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Antiqua

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04.01.2002
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Antiqua

Antiqua entstieg, durch das Schnattern von Gänsen geweckt, den tiefen Sphären eines süßen Traumes. Viel zu lange hatte sie geschlafen, sich in Gefilden verloren, in denen ihr das eigene Wunschdenken eine paradiesische Wirklichkeit vorgegaukelt hatte. Ein zartes, brüchiges Konstrukt aus Illusionen, das nun, beim Gleiten in das Hier und Jetzt erst leicht erzitternd, dann stark schwankend, der gnadenlosen Gegenwart zum Opfer fiel. Mit jedem Lidschlag wurde der Schleier transparenter, der die Sicht auf diese, in seltsamer Weise veränderte Welt verborgen hatte. Eingeschränkte Perspektive barg stets die Gefahr von Irrtum in sich, weshalb die eben erst Erwachte, zwecks besserer Übersicht, mit ruhigen und doch entschlossenen Schritten den hohen Turm erklomm. Von dort oben die frisch erstarkten Sinne auf die Menschheit richtend, öffnete sie ihren Geist, versenkte sich in den Moment. Eine Flut von Bildern und Gefühlen überschwemmte ihr Bewusstsein, das an dem ungeschönt Vermittelten zu verzweifeln drohte. Ihr Glaube an Bestand der alten Werte wurde durch das Treiben, das sich ihren Blicken bot, bis in das Fundament hinein erschüttert. Jedwede Tugend, die sie kannte, schien einer Wandlung unterworfen und hatte sich ins Gegenteil verkehrt.

Sie sah, wie Freundlichkeit und Mitgefühl im Kampf um Ansehen untergingen. Gerechtigkeit, Ehre und Treue wurden mit Füßen getreten, bis sie sich zu Staub zermahlen im Wind der Neuzeit verflüchtigten, um Intrigen Platz zu machen. Egoismus, geprahltes Nichtstun, Lug und Trug – zutiefst verabscheut vor Dekaden, segelten im Auftrieb der Begehrlichkeit in unfassbare Höhen. Der Starke wurde stärker, der Schwache immer schwächer und verlor. Applaus, Applaus! Erfolg, um jeden Preis. Die Brut, äußerlich wohlgestaltet, doch innerlich verdorben und hässlich, stand grinsend selbstverliebt dabei und klopfte sich, nie müde werdend, gegenseitig auf die genormten Schultern. Eine ständig wachsende Zahl selbsternannter Übermenschen, durch Machthunger vereint, verkaufte ihre billigen Seelen an Gigantomanien, Götzen, Geld.
Genug gesehen.

Tränenblind stieg Antiqua hinab, trat hinaus ins Freie und setzte sich auf eine kleine, kühle Mauer. Warmer Wind strich ihr sanft über das Gesicht, trocknete die letzten salzigen Rinnsale auf ihren Wangen, während sie mit geschlossenen Augen traurig Erinnerungen an vergangene, bessere Zeiten nachhing.

Plötzlich tippte jemand mit dem Finger auf ihre Schulter. Sie öffnete die Augen, registrierte erstaunt eine bekannte Gestalt und lächelte freundlich. Es war der weise Lautenspieler, ein alter Freund, der immer Rat gewusst hatte, selbst in scheinbar aussichtslosen Fällen. „Ah, ist es endlich aufgewacht, das kummervolle Häuflein Elend, das da vor mir sitzt! Was ist es, das dich quält?“, fragte er mit sorgenvoller Miene. Mit knappen Sätzen schilderte sie ihm, was sie bedrückte, welche Art von Sturm in ihrem Innern tobte. Nach kurzer Pause: „Was ist bloß aus den Tugenden geworden? Heißt es nicht, das Gute ist zu tun, das Böse zu meiden?“ Er setzte sich neben sie, überlegte kurz und sprach: „Das galt und wird wohl immer gelten. Moralische Werte bestehen nicht von Natur aus, sondern aufgrund von Festlegungen.“ Antiqua runzelte die Stirn. „Ja, sicherlich, doch dachte ich immer, das Streben nach dem Guten läge in jedem selbst.“ Der Weise spielte ein paar Töne auf seiner Laute und schüttelte den Kopf. „Nicht unumschränkt. Die Ganzheit der Gesellschaft bestimmt über die jeweiligen Maßstäbe und legt die Gesetze fest. Es gibt Grundsätze der Ethik, die unveränderbar sind, doch alles ist im Fluss. Die Wichtigkeit von Tugenden kann sich verschieben. In die eine oder andere Richtung." Er entlockte seinem Instrument eine kleine Melodie und fuhr dann fort: "Was gestern noch erstrebenswert schien, kann morgen schon überholt sein. Sieh dir nur die Menschen an,“ er machte eine ausholende Handbewegung, „sie scheinen ganz zufrieden mit ihrem Zustand zu sein. Was sich bewährt und ob dies dann so bleibt, wird jedoch die Zukunft zeigen.“

