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Angriff der Himmelsheere
Es regnete heftig am heutigen Abend. Ein eiskalter Schauer ergoss sich vom Himmel herab auf die dunkle Stadt und sein schwarzer, nasser Mantel war schwer geworden vom Wasser. Gestern schon hatten Hagelschauer hier gewütet und die Stromversorgung lahmgelegt.
Manuels Füße wateten durch enge, immer noch von Hagelkörnern übersäte, Gassen. Er wurde immer nervöser und unruhiger. Etwas war hier im Busch... nach Hause wollte er heute Abend nicht mehr. Und obwohl es die kälteste Novembernacht des Jahres war, glühte er fast vor Energie und innerer Hitze. Er suchte etwas. Mehr wusste er nicht.
Tatjana saß im Blauen Engel fest. Ihre innere Stimme sagte ihr, dass sie den Laden schon vor Tagen hätte dicht machen sollen. Die Leute suchten ihre Bar in den letzten Tagen auf, um ihre Flüssigkeits- und Kerzenvorräte aufzustocken. Mittlerweile war es eine halbe Woche her, seit die Straßen wegen des sauren Regens, den das plötzliche Unwetter mitgebracht hatte, unpassierbar geworden waren. Sie beherbergte schon seit Wochen ein junges Mädchen, das, so zierlich es auch aussah, eine ungewöhnliche Aura von Stärke und Souveränität ausstrahlte. Sein bleiches Gesicht besaß das süßeste Lächeln welches Tatjana je gesehen hatte.
Seit Ramonas Ankunft war es eisig kalt. Der Mangel an Lebensmitteln und trinkbarem Wasser war unerträglich geworden. Aber die Menschen, welche diese Stadt bewohnten, konnten leider nichts mehr daran ändern, denn seit achtundvierzig Stunden waren sie nun endgültig von der Außenwelt abgeschnitten.
Dennoch hatte sich zumindest Ramona, seit sie hergekommen war, nie über irgendetwas beschwert.
„Es ist soweit“, nuschelte das Mädchen.
Tatjana hatte sie nicht verstanden und näherte sich ihrem jungen Gast hinter der Theke.
„Was ist los?“
„Er kommt.“
Wen mochte das Mädchen meinen? Und woran dachte sie jetzt in diesem Augenblick?
Ramona saß nur da und lächelte weiterhin in ihr Weinglas. Tatjana wusste, dass sie Probleme bekommen konnte, wenn sie einer Minderjährigen Alkohol ausschenkte. Doch sie hatte in den letzten zwei Tagen auch bemerkt, dass Ramona sehr vorsichtig mit der rotglänzenden Flüssigkeit umging. Außerdem war ihr die Gesellschaft des niedlichen Mädchens mit den schwarzen, fingerlangen Haaren recht, das ständig Witze riss und sich nicht um das Unwetter scherte.
Ramona träumte. Sie träumte schon die ganze Zeit. Doch keiner von den anderen Gästen hier am Tresen oder an den Tischen hatte es je bemerkt. Ganz zu schweigen von den Leuten, die sich hier nur mit Nahrungsmitteln versorgten und wieder gingen.
Vor einiger Zeit hatte sie in der Schule gesagt: „Mein männliches Pendant erscheint bald!“
„Was meinst du damit?“, hatte Sevilla, ihre beste Freundin, gefragt. Sevillas lange, rote Locken hatten gezittert, als sie den Kopf geschüttelt hatte.
„Meine männliche Entsprechung.“
„Sevilla, lass sie, die spricht nur wieder in Rätseln!“, hatte Markus lauthals bemerkt.
Nun waren viele ihrer Freunde möglicherweise nicht mehr am Leben, gestorben durch den Hagel, die Kälte oder den unbarmherzigen, sauren Regen. Und sie hatte die Schuld oft bei sich gesucht. Denn die Angreifer waren Wesen aus ihrem Volk. Nur die Geborenen, wie sie, hatten jedoch einen freien Willen.
"Keiner meiner Klassenkameraden hatte etwas mitbekommen, keiner hatte gespürt oder gesehen, dass ich immer nervöser werde... und diese Hitze in meinem Inneren, wie kochende Lava, sie bringt mich zum platzen. Ich fühle... Stärke oder Macht, ich weiß nicht genau, aber es ist stark, sehr stark.
