern erreichen.


„Das ist so“, hatte Thomas ihr damals erklärt und die Hände so weit auseinandergehalten, das ein Fußball dazwischen Platz gehabt hätte. Kim war elf gewesen. Thomas lebte noch nicht lange bei ihnen. „Es sind Lebewesen“, hatte er gesagt. „Eigentlich ist sie doch richtig schön, oder?“
Er hatte sie Angélique genannt, „weil sie Französin ist“. Aus Französisch-Guyana. „Weißt du, wo das ist?“
In Frankreich, hatte Kim damals angenommen. Thomas wollte ihr Angélique in die Hand geben. „Danach fürchtest du dich nie wieder.“
Kim wollte nicht. Angélique war selbst noch klein, aber sie war schon größer als ihre Hand.
Auf ihrem Rücken verhakte Kim die Finger ineinander. Als Thomas einen Arm packte und mit immer mehr Kraft nach vorne zog, fing sie an zu weinen. Ihre Mutter hörte sie oben und fragte, was los sei.
„Alles gut!“, erwiderte Thomas. Er setzte Angélique behutsam zurück in ihren Glaskasten. Schnell verzog sie sich in den ausgehöhlten Ast darin.
Bitterkeit und Enttäuschung lagen in Thomas' Blick, als er sich wieder zum Kim umdrehte. „Dir ist nicht zu helfen“, sagte er.


Sie ging die Treppe hinunter, zum ersten Mal seit acht Jahren, seit sie ausgezogen war. Jeder Schritt auf jeder Stufe stellte das Rädchen an der Zeitmaschine ein kleines bisschen weiter zurück. Das Kribbeln auf der Haut war wieder da, lauter alte Freunde traf sie heute Nacht.


Wegen Französisch-Guyana nannte Thomas sie auch seine Grande Dame. Einmal träumte Kim davon, in dem hohlen Ast von ihren Kindern gefressen zu werden.
Im Holz spann Angélique ihren Kokon und legte ihre Brut darin ab. Thomas hatte ihrer Mutter davon vorgeschwärmt. „Die Eier müssen es dunkel und warm haben.“
Was schlüpfte, verkaufte er. Das brachte „ganz gut was nebenbei“. Jede neue Generation machte Thomas stolz, als wäre er selbst Vater geworden.
Er erzählte auch gern, wenn andere Sammler Angélique lobten. Zum Beispiel, weil sie groß und kräftig genug war, lebende Mäuse zu verschlingen, und zwar nicht nur die blinden Babys, die sich nicht wehren konnten. Mutter mochte nicht, wie Thomas über Angélique sprach. Kim sah es in ihren Augen.


Der Lichtschalter rechts. Kim drückte darauf.
„Oh Gott.“
Thomas hatte Schätze gesammelt wie ein gieriger Pirat. Kein Stück Wand lag mehr hinter den Terrarien frei. Die meisten Bewohner hatten sich in ihre Bauten zurückgezogen. Ein Tausendfüßler, noch länger und dicker als der, der ihr damals über den Fuß gekrabbelt war, tastete sein Gefängnis mit den Fühlern ab.
An der Wand direkt geradeaus, auf dem Regal in der Mitte, stand das Kronjuwel. Kim ging darauf zu und vergaß die kleinen Monster um sich herum. Es gab nur sie beide.
Angélique hatte sich in ihren Ast verkrochen. In der Ecke lag ein kleines Männchen auf dem Rücken, mit angezogenen Beinen. Ficken war gefährlich in Angéliques Welt. Thomas machte mit ihr also immer noch ganz gut was nebenbei.
„Groß sind wir beide geworden, du Schlampe.“
Ein Bein ragte aus dem Ast hervor. Angélique hatte die Höchstmarke erreicht. Vielleicht war sie sogar schon darüber hinaus.
Das Bein zuckte wie bei einem träumenden Hund. Kim erschrak.
„Er muss so stolz auf dich sein.“
Und es wird ihm das Herz brechen, wenn du weg bist. Weg wie ihr Vater. Morgens hier, abends Matsch.
Kim ballte die Hände zu Fäusten. Versuchte sich zu erinnern, wie oft Thomas sie aus Versehen festgehalten hatte. Im Festzelt war ihr die Idee gekommen, den ganzen scheiß Kasten in die Weser zu schmeißen. Hatte man Hexen nicht auch manchmal ersäuft?
Hass legte sich wie ein warmer Mantel um ihre kalte Angst. Sie nahm das Terrarium vom Regal. Fast hätte sie es fallen lassen. Das Bein zuckte wieder, so nah vor ihrem Gesicht.
„Bonjour“, sagte Kim. Nur ein Wort, aber sie hörte ihre Stimme zittern.

Der Kofferraumdeckel quietschte wie die Türen eines Hauses, das lange leer gestanden hatte.
„Scheiße.“
Sie hatte das Festival vergessen. Schlafsäcke verstopften den Corsa hinten, Paletten mit leeren Dosen Bier und Spirelli in Arrabbiata. Angélique musste auf den Beifahrersitz. Wenn sie schon nicht in den Kofferraum passte, wollte Kim sie wenigstens jederzeit sehen können.

Der Weg zur Weser führte über die Felder zwischen den Dörfern. Niemand kam ihr entgegen, niemand fuhr hinter ihr. Die Wahrscheinlichkeit, von der Polizei angehalten zu werden, lag bei fast null. Für Trinker einer der Vorteile des Landlebens.
Bis zur nächsten Straßenlaterne waren es ein paar Kilometer. Das Niemandsland hatte sie jetzt. Die zugewucherten Wiesen gehörten Füchsen, Hasen, gelegentlich einem Hund, wenn Herrchen Bock hatte, zum Spaziergang so weit rauszufahren.
Sie fragte sich, ob Angélique einen Hasen fressen könnte. Einen kleinen vielleicht. Trotzdem wäre es genauso ein Todesurteil gewesen wie die Weser, sie einfach hier rauszuschmeißen. Wenn der Fuchs sie nicht geholt hätte oder irgendein Wildschwein, dann in zwei Monaten der Herbst. Ihre Art brauchte 40 Grad bei 100 Prozent Luftfeuchtigkeit. Die Hölle würde ihr gefallen.
Kim stieß auf. Die Magensäure brannte und schmeckte nach Bacardi-Cola. Sie sah zur Decke des Wagens und lachte über den widerlichen Geschmack. Die Strecke war kurvig. Immer mal wieder steckte am Straßenrand ein Kreuz in der Erde.
Kim sah wieder geradeaus. „Oh!“
Sie riss das Lenkrad scharf nach rechts. Mit achtzig Sachen schoss der Wagen über den Rand einer steilen Böschung hinaus. Sie hatte dem Hasen ausweichen wollen, aber sie spürte, wie die linke Front des Corsa ihn noch erwischte.
Eine Sekunde der Schwerelosigkeit. Dann ging es mit der Motorhaube voraus nach unten. Der Aufprall stauchte das Auto zusammen. Kim spürte ihre Kniescheiben zerspringen. Bevor sie schreien konnte, knockte der Ruck nach vorne sie aus. So bekam sie nicht mehr mit, wie das Auto auf die Fahrertür fiel und ihr dabei die linke Schulter aus dem Gelenk riss.