Antiqua nickte resignierend. „Ich sehe schon. Wenn ich mir selbst und meinen Prinzipien treu bleiben möchte, habe ich nur noch die Wahl, mich den Gegebenheiten anzupassen, oder mich wieder dem Träumen zu widmen.“ Der Weise zwinkerte ihr zu und flüsterte: „Es gibt noch eine Möglichkeit. Man kann auch mit offenen Augen träumen.“ Seine Worte schienen Antiquas Verwirrung zu besänftigen. Ihre Haltung entspannte sich, neuer Glanz kehrte in ihre Augen zurück, während sie geschmeidig von der Mauer glitt. "Stimmt", lachte sie und begann, zu den Klängen der Laute zu tanzen.


Für S.

 

Hallo Antonia!

Und wieder einmal hat mir eine deiner Geschichten sehr gut gefallen. Du hast den Text in einer wunderbaren und etwas melancholischen Sprache sowie mit treffender Wortwahl verfasst, und es hat Spaß gemacht, die Geschichte zu lesen. Das Ende strahlt Zufriedenheit aus, und somit hat die Story ihr Ziel sicherlich erreicht. Eine rundum gelungene Kurzgeschichte! :thumbsup:

Ein paar Kleinigkeiten noch:

Die Brut, äußerlich wohlgestaltet, doch innerlich verderbt und hässlich, stand grinsend selbstverliebt dabei und klopfte sich, nie müde werdend, gegenseitig auf die genormten Schultern
Müsste es nicht "verdorben" heißen?
„Ah, ist es endlich aufgewacht, das kummervolle Häuflein Elend, das da vor mir sitzt! Was ist es, das dich quält?“, fragte er mit sorgenvoller Mine.
Miene
"Stimmt," lachte sie.
Komma nach Anführungsstriche

Weiter so!

Viele Grüße,

Michael :)

 

Hallo Antonia,

endlich wieder einmal eine philosophische Betrachtung im Gewand einer ausgefeilten Geschichte.
Die sprachliche Stimmung passt zu dem Gemütszustand der Protagonistin. Ihr Name ist Programm, das Althergebrachte ist für sie der Maßstab, an dem sie das Neue mißt (also nicht `tabula rasa´ und dann `mal sehen, ob sich etwas Neues findet).
Sie wird von Gänsen geweckt, den bekannten Wächtern. Dieser Weckruf reißt sie aus ihrer selbsterstellten Geborgenheit (gut, wenn es soetwas zeitweilig gibt), um sie mit den unliebsamen Realitäten zu konfrontieren, so, dass sie an dem „ungeschönt Vermitteltem zu verzweifeln drohte“ (im Prinzip ist ihre `Öffnung des Geistes´ eine Umkehrung des Meditationsgedankens).
„im Wind der Neuzeit“ sieht sie so einiges verwehen. Ich finde, Deine Auswahl ist gut getroffen, auch die „genormten Schultern“, denn so individualistisch, wie sich unsere Gesellschaft gerne sieht, ist sie nicht. Bis hierhin ist die Geschichte soziologisch geprägt, doch dann leitest Du (moral-) philosophische Gedanken von den Beobachtungen ab (klassische naturwissenschaftliche Vorgehensweise, von der Beobachtung zur Theorie).
Da drängt sich die Frage auf, ob es nicht einen kleinen Set unverrückbarer moralischer `Gesetze´ gibt (Ethnologen sind da fündig geworden).
„wenn offensichtlich außer Frage steht, dass Schlechtes nutzt, hat es dann nicht als gut zu gelten?“ Setzt das nicht voraus, dass `Nutzen´ allgemein akzeptiert definiert ist? Ich denke, es ist schwierig, da einen Zirkelschluß zu vermeiden.
Ich mußte da noch an Bob Dylan´s `The Times They Are A Changin`´ denken: Ein Wandel ist wichtig, doch die Art, wie der Wandel vollzogen wird, ist entscheidend. (Man siehe z.B. den Unterschied zwischen Ghandi`s und Pol Pot`s Vorgehensweise).
Deshalb hat mir auch die Synthese am Schluß gefallen - am Traum festhalten, ohne die Realität zu vernachlässigen... ...sometimes you can help the world...