Die Tage werden kürzer und meine Kräfte verlassen mich fast. Er kommt... was wird passieren, wenn der Tag anbricht. Die Tore werden sich öffnen, ich will meine Kraft wiederhaben. Das, was mir rechtmäßig zusteht. Ich bin nicht gierig. Ich bin nicht böse!!! Die sind böse. Sie verseuchen diese Welt, die sie geschaffen hat, diese Menschen... Wer bin ich? Wer bin ich?"
Ein anderer Gedanke drang in ihr Herz. Etwas, das sie zu verstehen suchte.
"Was bin ich? Tränen durchfluten mein Herz ich spüre die Traurigkeit der Erde, wir rennen unaufhörlich in einen Abgrund. Ich muss etwas tun, aber was? Unaufhörliche Scharen von Tsunamis zerstören seit Jahren die Küstenstädte Südostasiens. In Japan gehen die Uhren nicht mehr und Amerikas Küsten werden schon seit Monaten von schier unzähligen Angriffswellen der Hurrikane zurückgedrängt. Afrika zerbricht an Hungerkatastrophen und Dürreperioden, Asien an Grippeepidemien und Europa? Sind wir hier sicher? Ich sterbe vor innerer Hitze und Unruhe."
Manuel stolperte über etwas. In der allerletzten Sekunde hatte ihn jedoch sein Gleichgewichtssinn vor dem Sturz bewahrt.
„Ich werde unachtsam, irgendwo hier muss es sein. Die Stelle ist schön zu verweilen... worüber bin ich eigentlich gestolpert? Ach so, nur ein toter Hund. Kein Verlust, wenn man bedenkt, was in den letzten Jahren so alles passiert ist. Warum mache ich mir solche Gedanken, ich brauche Streicheleinheiten und Wärme. Tatendrang scheine ich ja jetzt zu haben. Oder ist das nur Nervosität? Der Ort, diese Kirche ist trocken. Hier werde ich warten. Und harren der Dinge, die da kommen mögen.“
Ramona knallte die Hände auf den Tresen...
„Ich muss gehen, es ist soweit.“
Tatjana versuchte sie zu beruhigen: „Du bist vierzehn Jahre alt, ich werde nicht die Verantwortung dafür übernehmen dich in die Kälte hinauszulassen damit du dort erfrierst. Ich will deine Wärme noch eine Weile spüren...“
Etwas brachte Tatjana zum Zucken. Sie war nicht die ehrlichste Haut und das Mädchen war ihr wirklich ans Herz gewachsen.
„Das ist ein egoistisches Motiv, mich behalten zu wollen!“
Tatjana senkte den Blick.
„Du hast ja recht, ich...“
Ramona drehte den Kopf und zog ihren Ledermantel zurecht.
„Du hast mich gut behandelt Tatjana, dafür wirst du heute Nacht belohnt. Doch ich gehöre nicht dir!“
Ramonas außergewöhnlich sonniges, süßes Grinsen machte es Tatjana unmöglich, dem Mädchen zu widersprechen.
„Aber danke für die Ganzkörpermassage... Wenn ich zurückkomme, bleibe ich bei dir, einverstanden?“
„Ehrenwort?“
„Ehrenwort!“, nickte Ramona „Wenn ich wiederkomme, werde ich, möglicherweise, sowieso niemand mehr sonst haben. Erst in neun Monaten wieder, dann... brauche ich vielleicht deine Hilfe.“
Die schattenhaften, organisch anmutenden Wolken hatten den Himmel über Europa überflutet. Nebelbanken überzogen tagsüber die Welt und heftige Winde peitschten sauren Nieselregen horizontal durch die Städte und über die Fluren und Wälder.
Vor zwei Tagen hatte es auch hier begonnen. Menschen starben und keiner kümmerte sich darum die stinkenden, verwesenden Leichen zu bergen, welche im gefährlichen sauren Regen vor sich hinmoderten. Die Städte Europas wurden heimgesucht von den Heerscharen des Himmels und eine nach der anderen von Hagelschauern niedergeschmettert. Tausende waren umgekommen, und die Wenigsten wussten, dass ihre Stadt nicht die Einzige war, die keinen Strom mehr hatte.
