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Angst am Strand
Lanzarote, 5.34h.
Die Sonne schickte ihre ersten warmen Strahlen über das Wasser und verwandelte die Oberfläche in ein glitzerndes, purpurnes Wunder.
Nur wenige Minuten später würde sich die intensive Farbenpracht verflüchtigen, dem immer heller werdenden Licht weichen und dem Meer das tiefblaue Kolorit des Vortages zurückgeben.
Ihre Finger tasteten zu ihrem hochgesteckten Haar und vergewisserten sich, dass sie die Sonnenbrille nicht vergessen hatte. Trotz ihres flauschigen roten Wollpullovers fröstelte sie ein wenig und umschlang ihren Brustkorb mit beiden Armen. Die Hosenbeine ihrer Jeans hatte sie auf dem Weg zum Strand hochgekrempelt und die Ballerinas in die seitlichen Hosentaschen gestopft.
Nun glitt ein beständig zunehmender Wind über ihre Waden, der bei jedem Schritt in Meeresrichtung stärker wurde und hätte sie nicht ihre Beine rasiert, könnte sie spüren, wie sich ihre Härchen aufstellen.
Während ihre nackten Füße Halt auf den schwarzen Felsen suchten lächelte sie.
Sie freute sich auf den noch menschenleeren Strand, der sich frühmorgens glatt wie eine samtige Decke vor ihr ausbreitete. Um diese Zeit war sie meist der einzige Mensch an diesem Ort, der seine Fußabdrücke im nächtlich angespülten Sand hinterließ.
Nachdem sie die Felsen hinter sich gelassen hatte erfühlten ihre Zehen den nassen Sand. Behutsam setzte sie einen Schritt vor den anderen und hielt zwischendurch inne, um einen Blick nach hinten zu werfen und ihre Fußabdrücke zu betrachten. Ihre Blicke gingen weiter über die Bucht, hinüber zur nahe gelegenen Insel La Graciosa und sie seufzte tief. Nirgendwo auf der Welt war sie glücklicher als hier.
Der Anblick der starken Brandung, die Gischt auf ihrer Haut und die nordwestliche Brise, die ihr hart entgegen schlug, sorgten dafür, dass ihr Kopf frei geblasen wurde.
Schon oft war es ihr an diesem besonderen Ort gelungen ihre Gedanken fliegen zu lassen. Mit jedem ihrer Schritte verwandelten sich scheinbar unlösbare Alltagsprobleme in Banalitäten, die sich fast wie von selbst in Luft auflösten.
Von innerem Frieden erfüllt setzte sie ihren Weg fort. Ihre Schritte wurden fester und nahmen an Tempo zu. Hin und wieder blieb sie stehen um die Möwen zu beobachten, die vom Wind getrieben im Sturzflug auf die Wasseroberfläche zutaumelten, um sich ihre Nahrung aus dem Meer zu fischen. Mit einem geschickten Manöver versuchten gerade zwei Flugkünstlerinnen die Beute einer anderen abzujagen, die diesen Angriff mit empörten Geschrei erwiderte.
Um sich dieses Spektakel näher anzusehen ging sie wenige Schritte auf das Wasser zu. Die sanften Ausläufer der Wellenbrecher erreichten mittlerweile ihre Fesseln und das abperlende Salzwasser prickelte auf ihrer Haut wie Champagner.
Während sie dieses Gefühl auskostete und auf ihre Fußspitzen hinuntersah, die in Sekundenschnelle mit dem abbrandenden Wasser in die Priele versanken, entdeckte sie vor sich einen tiefschwarzen schimmernden Kiesel. Sie bückte sich, hob ihn auf und betrachtete ihn eingehend. Er war kreisrund, flach und hatte fast die Größe ihres Handtellers. Bewundernd fuhr sie mit ihren Fingerspitzen über seine glatte abgeschliffene Struktur und sie entschied, ihn mitzunehmen. Während sie ihn mit ihren Fingern umschloss und sich seine kalte Oberfläche fest in ihre warme linke Hand schmiegte, nahm sie aus den Augenwinkeln eine Gestalt wahr.