Es wurde hell. Kurz glaubte sie, gerade aus einem Traum erwacht zu sein. Sie lag mit angewinkelten Beinen auf der Seite wie immer.
Aber warum stank das Bett nach Benzin? Sie machte die Augen auf. Ihre Kehle war trocken, der Gaumen klebrig. Mit der Zungenspitze fuhr sie ihre Zähne ab und bemerkte vorne zwei Lücken.
„Hilfe.“ Es war leise und klang komisch wegen der fehlenden Zähne.
Ihre Beine. Gott im Himmel, ihre Beine! Jemand schien ein glühendes Messer in ihren Nacken zu stecken, als sie runterblickte. Sie konnte ihre Waden nicht sehen. Der Unfall hatte den Fußraum zusammengedrückt wie eine Dose. Was sie sah, waren Glassplitter und ein hohler Ast, der neben ihrem Schoß auf der Fahrertür lag.
Ihr rechter Arm hatte den Aufprall heil überstanden. Kims zitternde Finger gingen zum Holz. Sie sah dabei zu, als gehörte die Hand jemand anderem. Was auch immer in ihr diese Hand lenkte, wollte Gewissheit haben. Das Bein ragte nicht mehr aus der Behausung hervor und die Glassplitter überall gehörten nicht nur zur Windschutzscheibe.
Sie drehte den Ast, sodass sie hineinsehen konnte. Nicht nur das. Sie konnte einfach hindurchsehen.
Kim riss den Kopf hoch und zur Seite. Ignorierte das Messer in ihrem Nacken und die überdehnten Sehnen in ihrem Hals. Der Beifahrersitz war leer, ebenso wie die Armaturen.
Wo war sie?
Der Körper hatte den Notstrom angeworfen. Sie holte ein paar Mal Luft, dann gelang ihr ein Schrei.
Alles still. Sie erinnerte sich an einen Zeitungsartikel, den ihre Mutter warnend vorgelesen hatte, einige Jahre, bevor Kim den Führerschein machte. Ein Mann hatte auf dieser Strecke einen ganz ähnlichen Unfall gehabt, die Böschung runter. Ein Lastwagenfahrer, der einen Stau umfahren wollte, hatte den Wagen zufällig entdeckt, weil er pinkeln musste. „Das war Glück“, hatte die Zeitung einen Polizisten zitiert. „Hier ist so wenig los und von der Straße aus sieht man das Auto nicht da unten in den Büschen liegen. Das hätte auch eine Woche dauern können, bis es einem auffällt.“
Eine Woche. Die Schmerzen und der Durst würden sie in ein paar Stunden töten. Eigentlich hoffte sie das sogar, denn alles tat so unfassbar weh.
Ihr Handy! Es hätte sonstwo liegen können, wo sie nicht drankam, aber da war es, im Fußraum des Beifahrersitzes. Auch der war eingedrückt, der Weg hinein glich einem zusammengestürzten Höhleneingang. Auf der Schwelle dieses Eingangs lag das Telefon.
Kim streckte die Hand danach aus. So ungefähr musste es sich anfühlen, wenn Parkinson oder irgendein anderer fieser Mist einem den Körper nahm. Eine selbstverständliche Bewegung war plötzlich ein Kraftakt, eine Herausforderung, ein Kampf gegen die eigenen, ungehorsamen Muskeln. Wie sehr sie sich auch unter Schmerzen reckte, eine letzte Lücke zwischen ihren Fingern und dem Telefon blieb. Diese Lücke hatte den Durchmesser eines Zwei-Euro-Stücks.
Auch der Gurt hielt sie zurück. Zuerst hatte sie mit ihrem ausgekugelten Arm versucht, ihn zu öffnen, aber in ihrer Schulter rieb dabei etwas aneinander, das es eigentlich nicht tun sollte. Sie versuchte es mit dem rechten Arm, das einzige an ihr, was noch halbwegs zu funktionieren schien. Die Halterung des Gurts klemmte. Sie war an den Sitz gefesselt.
„Hilfe.“
Elend und leise. Kim saugte Spucke aus den Mundwinkeln zusammen, bis sie eine kleine Pfütze zum Schlucken auf der Zunge hatte. Mit dem geölten Hals versuchte sie es noch einmal.
„Hilfe!“
Ein paar frühe Vögel antworteten. Es klang, als würden sie sich über sie lustig machen.

Aber jemand hatte sie gehört. Auf seine Art. Ihre Art. Hatte die Erschütterungen in der Luft wahrgenommen mit den Haaren an den Beinen.
Rechts von Kim bewegte sich etwas. In dieser neuen, auf den Kopf gestellten Welt: Über ihr. So weit es ging, also nicht sehr weit, drehte sie den Kopf. Eine Hand griff von hinten um den Beifahrersitz, als wäre jemand hinten im Auto. Drei Finger legten sich langsam auf den Stoff. Lange, dünne Finger. Haarige Finger. Braun und grau.
„Lass mich in Ruhe.“ Kim flüsterte. „Ich hab dir nichts getan.“
Haha! Du wolltest sie ersäufen und sie weiß es!
Langsam zog Angélique ihren gewaltigen Körper in Sicht. Kims Atem ging schneller. Die Grande Dame hatte einen Hinterleib so groß wie eine Ratte. Sie stellte die vorderen Beine auf. Sieh mich an.
„Verschwinde!“
Die Beine senkten sich wieder. Kim spürte den Blick auf sich. Acht Augen.
„Geh weg, hab ich gesagt!“
Angélique wanderte die Rückenlehne herab. Langsam, als wäre sie selbst benommen vom Sturz. In der Breite reichten ihre Beine fast von einem Ende der Lehne zum anderen. Kim hätte den Arm ausstrecken und sie berühren können. Lieber hätte sie sich die Hand mit einer Laubsäge abgeschnitten.
Ihr Atem war jetzt fast ein Hecheln. Das Herz raste im selben Rhythmus. Kim wartete auf einen Angriff, aber Angélique ruhte, als wüsste sie, dass sie Zeit hatten.
Kims Kreislauf kapitulierte vor der Panik. Schwarze Punkte vermehrten sich und verengten ihre Welt zu einem Tunnel. Es war schrecklich und schön zugleich, das Bewusstsein zu verlieren.

Als sie die Lider wieder öffnete, war es Tag. Sie wusste nicht, welcher. Ihre Beine fühlten sich an, als hätte sie einen Sprung aus dem fünften Stock überlebt. Sie streckte sich noch einmal nach dem Telefon. So weit weg. Als läge es auf einem anderen Kontinent.
Etwas bewegte sich draußen. Ein Berner Sennenhund stand im Gras und sah sie fragend an. Jemand pfiff. Der Hund drehte den Kopf nach rechts. Kim streckte die Hand nach ihm aus. Sie wollte etwas sagen, aber sie musste schlucken wegen ihres kratzenden Halses.
Wieder ein Pfeifen. Eine Stimme rief den Namen des Hundes, so weit weg, dass sie ihn nicht verstand. Der Hund sah wieder zu ihr, quittierte ihr Röcheln mit einem leisen, fragenden Bellen. Sorry, schien das zu bedeuten. Ich muss los. Kim sah ihm weinend hinterher.


Als Angélique noch klein gewesen war, hatte sie Babymäuse gefressen, zitterndes rosa Fleisch auf Thomas' Handflächen. Als eine davon sich umdrehte, erkannte Kim die eigenen Gesichtszüge in dem des Nagetieres.


Das war ein Traum oder eine Halluzination vom Durst. Die wache und reale Welt und die andere, die mit den Babymäusen, die aussahen wie sie, waren zunehmend schwerer voneinander zu unterscheiden. Es war hell und heiß und ab und zu hörte sie ein Auto oben auf der Straße. Eines hielt an und eine Tür wurde zugeschlagen. Jemand fragte, ob alles in Ordnung sei und sie war gerettet.

Doch dann machte sie die Augen auf.

Sie erwachte in einem Traum. Es war dunkel und ihr Mund war voll.
Du bist wach.
Die Ohnmacht hatte sie geholt, stundenlang. Das hier war kein Traum.
Sie bewegte die Zunge. Schwerfällig kreiste sie umher und rührte durch kleine Kugeln, die in etwas steckten, das sich wie Zuckerwatte anfühlte. So klebrig.
Kim biss zu. Die kleinen Kugeln platzten. Sie drehte den Kopf, damit der Saft ihr aus dem Mund lief und nicht den Hals hinab.
Warte!
Zumindest ein Teil war Wasser. Sie atmete zweimal tief durch die Nase ein und dann, auf drei, schluckte sie. Der Brechreiz schnürte ihr den Hals zu, aber es kam nur wenig. Vielleicht würde sie kotzen, wenn sie weggetreten war und dann daran ersticken.

Augen auf. Grünes Gras hinter der gesplitterten Windschutzscheibe. Sie konnte es sehen, also war es hell. Sie lebte. Und stöhnte.
Die Kopfschmerzen hatte sie zuerst noch ignoriert. Neben dem, was in ihren Knien und ihrer Schulter los war, fielen sie nicht weiter ins Gewicht. Jetzt fühlte es sich an, als würde ihr Gehirn da oben drin anschwellen. Es war wie ein Fernseher, den jemand jedes Mal, wenn sie aufwachte, ein bisschen lauter gedreht hatte.
Inzwischen musste sie die ersten Risse im Schädel haben, wie ein Damm kurz vor dem Bruch. Sie stellte sich vor, wie ihre Augen platzten und wie angenehm es wäre, wenn der Druck auf diese Weise entweichen könnte.
Ein Fauchen rechts von ihr. Angélique saß über dem Handschuhfach. Wieder stellte sie die Vorderbeine auf. Diesmal war es mehr als eine Drohung.
Was hast du getan?
Kim spuckte. Der Schleim in ihrem Mund war zu kleinen, harten Krümeln getrocknet.
„Fick dich.“ Sie hörte die Worte in ihrem Kopf, aber was aus ihrem Mund kam, klang ganz anders.
Die Haare! Sie hatte die Haare vergessen!