( PS. `untergingen´, vielleicht im zweiten Satz einen Punkt einfügen?)


Ich wünsche Dir weiterhin viel Erfolg,

liebe Grüße,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo, ihr Beiden!

Zunächst einmal möchte ich mich fürs Lesen und das Aufspüren von Fehlern bedanken! Habe die Stellen sofort editiert.

@ Michael:

Ganz herzlichen Dank für Deine Beurteilung dieser Geschichte und dafür, dass Dir die Sprache gefällt (was ja schließlich nicht selbstverständlich ist).
:bounce:


@ Woltochinon:

Tja, da hatte ich wohl schlecht geträumt und dabei ein wenig um mich geschlagen. :D
Daher auch die von Michael beanstandete "Mine". Dabei hatte ich wohl eine Tretmine im Sinn. :D

Hast ja völlig Recht! Meine Einflechtung von "Nutzen" und "moralischen Gesetzen" ist in dieser Weise nicht angebracht. War wohl überwiegend "Storm in the brain" anstatt "Brainstorming". Ich werde versuchen, diesen Passus zu überarbeiten, ohne die Kernaussage negativ zu beeinflussen. Dauert aber ein paar Tage.

Übrigens:

...(im Prinzip ist ihre `Öffnung des Geistes` eine Umkehrung des Meditationsgedankens).
Stimmt. Genau so war meine Empfindung beim Schreiben.


Ganz liebe Grüße
Antonia

 

Servus Antonia!

Eine sehr anregende und nachdenklich machende Geschichte hat sich hier niedergelassen.

Das vermeintliche Fundament entpuppt sich, und siehe da, es ist gar kein Schmetterling, sondern ein giftiggrüner Falter der machtgierig seine derben Flügel über den filigranen Moralanspruch der Menschen legt. Und diese Flügel sind mächtig groß und legen, in Antiquas Augen, gleich über alles Schatten, sodass es aussieht als wäre alles Illusion gewesen, hätte sich ausnahmslos alles umgekehrt ins Böse.

Aber da kommt der Gaukler ins Spiel und hilft. Die Werte kehrten sich nicht um, sondern wir bestimmen sie. Jeder einzelne von uns, jeden Tag aufs Neue. Sie sind nicht Allgemeingut und nicht allgemein gültig, jeder muss sie für sich selbst erarbeiten, darf und muss seine eigene Maßtabelle erstellen, die nur einem ganz groben Rahmen unterliegt, der den anders Denkenden und Fühlenden nicht beeinträchtigt in seinem Sein.

Dann müssen diese Werte nicht mehr geträumt werden, sondern können - wie du in deiner Geschichte erkennst - gelebt werden, offenen Auges.

Dass sie während eines Menschenlebens auch dem Wandel unterliegen mögen, ist keineswegs bedrohlich. Es ist die Freiheit der persönlichen Veränderung, der eigenen Weiterentwicklung.

Eine schöne Geschichte und gut aufbereitet.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

Servus, Eva!

Danke, fürs Lesen und Deine anregenden Worte!

Ja, manchmal könnte man meinen, dass sich da Flügel (das hast Du wie üblich, mit Deinen ganz eigenen, so herrlich bildhaften Worten beschrieben) über Moralansprüche legen, um bisher Gültiges zu verdecken.
Und manchmal bekommt man dabei Angst, die sich im nachhinein als unbegründet erweist.

Wie Recht Du hast! Wandel ist wichtig für die Entwicklung und hat viele veraltete Ansichten durch neue, bessere ersetzt. Jeder Mensch ist für sein Tun selbst verantwortlich und sollte seinen eigenen Weg finden, der ihm begehbar erscheint. Offenen Auges.


Ganz liebe Grüße zurück an Dich

Antonia

 

Hallo Antonia,

„Sie scheinen ganz zufrieden mit ihrem Zustand zu sein“ - sind die Menschen zufrieden mit dem ethischen Status, oder damit, dass sie in einer Übergangszeit leben. Mir kommt es so vor, als ob Du das „scheinen“ im Sinne von `sie geben sich (gerne) den Anschein´ gebrauchst?

