Mitglied
- Beitritt
- 29.12.2006
- Beiträge
- 28
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Ankunft und
Ankunft und Abfahrt
Das Quietschen der Räder ließ ihn aus seinen Gedanken schrecken. Hastig packte der alte Mann seinen Koffer, den er auf keinen Fall vergessen durfte, da er wichtige Akten enthielt und eilte zum Nebengleis. Hier traf man schon mehr Menschen an. Er blickte sich sehr bewusst und konzentriert auf dem Bahnhof um. Es konnte das letzte Mal sein, dass er diese Strecke fahren musste. Er stellte den Koffer mit den wichtigen Akten zwischen seine Beine, schloss die Augen und lauschte. Sofort wurde er von einem tubulenten Stimmengewirr überrollt. Junge Männer, die am Telefon, die ihr Zuspätkommen entschuldigten. Mütter, die beruhigend auf ihre kleinen Kinder einredeten. Kinder, die ungeachtet dieser Tatsache lärmend und jubelnd umher rannten. Schaffner, die mit Kollegen diskutierten, ob und wann diverse Züge abzufahren hätten und die eigentümlich penetrante und doch langweilige Stimme der Durchsagen: auf all das hatte der alte Mann noch nie geachtet.
„Sie da, aufpassen!“, durch ein paar barsche Worte und einem groben Rempeln wurde dem alten Mann rücksichtslos klargemacht, dass der Zug schon lange eingefahren war, und man nun einzusteigen hatte. Doch der alte Mann hatte nur gedankenverloren neben dem Wartebänkchen von Gleis 2 gestanden, die Augen immer noch geschlossen, und hatte den Gedanken genossen, morgen höchstwahrscheinlich nicht mehr zur Arbeit zu müssen.
Jetzt aber blinzelte er ein paar Mal, gerade so, als wolle der wieder in die Realität zurückkehren und eilte zum Zug. Wieder dasselbe Spiel, wieder schnellstmöglich einen Sitzplatz erkämpfen.
Und dann, gerade als sich der alte Mann erschöpft auf seinem Fensterplatz niederließ und durch die milchige Scheibe nach draußen zum Wartebänkchen von Gleis 2 blickte, wurde ihm jäh bewusst, das es gewiss nicht das letzte Mal war, dass er den Bahnhof mit seinen Eigenarten, charakteristischen Geräuschkulissen und gar Gerüchen betreten würde, dass er bestimmt noch einmal hierher käme und in Kontakt mit all diesen Dingen kam, die oberflächlich betrachtet störend sein konnten, aber in Wirklichkeit den Reiz des Alltages ausgemacht hatten. Umgeben von all diesen Eindrücken und abgelenkt durch das emsige Treiben, das in der Vorhalle herrschte, hatte er seinen Aktenkoffer, ausgerechnet am vermeintlich letzten Arbeitstag, am Bahnsteig stehen lassen. Eingepackt in diesem Koffer waren seine Kündigungspapiere, die ihm den Eintritt in den Ruhestand verschafft hätten.
Ein mildes Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des alten, glücklichen Mannes.