Thomas hatte es ihr erklärt damals, ihre Abscheu für Faszination gehalten. Wenn sie sauer ist, schießt sie mit ihren Haaren wie mit Pfeilen. Giftige Pfeile. Es fühlt sich an wie Pferdefliegen, aber schlimmer.
Einer der Pfeile traf sie ins Kinn, einer in die Wange und einer ins linke Auge. Jetzt fühlte es sich an, als würde es tatsächlich aufgehen wie ein Ballon, aber es wollte und wollte nicht platzen. Kim öffnete den Mund für das bisschen Schrei, zu dem sie noch fähig war.
Angélique fiel. Kim schrie und hob den Arm, aber ihr ausgezehrter Körper bewegte sich wie in Zeitlupe. Angéliques Hinterleib landete in ihrem Mund. Weil Kim versuchte, ihn noch rechtzeitig zu schließen, biss sie unwillentlich zu. Gleichzeitig bekam sie Angélique mit der rechten Hand zu fassen.
Die Zähne der Grand Dame bohrten sich in ihren Finger, wie mit Säbeln hackte sie darauf ein.
Keine Zähne, hatte Thomas ihr früher erklärt. Cheliceren nennt man die. Kannst du das sagen, Cheliceren?
Anstatt sich Angélique aus dem Gesicht zu reißen, biss Kim zurück. Der Instinkt, dem sie damit folgte, hatte leichtes Spiel bei der Übernahme ihres geschwollenen Hirns.
Angéliques drahtige Haare stachen in das wunde Fleisch ihrer Zahnlücken. Ihr Kiefer zermalmte, was er zu packen bekommen hatte. Die ergrauten Beine zappelten.

Irgendwann zuckte Angélique nur noch. Ihre Innereien legten sich warm auf Kims Zunge. Ein letztes Bein wollte nicht aufhören, nach ihr zu treten – Lass mich los! – aber schließlich bewegte sich auch das nicht mehr.
Willkommen zu Hause, dachte Kim.
Willkommen zu Hause.

Sie spuckte ihre Beute aus. Die Grande Dame fiel durch das gesplitterte Fenster ins Gras. Kim schrie. Nicht vor Schmerzen diesmal, nicht vor Angst. Es klang nicht menschlich, aber es klang gut.
Sie hätte jetzt sterben können.
Nein.
Sie wollte die Hand wieder nach dem Telefon ausstrecken. Es war ein halbherziger Versuch, die Enttäuschung bereits mit eingeplant. Dann zuckte eine Idee durch ihr Dammbruch-Hirn wie ein Stromstoß.
Kim packte Angélique am zerquetschten Unterleib. Als sie sie anhob, kreuzte ihr Blick das tote Starren von acht Augen. Kurz fürchtete sie, ein Funken Hass könnte das Leben in diesen Augen wieder entzünden. Doch nichts geschah. Kim spuckte Angélique blutig braunen Schmand ins Gesicht.

Es klappte. Die Grande Dame überbrückte das Stück, das gefehlt hatte. Kim wimmerte vor Erregung. Hoffnung. Langsam zog sie das Monster ihrer Kindheit wieder zu sich. Nichts. Das Telefon blieb, wo es war.
„Es muss gehen. Bitte.“
Beim zweiten Mal machten Angéliques Zähne – ihre gottverdammten Cheliceren! – leise tack, als sie an der Längsseite des Handys hängenbleiben. Kims Atem ging schneller. Ihr Arm zitterte.
„Wag es nicht“, herrschte sie ihn an. „Wag es ja nicht.“
Sie zog. Die winzigen Enterhaken, die sie nach dem Telefon geworfen hatte, hielten. Das Telefon rutschte aus dem Fußraum und fiel durch das kaputte Fenster ins Gras neben Kims Gesicht. Ihr Schreien ging in ein Lachen über, das Lachen in ein Weinen. Schließlich alles gleichzeitig.

Sie nahm das Handy und wählte den Notruf. Ihre Kehle war trocken und ihre Lippen geschwollen, ihr Mund eine Wunde. Irgendwann hatte die Frau am anderen Ende die notwendigen Worte trotzdem verstanden. Kreisstraße, Kurve, Böschung. Unfall.
„Bleiben Sie dran, sprechen Sie mit mir“, sagte die Frau.
Kim nickte. Gib ihr noch Handzeichen, du hohle Nuss.
Sie kamen, um sie zu holen, „aber es dauert einen Moment“, sagte die Frau. „Sie sind allein im Auto?“
Kim musste kurz darüber nachdenken. „Jetzt ja.“
„Ja?“
„Ja.“


Die Schulter würde noch eine Weile schmerzen, aber dann, irgendwann, wäre sie wie neu, sagte der Chirurg. Die Knie, leider, das war was anderes. Was ganz anderes. Kim hörte Stolz heraus, als er erklärte, er habe keinen ihrer Unterschenkel abnehmen müssen.
„Aber Sie werden Krücken brauchen. Möglicherweise für immer. Die Knie ...“ Es folgte ein Schwall medizinischer Fachbegriffe, und irgendwo zwischendrin sagte er „völlig zerstört“.
Scheiß auf die Knie. Scheiß auf das Auge, das nur noch hell und dunkel voneinander unterscheiden konnte. Kim lächelte, weil sie lebte.
Nein, nicht deshalb. Weil sie es nicht tat.
Ihre Hand ging zum Bauch. Ein kurzer Krampf.
„Alles in Ordnung?“, fragte der Chirurg.
„Ein bisschen Bauchschmerzen“, flüsterte Kim.
„Ich hole eine Schwester.“
„Nein, es geht schon.“
Blödsinn.
Es fühlte sich an, als würde ein Seeigel durch ihre Harnröhre kriechen.
„Aua, scheiße!“
Der Chirurg machte einen Satz von der Bettkante, auf der er gesessen hatte. „Was haben Sie denn?“
„Mein Bauch!“
Zwischen den Beinen wurde es warm, als pinkelte sie sich ein. Der Chirurg zog das Laken von ihr runter. Sie besudelte das Weiß ihres Krankenhaushemdes, doch der Fleck im Stoff über ihrer Vagina war nicht gelb, sondern rot.
„Was ist das?“ Kim griff ihr Hemd, aber der Chirurg hob die Hand.
„Warten Sie!“ Kim fühlte ihn, als er sie spreizte. Der Schreck in seinem Blick wechselte zur Neugier eines Forschers.
„Was?“, fragte Kim. Die Krämpfe ließen nach, als wäre sie auf dem Klo gewesen. „Was ist da?“
Die Netzfäden zogen sich an den Fingern des Chirurgen hinab. Vier haselnussgroße Eier lagen auf seiner Handfläche. Aus einem zappelte ein kleines Beinchen.