Die Augen mit der Rechten abschirmend versuchte sie auszumachen, ob ihr die Umrisse bekannt vorkamen.
Bei näherem Hinsehen stellte sie anhand der Statur fest, dass es sich um einen Mann handeln musste. Sie kniff konzentriert die Augen zusammen. Nach den ausladenden Schrittfolgen zu urteilen könnte es der große Norweger sein, der den Bungalow gleich hinter ihrem gemietet hatte; aber sicher war sie sich nicht.
„Ist doch egal, ob ich ihn kenne oder nicht“, murmelte sie, während sie sich abwandte, ihre Sonnenbrille vom Kopf auf den Nasenrücken schob und ihren Spaziergang fortsetzte.
Sie schritt zügig voran um den Abstand zu ihrem Hintermann zu vergrößern. Nichts widerstrebte ihr mehr, als an einem ihrer heißgeliebten einsamen Strandwanderungen einen höflich inszenierten Morgenplausch über das Wetter, oder das Essen in den nahegelegenen Restaurants halten zu müssen. Munter und gutgelaunt stapfte sie gute zweihundert Meter weiter. Doch das Kreischen der Möwen, die mit ihrem Beutegezeter sogar das Rauschen der Brandung übertönten, ließen sie erneut innehalten. Belustigt schaute sie zu ihnen hinauf und während sie der Siegerin in Gedanken applaudierte, drehte sie sich um.
Zu ihrer Verblüffung war, trotz des gesteigerten Tempos, die Distanz zu dem Strandwanderer deutlich geringer geworden. Scharfkantig hoben sich nun seine Umrisse von dem gleißenden Licht ab und sie erkannte bei näherem Hinsehen, dass es sich um einen kräftigen dunkelhaarigen Mann handelte. Und er schien, im Gegensatz zu ihr nicht einfach nur am Strand entlang zu wandern, sondern er begann zu laufen und während er auf sie zulief, ruderte er wild mit den Armen …
Joggte er?
Doch, wenn er joggte; warum lief er nicht von Anfang an, sondern setzte sich erst jetzt in Bewegung? Oder hatte sie sich vorhin getäuscht?
Und warum fuchtelte er dabei mit den Armen in der Luft herum? War das etwa eine neue Sportart ...? Eine Mixtur aus Jogging und Aerobic?
Während sie sich das fragte drangen Wortfetzen zu ihr herüber. Er rief ihr etwas zu, indem er seine Hände zu einer Muschel formte. Dann begann er erneut wild zu gestikulieren.
Was wollte er nur von ihr?
Irritiert sah sie sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken.
„Mach, dass du hier wegkommst“, sagte eine warnende Stimme in ihrem Kopf und sie begann zu laufen.
Zunächst langsam; doch mit einem weiteren Blick über ihre Schulter nahm sie wahr, dass er seine Geschwindigkeit ebenfalls erhöht hatte und sie, falls sie sich nicht beeilte, bald eingeholt haben würde …
Während ihres Laufs rutschten ihr die Ballerinas heraus, die hinter ihr über den Sand purzelten.
"Auch das noch...", keuchte sie, legte einen Stopp ein, ergriff hastig die Schuhe und hetzte weiter.
Das Blut pochte in ihren Schläfen. Die Finger ihrer rechten Hand hielten die Ballerinas, während sie mit der linken den Kiesel umklammerte, an dem sie sich verzweifelt festzuhalten versuchte. In ihrer Brust machte sich eine Enge bemerkbar, die sie sehr wohl kannte:
Es war Angst. Die nackte, pure Angst.
Getrieben von einer dunklen Vorahnung hetzte sie vorwärts.
Sie veränderte ihre Laufgeschwindigkeit indem sie einen schnellen Sprint einlegte.
Der nasse Sand, der ihr das Laufen erschwerte, wurde unter ihren Füßen nach hinten geschleudert und während sie von Ängsten getrieben immer schneller und schneller lief, verlor sie abermals einen Schuh. Doch dieses Mal hob sie ihn nicht auf, sondern schleuderte den zweiten einfach weit von sich.