Ramonas Schuhe waren schon völlig durchnässt und Wassertropfen, aus ihren Haaren, liefen über ihre geröteten Wangen. Sie bewegte sich unbeirrt durch die menschenleeren Straßen. Ein Mädchen, das etwas suchte. Etwas, jemanden, den sie seit Jahren kannte. Möglicherweise schon viel länger als ein Menschenleben ausmachte. Die letzten vierzehn Jahre ihres Lebens, waren ihr wie ein Augenblick vorgekommen.
"Ich hatte schon immer dieses Gefühl, dass mir die eine Hälfte meines Körpers fehlt. Ich will meine Kraft endlich haben, nicht nur dieses peinlich schwache, dämonische Pathos in meinen Gliedern. Es macht einen Menschen stark, so stark dass er einen Lastkraftwagen anheben könnte, wenn er muss. Aber mir reicht das nicht!! Ich will ihn!"
“Wo bist duuu?“, schrie das Mädchen aus Leibeskräften in den düsteren Himmel.
Funken stoben und der riesige Drache in seinem Herzen platzte vor Energie. Eine Schlange aus Blitzen und Feuer erschien am Horizont und sollte ihr den Weg zu ihm weisen.
„Ich will nicht meeehr!“, schrie er.
„Komm endlich! Mein Herz rast vor Wut. Ich könnte einen Berg in Fetzen reißen, so wie ich mich fühle!“
Ihre Schritte wurden immer schneller und trugen sie so schnell durch die Nacht, dass man nur ihren Schatten sehen konnte. Die Schlange hatte nur für einen Sekundenbruchteil existiert. Und doch wusste sie jetzt wo sie ihn suchen musste.
Nach vielen Stunden brach der Tag an. Der Seismograph in Manuels Herzen geriet außer Rand und Band. Er bewegte sich über die Treppe der Kirche nach unten auf die Straße zu, als die Sonnenstrahlen die Wolkendecke durchbrachen und die Winde endlich stockten.
„Die Ruhe vor dem Sturm! Wenn sie nicht bald kommt“, durchzuckte ihn der Gedanke. Er weidete seine Augen an dem glänzenden Gold der Wolken, die wie Feuer brannten und ein blendendes Licht aussendeten.
Etwas stieß in seinen Rücken und er stürzte auf den nassen Asphalt. Zehnmal überschlug er sich und sein Körper juckte wie wenn man ihn über Feuer geröstet hätte.
Sekunden später stand er auf und erholte sich, indem er die gereinigte Luft tief in seine Lungen hineinsog.
„Da bist du ja!?“, sprach das Mädchen und lächelte ihn unmissverständlich scharf an.
„Na endlich! Wurde auch Zeit, dass du mich findest!“
Er näherte sich vorsichtig ihrem Angesicht. Schritt für Schritt für Schritt... immer mehr brannten seine Glieder und sein ganzer Körper rebellierte vor Sehnsucht.
Als er nur einen Meter von ihr entfernt stand, riss er seinen gekrümmten Arm in die Höhe, zielte mit der Handkante und hieb mit der ganzen Kraft seines Körpers auf sie ein.
Sie genoss es sichtlich, seine Hand mit ihrer aufzufangen und sich mit aller Gewalt dagegenzustemmen.
„Ich hatte gehofft, dass du auch stark bist“, sagte sie mit einer ruhigen Stimme, die seine Kräfte beinahe erschaudern ließ.
Als sie jedoch merkte, dass er nicht nachgab, drehte sie seine Hand und warf ihn zu Boden. Platschend schlug er auf den Boden und das knöcheltiefe Wasser, welches in den Straßen stand, wich in starken Wellen auseinander.