„Schatz?“
Mutter, Mutter, Mutter. Sie sah ihre Mutter, sie war selbst keine.
„Ich wollte dich nicht wecken. Alles in Ordnung?“
Kim rieb sich den Traum aus den Augen. „Nein.“
„Das wäre es dann erst mal.“ Das sagte der Chirurg, der ihr eben noch Geburtshilfe geleistet hatte. Er stand in der Tür. Draußen auf dem Flur huschte ein Pfleger vorbei. „Bei Fragen wissen Sie ja jetzt, wie Sie mich erreichen.“
Ihre Mutter bedankte sich.
„Hast du geträumt?“, fragte sie, als der Chirurg die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Du hast ganz unruhig geatmet.“
Kim nickte.
„Vom Unfall?“, fragte ihre Mutter.
Sie nickte wieder.
„Du bist jetzt hier. Es sind nur Träume.“
Am Fußende des Bettes stand Thomas. Kim sah ihn nicht an.
„Hattest du getrunken?“, fragte er.
„Thomas, bitte.“ Ihre Mutter drehte sich zu ihm um. „Das ist doch jetzt nicht wichtig.“
Er zuckte die Schultern. „Ich meine ja nur. Wenn Sie Blut genommen haben, ist der Führerschein weg.“
„Du könntest dich auch einfach freuen, dass ich noch lebe“, sagte Kim.
„Tue ich ja.“
Kim wollte antworten, aber ihr Hals war rau. Sie nahm den Plastikbecher mit Pfefferminztee auf dem Nachttisch. Leer.
„Ich hole dir einen neuen“, sagte ihre Mutter und ging mit dem Becher nach draußen.
Thomas´ Hände krallten sich fester um das Bettgestell. Die Knöchel seiner Fäuste waren weiß.
„Was hast du gemacht?“
Wie im Auto schmierte Kim ihren Hals mit Spucke. Trotzdem war ihre Erwiderung kaum zu hören. „Was meinst du?“
„Tu bloß nicht so blöd. Was hast du mit ihr gemacht?“
„Ich weiß nicht, was du meinst.“
Er nickte. „Klar.“ Er schlug auf das Bettgestell. Auf dem Weg nach draußen stieß er fast mit ihrer Mutter zusammen. Tee schwappte über den Becherrand.
„Mist!“ Ihre Mutter zog ein Taschentuch aus der Hose. „Gehst du raus?“, fragte sie Thomas.
„Ich warte im Auto.“
„Ich bleibe aber noch hier.“
„Schön.“
Kim stützte sich auf die Ellbogen. Die linke Schulter war absolut nicht damit einverstanden.
„Thomas?“, sagte sie.
Er sah sie an.
„Sie war schwanger.“
Ihre Mutter sah zwischen ihnen beiden hin und her. „Bitte?“
Bevor Thomas ging, nahmen seine Augen einen glasigen Schimmer an.
Ihre Mutter setzte sich wieder ans Bett und gab ihr den Tee. „Was hast du gesagt?“
Kim ließ den Kopf wieder ins Kissen sinken. „Sie war schwanger“, sagte sie und sah kurz zur Decke. Dann nahm sie einen Schluck Tee. Lecker.
Arschloch.
Doch die Träume blieben und ihr Name blieb, wie Krücken, falsche Zähne und ein fast blindes Auge: Angélique.

 

Moin,

@Friedrichard:

Warum der mir eigenwillige erscheinende Abschluss der letztlich doch buchstäblich zitierten wörtlichen Rede.
Das sind keine vollständigen Zitate. In journalistischen Texten macht man das definitiv so, wüsste jetzt nicht, warum's in der Literatur anders sein sollte.

manchmal scheint mir vor einem abschließenden Punkt mehr als eine bloße Aussage zu stehen
Ich höre die Leute beim Ausrufezeichen irgendwie immer schreien. Oder sagen wir, mindestens mal rufen.

Gern gelesen
Danke fürs Feedback und Fehlerfinden!

@rainsen:

Bin über das "Ficken" kurz gestolpert.
Ich mochte den Klang wegen der Fast-Alliteration mit gefährlich.

Du beschreibst mehrmals ihre Größe, wie auch hier. Ich finde es super, denn es funktioniert jedes Mal wieder
Danke!

Finde es gut, dass es ein Traum ist, obwohl ich es dir auch in der Wirklichkeit abgenommen hätte.
Ich stehe auf diesen Effekt, wenn in einer Geschichte, in der bis dato die Naturgesetze galten, diese sich plötzlich auflösen. Der Traum ist da so die offensichtlichste Option.

Hat Spaß gemacht!
Ich dank dir, auch für die Fehlersuche!


Friert nicht ein übers Wochenende
JC

 

Hi @Proof,

tut mir leid. Bis zu einem gewissen Punkt kam ich. Dann war Feierabend. Diese meine persönliche rote Linie kann ich leider nicht überschreiten ... nicht ohne die nächsten vier Wochen an grässlichsten Alpträumen zu leiden. Skolopender und so, okay. Spinnen ... null.

Das liegt eindeutig NICHT an deinen schriftstellerischen Fähigkeiten. Es liegt an den Arachnoiden selbst. Sollten je Aliens diesen Planeten besuchen wollen, werden es hoffentlich nicht ... sein.

Und komm mir bloß keiner mit Konfrontationstherapie ...

Aber etwas fiel mir doch auf:

Thomas hatte sie immer dann aus Versehen zu festgehalten
Etwas festhalten oder etwas zu fest halten ... das eine ist nicht loslassen wollen, das andere übt zunehmend Druck aus. Meine ich zumindest ...
Und ich kam nach Hause und er hatte sich einfach da eingerichtet. Und ich dachte, letzten Endes ist es nur ein Raum
Über mindestens eines der "und" bin ich gestolpert.

Aber das sind nur Nebensachen. Also bis zum Unfall kam ich. Dann war für mich klar, was kommen wird und ich kann das nicht lesen ohne dass die nächsten Tage schlimm werden. Sorry.

Grüßle
Morphin

 

@Morphin schreibt Das liegt eindeutig NICHT an deinen schriftstellerischen Fähigkeiten. Es liegt an den Arachnoiden selbst. Sollten je Aliens diesen Planeten besuchen wollen, werden es hoffentlich nicht ... sein.

Mir sei der Einwurf gestattet, dass es dumm von ihnen wäre, als Spinnengetier oder Mördertomate daherzukommen. Wisset Ihr denn nicht, dass sie schon da sind - seit der Serie "Invasion von der Vega", sie sind nicht als Aliens angemeldet beim zuständigen Ministerium (für auswärtige Angelegenheiten), sie kleiden sich wie wir, sie reden wie wir, sie essen aber nicht alles, wenn man Hollywood trauen darf.

Schönes Wochenende - endlich mal wieder durchtretende, eislaufende Hunde!

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Dear @Proof ,

Monsterhorror kannst du auf jeden Fall, und ich finde das gar nicht so einfach, weil es eine heikle Balance zwischen nötiger Übertreibung und zu over the top ist. Für mich war bisher dein Seemonster-Text der stärkste (die Erstfassung), aber diese Geschichte hab ich richtig gern gelesen und sie hat mich sehr gut unterhalten. Das hast du super hinbekommen, denn ich mochte überhaupt niemanden und bin dennoch mitgegangen. Meine Heldin wäre eigentlich Angélique gewesen, aber so schreibst du sie definitiv nicht, auf Kim bin ich irgendwie nicht angesprungen. Bissl zu flapsig, zickig. Aber das passt als Kontrahentenpaar sehr gut.

Ich hab mal ein paar Sachen rauszitiert, kannst ja mal schauen.

Kim hatte nicht bei Thomas und ihrer Mutter schlafen wollen, aber der Haustürschlüssel hing noch immer an ihrem Bund und als Christin und die anderen die nächste Runde bestellten, war sie gegangen.
Eigentlich hatte sie die Nacht bei Christin verbringen wollen.
*gn* Da hab ich drei Mal angesetzt, weil ich das erst anders las und dann die Syntax nicht hinhaute. Ich erwartete sowas wie: "... und als Christin hätte sie eigentlich gar nicht so viel trinken dürfen." Irgendwann las ich einfach weiter und merkte im näxen Absatz, dass das ein Name ist. Auch für die Übersicht kann ich mir ein langsameres Reinzoomen aufs Personal vorstellen:
Kim hatte nicht bei Thomas und ihrer Mutter schlafen wollen, aber der Haustürschlüssel hing noch immer an ihrem Bund. Und als die anderen die [oder, sonst WW: eine] nächste Runde bestellten, war sie gegangen.
Eigentlich [wollte?] hätte sie die Nacht bei Christin verbringen [wollen].

„Bei Tegtmeier würdest du so einen Job kriegen.“ Bei so schnippste er immer mit den Fingern.
Könntest du durchaus als Unterbrechung der wörtlichen Rede setzen, direkt hinter dem gesprochenen so.
Solche Details kommen ein paar Mal so nachgestellt, dann war ich aber mit meinem Bild der Szene schon durch.
„Das ist aber auch … ein hässliches Ding.“
:D
Thomas hatte sie immer dann aus Versehen zu festgehalten, wenn sie allein waren. Ihre Mutter dachte, sie übertreibt. Jedenfalls sagte sie das. Kim liebte sie trotzdem, aber warum ihre Mutter Thomas liebte, wusste sie nicht.
Erster Satz: Ein bissl hadere ich ab & zu mit deinem Erzähler. Der erste Satz klingt extrem naiv und kindlich, das ist sehr personal. Dann zoomst du als rein autorialer in den Kopf der Mutter und sagst dem Leser was dazu. Dann springst du auktorial in Kims Kopf. Und so als Erzähler, der gerade noch wußte, was die Mutter denkt, hat hier plötzlich die Unwissenheit von Kim, obwohl er nicht mehr aus ihrer personalen Sicht erzählt. Vorschlag: Das Naive "fest gehalten" deutlich in Erwachsenensprache setzen.
Thomas hatte die Schatzkammer ausgerechnet in dem Raum eingerichtet, der wie kein zweiter im Haus ihrem Vater gehört hatte.
Schöne Sache, mit diesem Besetzen des persönlichen Raumes.