Nach gut hundertfünfzig Metern brach sie erschöpft ab und drehte sich schwer atmend um.
Sie stellte zu ihrem Entsetzen fest, dass durch ihren Spurt kein deutlicher Abstand entstanden war; ganz im Gegenteil:
Die Distanz zu ihrem Verfolger hatte sich weiter verringert.
„Scheiße“, zischte sie zwischen ihren Zähnen hervor, während sie fieberhaft überlegte, was als nächstes zu tun sei.
Sie schaute sich hektisch um und versuchte einen weiteren Strandläufer auszumachen. Doch ausgerechnet heute war weit und breit niemand zu sehen.
Erneut setzte sie sich in Bewegung.
Plötzlich stolperte sie, doch sie fing sich wieder und lief weiter. Ihre schweißnassen Finger kneteten unaufhörlich den Kiesel und in ihr stieg eine Panik hoch, die sie längst vergessen geglaubt hatte. Während sie weiter dahinjagte, erinnerte sie sich schemenhaft daran wann es ihr das letzte Mal so ergangen war. Es war lange her und in ihrem Kopfkino entstanden Bilder, die sie seit vielen Jahren erfolgreich verdrängt hatte:
Schatten. Dunkelheit. Eine schwach beleuchtete Gasse in einer nächtlichen Stadt. Schnaufender, immer lauter werdender Atem in ihrem Rücken. Eine Hand, die nach ihr griff …
Mit einem verzweifelten Stöhnen sank sie auf die Knie in den nassen Sand. Ihre Brust hob und senkte sich, ihr Atem ging rasselnd. Ergeben neigte sie ihren Kopf und schloss die Augen. „Bitte nicht“, bettelte sie flehend. „Bitte, bitte nicht…“
„Hola!“, ertönte eine männliche Stimme hinter hier. „Hola, Senora?!“
Urplötzlich erwachte ihr Kampfgeist. Nein! Nein, das passierte ihr nicht noch einmal! Nie wieder...!
„WAS?!“, schrie sie wütend, während sie aufsprang, sich ruckartig umdrehte und zur Abwehr ihre linke Hand mit dem Kiesel hob; wohl wissend, dass es sich um eine klägliche Abwehr handelte. Doch ihre unbändige Wut, gepaart mit den flashbacks der Vergangenheit war so groß, dass sie sich in der Lage fühlte mit diesem lächerlich kleinen Stein jeden Kampf aufnehmen zu können. Sie neigte in Angriffsposition den Kopf und funkelte ihn böse an.
Er beugte sich schwer atmend hinunter und umfasste mit den Händen seine Knie. Nach Luft ringend schaute er verblüfft zu ihr auf ...
Die Zähne fletschend betonte sie laut und deutlich jede Silbe:
„WAS - WILLST - DU?!“
„Perdòn?“, fragte eine sanft männliche Stimme, während sie langsam den Kopf hob und in erstaunte, tiefbraune Augen blickte.
„Del-Delphine“, stotterte der nach Luft ringende Verfolger und zeigte auf die Meeresoberfläche. Während sie ihn wie gebannt anstarrte, begann er freundlich zu lachen. Irritiert und fast mechanisch drehte sie ihren Kopf, folgte mit ihren Augen seinen Fingern und versuchte den Punkt zu fokussieren, auf den er deutete. Und plötzlich waren sie da:
Auf der Oberfläche des Meeres entdeckte sie silbrig schimmernde Rückenflossen, die in einem tanzähnlichen Rhythmus auf- und ab wogten. Vor Erstaunen riss sie die Augen auf.
„Delphine!“, stieß sie hervor. „Delphine, einfach nur - Delphine!“
„Si, Senora, Delphine“, echote ihr Verfolger lächelnd.
Sie sank erneut in den Sand. „Delphine“, flüsterte sie zitternd, während ihr Tränen der Erleichterung an den Wangen hinunterliefen …
Den Kieselstein besitzt sie noch heute.
Er hat einen Ehrenplatz bekommen.