Er fletschte seine Zähne, brüllte ungeheuerlich und richtete sich auf. Sie entfernte sich einige Sprünge nach hinten um ihn noch mehr zu reizen. Wie ein Drache fiel er jetzt über sie her und seine Hände wurden zu Klauen, die mit einem einzigen, leidenschaftlichen Riss ihren Mantel zerfetzten. Doch das Mädchen blieb nur souverän stehen und lächelte weiter als sie einen Hieb in seinen Körper wagte. Ihre Finger hatten seine Haut bis zu den Bauchmuskeln durchstoßen und er stürzte einige Meter weit zurück, ins saure Wasser.
Knurrend und grollend erhob er sich nochmals und rannte ungestüm auf sie zu. Als er sie erreicht hatte ergriff sie mit beiden Händen den linken Bund seines Mantels und riss ihn auf.
Dabei schleuderte sie ihn gegen eine meterweit entfernte, vom sauren Regen vollgesogene Wand, die unter dem Aufprall bröckelte.
Noch leicht schwindelig von der schnellen Drehung entledigte er sich des zerrupften Kleidungsstücks, zerriss sein Hemd und zerrte mit dem nächsten blitzschnellen Hieb ihre schwarze Bluse auf. Die Finger seiner Hände tasteten fluchtartig über die nasse, glänzende Haut und holten sich die Wärme, welche sie seit Jahren suchten. Er kniff sie fest und riss sie mit sich gegen eine Litfasssäule, die beim Aufprall wackelte.
„Du genießt das genauso sehr wie ich, nicht wahr?“, fragte das Mädchen und legte endlich einen Arm um seine Schulter, während der Andere unter seiner Achsel durchrutschte und klammerte sich an ihn.
„Wenn du wüsstest, wie sehr ich deine Berührung vermisst habe...“
Seine Arme wanderten, nachdem er seine Gefühle ausgesprochen hatte, um den Halbnackten Körper seiner Geliebten, und seine Finger strichen sanft über ihre glatte vor Feuer brennende Haut.
„Aber so lange hat es doch gar nicht gedauert“, beschwichtigte sie ihn.
„Nein, nur circa dreißig Jahre musste ich warten... du bist sehr jung... wo warst du denn so lange? Warum hat sich deine Geburt so verspätet?“
„Hey, ich musste doch noch ein Kind großziehen, bevor ich dir nach Sol folgen durfte“, verteidigte sich das Mädchen und presste endlich ihre Lippen auf die seinen. Kraftvoll presste er sich an sie, zog ihre Zunge in seinen Mund und hätte sie am liebsten verschluckt. Eine glühende Flut raste durch seine Adern, überflutete seinen Körper und ergoss sich in den ihren. Kurze Gedankenblitze machten es ihnen bewusst, wie viele unzählige Male sie dieses Erlebnis schon gemeinsam genossen hatten. Und die Zeit der Trennung wurde bedeutungslos.
"Endlich wieder zusammen, ich hatte schon geglaubt du würdest ewig fehlen. Die letzten Tage, die wir auf der letzten Welt gemeinsam verbracht hatten, hatten wir uns unaufhörlich geliebt, bis du mich getötet hast um mich vor dir herzuschicken.
Yin und Yang sind endlich wieder vereint. Sollen wir es den Menschen endlich zeigen?"
„Was? Was meinst du?“
"Ein Kind von dir auf der Erde zurücklassen und dann gemeinsam von hier verschwinden, ich will nicht wieder auf dich warten müssen. Zweimal in dreitausend Jahren ist einfach zu oft!"
„Ich werde dich nicht mehr vor mir herschicken! Aber damals gab es jemanden, der mir fast so viel bedeutet hat wie du...“
"Bist du mir etwa untreu geworden?"
„Nein es war nicht so... es ist wie wenn er dir ähnelt... jemand der mich in eine Verzwickte Lage gebracht hat, wie ein zweites du.“
"Auch ich bin schon in einer solchen Lage gewesen. Hm, als gäbe es uns zweimal. Egal, was hältst du von meinem Vorschlag? Keiner unserer Brüder würde es die nächsten Jahrzehnte wagen, die Menschen zu bekämpfen..."
„Solange es ein Kind von uns hier gibt!“
"Die Menschen hätten endlich mal eine Ruhepause, von den Schrecken des Himmels."
„Ist ja eine nette Idee!“
"Und während dieser Zeit..."
„... werden wir?“