Den Raum hatte Thomas sich einfach genommen. Das behauptete ihre Mutter immer. „Und ich kam nach Hause und er hatte sich einfach da eingerichtet. Und ich dachte, letzten Endes ist es nur ein Raum. Papa hätte das nicht schlimm gefunden.“ Sie strich Kim über den Kopf. „Findest du nicht?“
Da würde ich mich entscheiden: entweder nur die ersten beiden Sätze und dann das Kopfstreichen. Oder Start bei wörtlicher Rede mit "Und ... Dieses Ankündigen und dann zeigen klappt hier für mich nicht so gut, obwohl ich mir denken kann, was für einen Tonfall du bei der Erzählstimme im Ohr hattest.

Sie trat zu wie ein Torwart beim Abstoß, einfach weit weg mit dem Ding.
Der Torwart reißt mich raus, auch, weil es kurz vor'm Slapstick ist. Damit wird diese wirklich tolle Szene entschärft.
Durch die Luft flog ein vietnamesischer Tausendfüßler, lang und dick wie ein Stück Darm. Er klatsche an den Kühlschrank, fiel zu Boden und suchte wild nach einer dunklen Ecke, in die er sich verkriechen konnte.
Jikes, Stück Darm! :sconf::lol: Könnte mir vorstellen, dass es ohne vietnamesisch knackiger käme. Da höre ich Recherche raus, denn der Erzähler hat eigentlich keinen triftigen Grund, das so zu spezifizieren.
Danach hielt er sie sehr fest. Als sie auf dem Küchenboden lag und nach Luft schnappte, die Knie angezogen und die Arme darum geschlungen, trat er ihr in den Rücken. Dabei zerquetschte er aus Versehen den Tausenfüßler mit der Zange und fluchte den Rest des Tages, was für eine dumme, selbstsüchtige Kuh sie sei und dass sie ja ausziehen solle, Punkt achtzehnter Geburtstag, „aber selbst arbeiten gehen, nicht von unserem Geld“.
Das war mit eine der besten Szenen für mich, weil diese Brutalität so nebensächlich wirkt, wie sie dieser Typ selbst wohl fühlt.
Für das Festhalten gilt dasselbe wie oben. Und die Intensität der Gewalt wäre noch stärker, wenn du nicht so viel dazupacken würdest. Das mit der Zange zerquetschen ist einfach nicht zu toppen, und was er ihr androht klingt dann eher lahm. Lieber früher raus, mit dem Knall.
weil sie mit Magen-Darm im Bett lag
Ja, sicher Geschmacksache, aber ich hab eine Allergie gegen Umkleide und sowas. Ist Monsterhorror und kein moderner Faust, aber spricht wirklich etwas gegen Magen-Darm-Grippe?
Bis zu 20 Jahre alt konnte sie werden und eine Beinspannweite von 30 Zentimetern erreichen.
könnte, da keine Vergangenheit.
Angélique war selbst noch klein,
:herz: Aaaaw!
Auf dem Rücken verhakten sich Kims Finger ineinander.
Hier würde ich tatsächlich so schreiben, dass es Kims Rücken ist, und nicht aktiv aus Sicht der Finger. Irgendwie war ich bei Rücken bei dem der Spinne, dachte, Kim hätte sie in der Hand und schlösse die Finger darüber. Kim verhakte die Finger hinter ihrem Rücken oder so?
Bitterkeit und Enttäuschung lagen in Thomas' Blick, als er sich wieder zum Kim umdrehte. „Dir ist nicht zu helfen“, sagte er.
*gn* Der Typ ist natürlich fies, aber seine Parteinahme Spinne vs Kim teile ich durchaus. Schön, wie du hier in Kürze seine Persönlichkeit zeigst.
Das Kribbeln auf der Haut war wieder da, lauter alte Freunde traf sie heute Nacht.
Das erste ist direkt und intensiv, dann klingt es mehr nach Pulp / einem Klappentext. Eigentlich tut das auch nix zur Sache und der Sarkasmus verstärkt nicht die Szene.
Jede neue Generation machte Thomas stolz, als wäre er selbst Vater geworden.
:D
An der Wand direkt geradeaus, auf dem Regal in der Mitte, stand das Kronjuwel. Kim ging darauf zu und vergaß die kleinen Monster um sich herum. Es gab nur sie beide.
Cool, mit den 'kleinen Monstern'.
Angélique hatte sich in ihren Ast verkrochen. In der Ecke lag ein kleines Männchen auf dem Rücken, mit angezogenen Beinen. Ficken war gefährlich in Angéliques Welt.
Naja, das müsste doch echt jedem bekannt sein, wie das bei Spinnen läuft. Da kommt mir dein auktorialer Erzähler irgendwie plötzlich dreist vor, dass er meint, mir Leser das erkläutern zu müssen wie einem Kleinkind. Das mit dem Männchen ist doch ganz perfektes Foreshadowing.
„Groß sind wir beide geworden, du Schlampe.“
Haha! Hier wird mir Kim 100% unsympathisch. Da dachte ich eigentlich, Angélique würde deine (Anti)Heldin. Ist aber auch okay so, also keine Kritik.
Das Bein zuckte wie bei einem träumenden Hund. Kim erschrak.
:herz:
Geiler Satz! Auch von dem süß zu erschrak. Schön gemacht, auf so kurzer Strecke.
Weg wie ihr Vater. Morgens hier, abends Matsch.
Komisch, sonst mag ich so eine Flapsigkeit nicht, aber hier ist das richtig gut. Ich höre da Kims Verdrängung der Trauer raus.
Hass legte sich wie ein warmer Mantel um ihre kalte Angst.
Ebenso hier: Eigentlich bin ich nicht so ein Fan von filmischen Phrasen. Aber ich ertappe mich dabei, das einfach gut zu finden, in dieser schönen Pulpigkeit. :D
„Bonjour“, sagte Kim. Nur ein Wort, aber sie hörte ihre Stimme zittern.
Klasse! Eine meiner Lieblingsstellen. Das ist wie oben mit dem schlafenden Hund und ihrem Erschrecken, so tolle, unauffällige Kontraste auf ganz kurzer Strecke, ohne offensichtliches Drama.
„Scheiße.“
Sie hatte das Festival vergessen. Hatte vergessen, danach auszuräumen.
Ich würde bei all diesen Selbstgesprächen nicht unbedingt die Zeilen wechseln. Und denke auch, es braucht an dieser Stelle, wo es spannend wird, keine Begründungen, warum jemands Kofferraum unaufgeräumt ist.
für zehn Euro bei eBay-Kleinanzeigen geschossen.
Das haut mich raus. Die Info bringt nix, auch nix, was mir Kim zeigen würde. Mir würde völlig reichen: Sie stellt den Glaskasten auf den Beifahrersitz, weil sie weiß, wie zugemüllt der Kofferraum ist, alles Erklärende weg.
Wenn sie schon nicht in den Kofferraum passte, wollte Kim sie wenigstens jederzeit sehen können.
Jau, das ist klasse.
Das Niemandsland hatte sie jetzt.
Finde ich schön, das reichte mir in der Szene aus.
Keine Häuser, keine Felder. Jedenfalls keine, auf denen tagsüber Trecker fuhren. Die zugewucherten Wiesen gehörten Füchsen, Hasen, gelegentlich einem Hund
Finde ich unschön, wenn sich auktoriale Erzähler (oder auktorial-personale) korrigieren. Eigentlich möchte ich ja folgen, direkt dabei sein, nicht, mir so lange Erklärungen anhören. Sag doch gleich: da sind Wiesen. Das mit dem gehören den Füchsen ist doch toll, und sagt genau, was du mit kein Haus / Feld so umständlich angefangen hast.
Sie fragte sich, ob Angélique einen Hasen fressen könnte. Einen kleinen bestimmt.
Wie wäre es mit: Einen kleinen vielleicht.
Der Aufprall stauchte das Auto zusammen. Kim spürte ihre Kniescheiben zerbröseln wie Kekse.
Das ist mir viel zu flapsig mit den Keksen. Das ist ja schon ein ironischer Witz. Damit bekommt die Szene eine irre Distanz. Hätte mir gewünscht, du wärst direkt rein. Aufprall und dann im näxten Satz eher personal bei Kim.
So bekam sie nicht mehr mit, wie das Auto auf die Fahrertür fiel und ihr dabei die linke Schulter aus dem Gelenk stieß.
riß
Immerhin lag sie mit angewinkelten Beinen auf der Seite, als hätte sie geschlafen.
Wer sagt immerhin?
Sie konnte ihre Waden nicht sehen. Der Unfall hatte den Fußraum zusammengedrückt wie eine Bierdose. Was sie sah, waren Glassplitter und ein hohler Ast, der neben ihrem Schoß auf der Fahrertür lag.
Bierdose = siehe Kekse. Der Rest ist schön beschrieben.
Kims zitternden Finger gingen zum Holz.
Ich bin kein Freund von wandernden oder fahrenden Fingern, da hab ich sofort Ashs Hand aus Evil Dead II vor Augen. Sie streckte die Finger zum / nach dem Holz aus vllt?
Der Beifahrersitz war leer, ebenso wie die Armaturen.
Wo war sie, um Gottes Willen?
Geschmacksache, aber immer dieses Oh Gott, Um Himmels Willen? klingt immer so extrem trashig, forciert. Der Satz davor ist so toll, löst genau das aus, was du mir dann in der näxten Zeile mit dieser tausend Mal gelesenen Phrase aufs Brot streichst.
Der Körper hatte den Notstrom angeworfen. Sie holte ein paar Mal Luft, dann gelang ihr ein Schrei.
Alles still. Sie erinnerte sich an einen Zeitungsartikel, den ihre Mutter warnend vorgelesen hatte, einige Jahre, bevor Kim den Führerschein machte. Ein Mann hatte auf dieser Strecke einen ganz ähnlichen Unfall gehabt, die Böschung runter. Ein Lastwagenfahrer, der einen Stau umfahren wollte, hatte den Wagen zufällig entdeckt, weil er pinkeln musste. „Das war Glück“, hatte die Zeitung einen Polizisten zitiert. „Hier ist so wenig los und von der Straße aus sieht man das Auto nicht da unten in den Büschen liegen. Das hätte auch eine Woche dauern können, bis es einem auffällt.“
Ich will gar nicht behaupten, dass das unmöglich ist, solche absurden Gedanken / Erinnerungen im Schockzustand. Aber ich lese ja hier was, und diese so schön chronologisch (durchaus brav) erzählte Story entfernt mich sehr weit aus dem Geschehen. Es würde eher funktionieren, wäre das fragmentierter gedacht, in Fetzen, die ich selbst nicht gleich zusammensetzen kann.
Dabei fällt mir ein, dass ich es auch nicht verkehrt fände, die ganze Geschichte weniger auktorial zu erzählen.
Ihr Handy! Kim hatte es wie immer auf den Beifahrersitz gelegt, weil es in der Hose so drückte.
Das ist aber schön, dass mir der Erzähler das so erklärt. ;) Nach einem solchen Unfall wundere ich mich echt keine Sekunde, warum ein Handy auf dem Boden liegt. Viele Leute haben das ja wohl eh da bei der Gangschaltung liegen. (So dachte ich das hier.)
aber da war es, im Fußraum des Beifahrersitzes. Auch der war eingedrückt, der Weg hinein glich einem zusammengestürzten Höhleneingang.
Das finde ich klasse gemacht, mit dem dunklen Höhleneingang und dem Handy davor (und schon der Idee, dass bei Höhe die Tarantel nicht weit ist).
Kim streckte die Hand danach aus. So ungefähr musste es sich anfühlen, wenn Parkinson oder irgendein anderer fieser Mist einem den Körper nahm.
Siehe Bierdose / Kekse. Lieber direkt drin bleiben in der Szene, im Bild.
Zuerst hatte sie mit ihrem ausgekugelten Arm versucht, ihn zu öffnen, aber in ihrer Schulter rieb dabei etwas aneinander, das es eigentlich nicht tun sollte.
Naja ... mit dieser Schulter/Kniesache hatte ich ein bissl Probleme.
Ich war nie Zivi, Krankenpflegerin usw. und habe erst beim Segeln vor 2 Jahren jemand so richtig vor Schmerzen schreien hören. Eine Passagierin / Mitseglerin - eine durchaus fitte Studentin - hatte sich beim Hochsteigen der Strickleiter vom Schwimmen wegen einer Welle den Arm ausgekugelt. Die Bordwand ist zwei Meter hoch und sie hatte nichtmal die Kraft, sich mit dem anderen Arm an der Strickleiter festzuhalten. Jemand sprang ins Wasser, um sie über Wasser zu halten. Sie hat geschrien, bis 10 min später das Beiboot neben ihr war, als sie reingehoben wurde, und hörte erst auf, als der Kapitän mit ihr sprach, und den Arm einrenkte. Dann weinte sie zwar, aber mehr aus Schock. Und abends - nach einem Nothafenanlegen & Krankenhaus - war sie mit Schiene schon wieder mit uns in einer Kneipe.
Diese Szene hatte ich bei deinenm Unfall vor Augen, und musste einfach daran denken, dass das Mädel zu nix fähig war, außer zum Schreien. Das war echt furchtbar mitanzuhören. Und dann so ein "rieb aneinander, was es nicht tun sollte" - das klappt für mich einfach nicht.

Hier sehe ich den einzigen Schwachpunkt der Geschichte. Ich verstehe schon, dass beim Horror (vor allem bei Filmen) Gewalt auch durchaus etwas Symbolisches hat, überzogen sein kann oder wobei Leute - Schock hin oder her - noch mit schweren Verletzungen viel machen können (davon kann ich sogar selbst ein Lied singen, das geht durchaus, aber mit einer extrem eingeschränkten Sicht). Aber die Sache mit der Schulter fluppt für mich nicht. Da hätte ich mir zweierlei gewünscht: Sehr viel stärkere Innensicht, fragmentiert, und dann, dass sie sich im Schock den Arm selbst einrenkt. Danach hört ja wohl der Schmerz relativ auf. Dann passt das pacing auch.

„Lass mich in Ruhe.“ Kim flüsterte. „Ich hab dir nichts getan.“
Haha! Du wolltest sie ersäufen und sie weiß es!
Fand ich sehr schön.
Kim spürte den Blick auf sich. Acht Augen.
die Blicke vielleicht? Oder: Aus acht Augen. Ist mehr fuzzy logic als Grammatik.
Angélique wanderte die Rückenlehne hinab. Langsam, als wäre sie selbst benommen vom Sturz.
Herab? Damit würde ich stärker den Eindruck von Gefahr / Dringlichkeit bekommen. Zu ihr hin, nicht von ihr weg.
Die Welt verengte sich zu einem Tunnel und die schwarzen Punkte wurden mehr.
Eigentlich klasse. Findest du einen Ersatz für wurden mehr? Bissl ungelenk, dabei hat das so schön angefangen.
Der Hund sah wieder zu ihr, quittierte ihr Röcheln mit einem leisen, fragenden Bellen. Sorry, schien das zu bedeuten. Ich muss los. Kim sah ihm weinend hinterher.
Meine dritte Lieblingsszene! Das ist so grandios gemacht. Und hier passt diese leise Ironie, weil sie aus der Szene selbst, nicht aus einer Bemerkung des Erzählers, entsteht.
Als eine davon sich umdrehte, erkannte Kim die eigenen Gesichtszüge in dem des Nagetieres.
Dieser Fütterungsflashback passt sehr gut. Das mit dem Gesicht ist mir too much. Vllt. auch, weil es sehr filmisch ist, und sehr typisch 80s Horror.
Sie erwachte in einem Traum. Es war dunkel und ihr Mund war voll.
Du bist wach.
Die Ohnmacht hatte sie geholt, stundenlang. Das hier war kein Traum. Aber was war das in ihrem Mund?
Klasse Szene, brrrr. Okay, ich mag Spinnen, aber das ... nee. :D
Letzter Satz: Finde es nicht so schön, wenn mir der Erzähler etwas in den Kopf setzen will, was die Szene vorher schon geleistet hat. Ja, Erzähler, ich bin nicht blöd.
Kim biss zu. Die kleinen Kugeln platzten. Sie drehte den Kopf, damit der Saft ihr aus dem Mund lief und nicht [in] den Hals hinab.
Warte!
Wäääääh! :sick:
Weil sie lieber tot gewesen wäre, stöhnte sie.
Ich weiß nicht - cooler ist doch eigentlich, dass jemand leben will, aber das Leben grad unerträglich ist. Sicher Geschmacksache, aber ich denke, gerade in Ausnahmezuständen will man eben - Instinkt - nicht sterben.
Es war wie ein Fernseher, den jemand jedes Mal, wenn sie aufwachte, ein bisschen lauter gedreht hatte.
Sehr, sehr schönes, fieses Bild.
Ein Fauchen rechts von ihr. Angélique saß über dem Handschuhfach. Wieder stellte sie die Vorderbeine auf. Diesmal war es mehr als eine Drohung.
Was hast du getan?
Kim spuckte. Der Schleim in ihrem Mund war zu kleinen, harten Krümeln getrocknet.
Fauchen?
Okay, ich schlucke das Fauchen, diesmal weil es so filmisch ist. Genau wie Haie dieses Löwenbrüllen haben. Der Rest ist so geil. Bääääh ...
Angélique sprang. Oder fiel.
Ich finde nicht, dass dies eine gute Stelle ist, sich als Erzähler zu korrigieren. Hier braucht es Tempo.
Die Zähne der Grand Dame bohrten sich in ihren Finger, wie mit Säbeln hackte sie darauf ein.
Keine Zähne, hatte Thomas ihr früher erklärt. Cheliceren nennt man die. Kannst du das sagen, Cheliceren?
Hm. Das kommt ja später nochmal, dort fand ich es kürzer und passender. In diesem Moment kann ich mit dem Einschub nicht so viel anfangen.
Angéliques drahtige Haare stachen in das wunde Fleisch ihrer Zahnlücken.
:sconf::sick::sconf: Jörks, das ist so gut. Ich spüre das richtig.
Sie schüttelte Angélique wie ein Wolf seine Beute.
Ist mir zu over the top. Zumal: die Schulter.
Die ergrauten Beine zappelten.
Wie, ergraut?
Es folgte ein Schwall medizinischer Fachbegriffe, und irgendwo zwischendrin sagte er „völlig zerstört“.
:D Geil.
Ihre Hand ging zum Bauch.
s.o. Finger.
Der Schreck in seinem Blick wechselte zur Neugier eines Forschers und schließlich zu einem verwirrten, kopfschüttelnden Was um alles in der Welt?
Das finde ich einen so perfekten, fiesen Satz, und so direkt vorstellbar, dass alles weitere nur abschwächt. Besser nicht nachtreten.
Wie Pizzakäse zogen sich die Netzfäden an den Fingern des Chirurgen hinab. Vier haselnussgroße Eier lagen auf seiner Handfläche. Aus einem zappelte ein kleines Beinchen.
Pizzakäse = Kekse etc. Alles andere: :thumbsup:

Feine Sache, eklig, wie es sein soll. Auch wenn meine Heldin stirbt, buhuu.
Hat mir sehr gut gefallen!

Liebe Grüße,
Katla

 

Hallo @Katla,

Für mich war bisher dein Seemonster-Text der stärkste (die Erstfassung),
Echt? Mit dem heftigen Zeitsprung?

Meine Heldin wäre eigentlich Angélique gewesen, aber so schreibst du sie definitiv nicht, auf Kim bin ich irgendwie nicht angesprungen.
Ist halt immer vom Leser abhängig. Jetzt ist die Geschichte nicht mehr taufrisch und ich weiß nicht mehr, ob ich weiter oben schon geschrieben habe: Nicht Heldin, aber mit mindestens einem hatte ich eigentlich gerechnet, der drunterschreibt, ich habe selbst eine Spinne, und wie du diese tollen Tiere hier zum Monster machst, finde ich nicht okay, das schürt nur Vorurteile.

Christin
Krass, wäre ich niemals drauf gekommen und jetzt kann ich es nicht mehr ungesehen machen. Das Einfachste ist wohl, aus ihr einfach Kristin zu machen. Aber ich habe schon viel mit dem Anfang gekämpft, ja, merkt man wahrscheinlich. Ich hatte auch kurz überlegt, mehr show zu machen, das Saufgelage zu beschreiben, fand das dann aber zu langwierig und zu viele Figuren, von denen ja nur eine für die Geschichte wichtig ist.

Solche Details kommen ein paar Mal so nachgestellt
Ist so eine von meinen Macken, glaube ich.

Und so als Erzähler, der gerade noch wußte, was die Mutter denkt,
Eigentlich hatte ich so halbwissend gewollt. Tendenz zu dritter Person Kims Sicht. Bei "ihre Mutter dachte" habe ich gar nicht an denken gedacht, sonder so: Sie denkt, ich übertreibe. Sagt man ja so. Meist, weil jemand das schon mal in der einen oder anderen Form geäußert hat, nicht, weil man sagen möchte, ich weiß in diesem Moment, was dir durch den Kopf geht. "Sagte" statt "dachte" könnte wohl Klarheit schaffen.

Vorschlag: Das Naive "fest gehalten" deutlich in Erwachsenensprache setzen.
Das ist ja von der Mutter. "Er hat dich nur ein bisschen zu fest gehalten." Oder sogar "zu doll festgehalten". Sie macht es ja einem Kind verständlich.

Der Torwart reißt mich raus, auch, weil es kurz vor'm Slapstick ist.
Ich lasse sie mal ohne Vergleich treten.

Könnte mir vorstellen, dass es ohne vietnamesisch knackiger käme.
Tatsächlich habe ich selbst bis vor ein paar Jahren bei Tausenfüßlern an harmlose Krabbler gedacht. Was es da für heftige Teile gibt, fleischfressend, giftig, krasser Biss, das habe ich jetzt nicht erst für diese Geschichte rausgefunden, aber relativ neu ist es mir immer noch und ich hab einfach mal von mir auf andere geschlossen. Ich wollt nicht, dass jemand denkt: "Hä? Stellt die sich da an do, so'n oller Wurm." Also, knackiger wird's ja eigentlich immer, wenn man was rauskürzt. Andererseits wird Kim beim Zusammenleben mit Thomas zwangsläufig Sachen aufschnappen. Ich muss mal schauen.

aber spricht wirklich etwas gegen Magen-Darm-Grippe?
Umgangssprache kann so aufgesetzt lebensecht wirken, das Korrekte kühl. Ist oft 'ne Münzwurf-Entscheidung.

Da kommt mir dein auktorialer Erzähler irgendwie plötzlich dreist vor, dass er meint, mir Leser das erkläutern zu müssen wie einem Kleinkind.
Das ist auch immer vom Horizont des Lesers abhängig. Ich fand den Satz cool und wie gesagt, in meinem Kopf war das eher eine Wertung von Kim, als jetzt so das Heinz-Sielmann-Ding. Wollt keinem die Welt erklären. Hab aber gerade eine Idee für eine Geschichte, glaube ich.

Haha! Hier wird mir Kim 100% unsympathisch.
Sie projiziert halt ihren Hass in dieses Tier. Die Spinne ist ein Symbol, wie der besetzte Raum. Tatsächlich hatte ich ja versucht, das aufzufangen, indem Kim irgendwo sagt: "Ich weiß, dass du nur ein Tier bist." Mittlerweile habe ich's glaube ich rausgekürzt. Zu rational.

Die Info bringt nix, auch nix, was mir Kim zeigen würde.
Hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, das alles wegzuhauen, den Grill, das Festival, Schlafsäcke etc. Hält ja schon auch auf. Irgendwie hatte ich das Gefühl, sie muss die Spinne erstmal in den Kofferraum stellen wollen, wenn sie sich doch so davor ekelt. Dann brauchte ich eine Erklärung, warum die da raus muss. Ich könnte sie einfach kommentarlos auf den Beifahrersitz packen, würde vllt nicht mal jemandem auffallen. Oh. Hätte ich mal erst den ganzen Kommentar gelesen.

Das ist ja schon ein ironischer Witz.
War tatsächlich nicht so gemeint. Aber Kniescheiben, die wie Kekse zerbröseln, klingt schon komisch, jo.

Wer sagt immerhin?
Kim?

Nach einem solchen Unfall wundere ich mich echt keine Sekunde, warum ein Handy auf dem Boden liegt.
Aber viele tragen es ja auch am Körper. Ich dachte, am elegantesten wäre es vielleicht, es als beiläufige Info weiter vorne hinzupacken, die dann später Sinn ergibt. Also "und legte ihr Handy daneben".

Siehe Bierdose / Kekse.
Ich dachte, bei den beiden wäre es eher um zu "humorvolle" Vergleiche gegangen. Parkinson ist ja nun nicht witzig.

Naja ... mit dieser Schulter/Kniesache hatte ich ein bissl Probleme.
Die ist natürlich 100 Prozent freihändig. Hatte ich auch Bedenken bei, weiter oben schon geschrieben. Mir ist Ähnliches nie passiert - kann gern so bleiben - und ich kenne auch niemanden. Also Leute, die Unfälle hatten, Leute mit einer Schraube hier und einer Metallplatte da in den Knochen, aber nichts, was ich mit dem vergleichen könnte, was in der Story passiert. Das sind so Stellen, da wünsche ich mir manchmal einen medizinischen Berater. War mir wohl klar, dass da Einspruch kommen dürfte, wenn jemand schon mal die Schulter ausgekugelt hatte oder bei so etwas dabei war. Ich dachte einfach, Leute machen so krasse Sachen, überleben so gegen alle Widrigkeiten (Aron Ralston könnte unterbewusstes Vorbild sein), das wird man sich schon irgendwie vorstellen können. Kim wird ja quasi zum Tier, voll Instinkt, beißt den Gegner tot. Aber vllt kann ich Schulter und Knie zumindest ein bisschen näher an die Realität rücken.

Findest du einen Ersatz für wurden mehr?
Manchmal ist das tatsächlich der Grund, manchmal bleibe ich aber auch bewusst simpel, weil ich das Gefühl habe, der Leser stockt, weil er merkt, dass ich einen Ersatz für "wurde" oder was auch immer gesucht habe. Weiß jetzt nicht mehr, welcher Tatbestand hier vorliegt.

Vllt. auch, weil es sehr filmisch ist, und sehr typisch 80s Horror.
Auf jeden Fall. Unter anderem das hat mich geschult und ich baue gern mal eine kleine Referenz ein. Tatsächlich hatte ich schon vor dieser Anmerkung irgendwie Bock, diese Geschichte gedruckt rauszuhauen, und dann das Cover gestaltet wie so eine abgegriffene, nikotinfleckige VHS-Hülle aus der Schmuddelvideothek, wo's im Eingang nach Lulu riecht, mit rotem Sticker vorne drauf, "Keine Vermietung oder Verkauf an Kinder und Jugendliche".

Finde es nicht so schön, wenn mir der Erzähler etwas in den Kopf setzen will, was die Szene vorher schon geleistet hat.
Keine Absicht.

gerade in Ausnahmezuständen will man eben - Instinkt - nicht sterben.
Es sollte heißen, so viel Schmerz, tot wär besser. Widerspricht sich aber, auch von Kims sonstigem Verhalten her, das stimmt.

Genau wie Haie dieses Löwenbrüllen haben.
Huarg! Der weiße Hai - Die Abrechnung? Michael Caines "Hab ich nie gesehen, ist wohl besser nach dem, was man hört, aber ich hab das Haus gesehen, das ich mir von der Kohle gebaut hab, das ist schön"- Film? Das' aber nicht sehr schmeichelhaft. :) Ich hatte das extra recherchiert. Stridulation.

Ich spüre das richtig.
Wir suchen ja alle nach den Details an der richtigen Stelle. Auf die hier bin ich schon ein bisschen stolz. Jeder hatte schon mal irgendwas mit den Zähnen oder kann sich an dieses wunde Gefühl erinnern, wenn sie als Kind ausfallen. Bei Vergleichen würfelt man oft ein bisschen, aber hier war ich mir echt ziemlich sicher, dass das funktioniert.

Ist mir zu over the top.
Das Tierische wollte ich halt ganz dick machen. Aber ja, vielleicht ist's zu dick geraten.

Wie, ergraut?
Habe ich auch extra nachgesehen, Vogelspinnen werden grau.


Vielen Dank für die ausführliche Kritik! Viele Sachen werde ich einbauen/streichen die nächsten Tage.

Viele Grüße
JC

 

Hallo @Proof.

Hier haben wir Kim, die Ärger mit dem neuen Freund ihrer Mutter hat, vor allem mit dessen Haustieren. Insbesondere einer Riesenspinne, die sie letztendlich in den Fluss werfen will, doch auf dem Weg einen Autounfall erleidet und das unheil nimmt seinen Lauf.

Ich bin gerade an gewisse Horror-Filme erinnert, die zusätzlich zur eigentlichen Bedrohung noch persönliche Probleme der Protagonisten hinzufügen, wie hier, dass Kim um ihren Vater trauert und Schwierigkeiten mit dem neuen Freund der Mutter hat. Damit auch ja sicher gestellt ist, dass sich der Leser/Zuschauer schlecht fühlt. Ich meine das positiv.

Die Spinne ist eine eigene Persönlichkeiten. Ich bekomme fast Lust, mehr über sie zu erfahren. Könnte man nicht irgendwo den Gattungsnamen unterbringen, damit ich sie googeln kann? Ich frage für einen Freund ...

„Er wollte dich nur zur Rede stellen und hat dich dabei aus Versehen zu fest gehalten“, sagte sie.
Was für eine grandiose Untertreibung. Und dann noch das anschließende "es ist ja auch hässlich" = "es ist ja auch deine Schuld".

In der Szene, als Kim den Keller betritt, dachte ich erst, Thomas wäre dabei, als "wir sind groß geworden, du Schlampe" gesagt wurde. Eben war Kim noch ein liebes, kleines Mädchen. Ich hab das zuerst nicht zusammen bekommen, dass sie solche Ausdrücke benutzt.

O Gott, da liegt sie verletzt und eingeklemmt im verunfallten Auto und die Spinne läuft frei herum. Wie gemein. Ich fühle mich hervorragend unterhalten. Dann wird auch noch die Hoffnung auf schnelle Rettung getrübt durch die Geschichte mit dem anderen Mann, dem was Ähnliches passiert war.

Danach wurde es eklig.

Hat mir im Ganzen sehr gut gefallen. Ich nehme mir daran ein Beispiel.

Viele Grüße
Jellyfish

 

Hallo @Jellyfish,

Ich bin gerade an gewisse Horror-Filme erinnert, die zusätzlich zur eigentlichen Bedrohung noch persönliche Probleme der Protagonisten hinzufügen,
Das ist ein interessantes Thema. Vor 30 Jahren haben gerade Horrorfilme bei der Charakterisierung gern mal zu wünschen übrig gelassen. Heute hast du quasi das Gegenteil. Die Hauptfigur kommt ins Bild und du wartest auf den Anruf der Mutter, der das problematische Verhältnis zu den Eltern skizziert, oder der Bruder ist obdachlos oder die beste Freundin hat Depressionen. Das Internet hat eine Generation von Experten geschaffen, auch bei der Filmkritik. "Der Protagonist blieb mir irgendwie fern, man erfährt ja fast gar nichts über den" - Sätze wie diesen haut heute so gut wie jeder nach dem Kinobesuch raus. Oder nach dem Stream. Ich will jetzt gar nicht sagen, wie können die es wagen, aber der Punkt ist: Gerade (Unterhaltungs-)Filmschaffende haben darauf reagiert, denke ich. Und manchmal ist man versucht zu sagen, Mann Leute, ich weiß, dass das ne harte Zeit war im Heim, aber ich wollte doch nur die Kanalisations-Kannibalen aus dem Titel in Action sehen. Wie das Evil Dead-Remake. Ich fand den klasse, aber jo, Drogenentzug im Wald. Mag sich im ersten Moment moderner und reifer anfühlen, aber an dieses rohe, punkige Feeling des Originals, mit den aus heutiger Sicht albernen Effekten und in dem du fast NICHTS über die Prots erfährst - da kommt der nicht ran.

Da ich in meinem Schreiben auch viel von Filmen beeinflusst werde, habe ich tatsächlich darüber nachgedacht, ob ich da so eine Schablone anlege, ob ich stattdessen lieber so gut wie keinen, sagen wir mal zumindest keinen so emotional aufgeladenen Hintergrund bieten soll. Sie transportiert die Spinne für einen Freund zum Beispiel, der so Terrarienbewohner sammelt. Dann der Unfall. Aber irgendwie ist Literatur noch was anderes. Die Leute fiebern bei so angeknacksten Figuren auch eher mit. Das ist das, was du mit "auch ja schlecht fühlt" meinst. Hätte ich die Zeit, würde ich eine Version ohne persönliches Drama schreiben, einfach weil mich interessiert, ob das auch ankommt.

Könnte man nicht irgendwo den Gattungsnamen unterbringen, damit ich sie googeln kann?
Hier gern: Theraphosa blondi. Goliath-Vogelspinne. In der Geschichte nicht, das ist natürlich eine sehr bewusste, stilistische Entscheidung. Dir wird aufgefallen sein, dass selbst das Wort "Spinne" nicht ein einziges Mal vorkommt. Das war so eine kleine Herausforderung an mich selbst, dass wirklich jeder schnallt, um was es geht, selbst wenn er sich nie damit beschäftigt hat.

Ich fühle mich hervorragend unterhalten.
Danke!


Schönes Wochenende
JC

 

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