Liebe Grüße,

tschüß... Woltochinon

 

Guten Abend, Woltochinon!

Dir entgeht wirklich nichts! In diesem Abschnitt ist eine eigene Wertung mit eingeflossen. Ich meine tatsächlich: ´sie geben sich den Anschein´, da eine Abweichung von den "guten" ethischen Regeln m. E. nicht dauerhaft sein kann (oder sollte).

Die Einhaltung von Tugenden dient dem besseren Funktionieren des Zusammenlebens innerhalb der Gesellschaft und hat sowohl positive, als auch negative Eigenschaften. Einerseits schafft sie Frieden, andererseits kann sie hemmend auf Entwicklungen wirken.
Letztendlich hat aber "das Gute", meiner Meinung nach, mehr Vor- als Nachteile.

Danke für Deine Anregungen!


Liebe Grüße
Antonia

 

Hallo Antonia,

sehr gut hat mir diese geschichte gefallen - und das hat gleich mehrere gründe...

erst einmal ist sie wunderbar geschrieben, an manchen stellen gar poetisch...

Ein zartes, brüchiges Konstrukt aus Illusionen, das nun, beim Gleiten in das Hier und Jetzt erst leicht erzitternd, dann stark schwankend, der gnadenlosen Gegenwart zum Opfer fiel.
hat mir besonders gut gefallen und könnte glatt aus einem gedicht stammen...

ansonsten sind stil und inhalt wirklich philosophisch.. ohne zu abgehoben und mit komplexität überladen zu sein..was mir sonst an texten dieser art häufig nicht gefällt..hier ist die mischung für mich sehr gelungen..

auch die gedanken um moral und tugenden mit blick auf die heutige zeit.beschreibst du treffend - ohne allzu "böse" stellung zu nehmen..

das einzige was ich inhaltlich zur diskussion zu stllen hätte: welches gestern war es, dass besser war als heute? gab es jemals eine zeit in der moral gegenüber ansehen und egoismus vorrang erhielt? ich finde, den einzigen vorwurf den man der heutigen zeit machen kann, ist der, sich für besonders zivilisiert zu halten - und in wirklichkeit nicht weit weg von ägypten, rom, dem mittelater oder sonst einer zeit zu sein..

so, genug geschwafelt - :D ich danke für den philosophischen ausflug..

liebe grüße, streicher

 

Hallo, Streicher!

Es freut mich sehr, dass Dir diese Geschichte zusagt, zumal ich mit der Umsetzung von Grundgedanken in eine passende Form oft genug Schwierigkeiten habe.


Welches Gestern war es, das besser war als Heute?
Du hast vollkommen Recht mit Deinem Einwand! Der Mensch neigt dazu, die "gute, alte Zeit" zu verklären. Da ich mich viel mit Geschichte befasst habe (wollte Archäologie studieren), konnte ich die moralische Entwicklung vergangener und bestehender Kulturen miteinander vergleichen. Das Ergebnis: mäßig beglückend. Stimmt, bis auf den Anspruch, modern und zivilisiert zu sein, hat sich nicht viel geändert.

Lasst uns trotzdem, wie Antiqua, die Fahne mit den Tugenden hoch halten!

Ich habe für Deinen Besuch in der Philo-Ecke zu danken!


Liebe Grüße
Antonia

 

Liebe Antonia!

Eine ganz besonders schöne Geschichte ist Dir da gelungen. :thumbsup:

Ich kann aber jetzt gar nicht viel dazu sagen, da mir der Inhalt sehr nahe geht. Ich kann sie natürlich so lesen, wie die anderen Kritiker vor mir, aber eigentlich lese ich sie mit ein bisschen anderen Augen – Du weißt ja schon aus unseren PMs, was ich meine… ;)

Stilistisch ist sie auf alle Fälle einmalig schön.

Drei Fehlerchen hab ich noch gefunden: ;)

» Plötzlich tippte Jemand mit dem Finger auf ihre Schulter.«
- jemand

» das Streben nach dem Guten läge in Jedem selbst.«
- jedem

» doch Alles ist im Fluss«
- alles

Liebe Grüße,
Susi :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebste Susi!

Zunächst einmal möchte ich mich für das Aufspüren der Fehler bedanken. Groß oder klein? - stets meine Pein. :D

Tja, der Inhalt kann von jedem Leser so interpretiert werden, wie es ihm beliebt. Ich hatte beim Schreiben ganz spezielle Charaktere im Sinn, deren Ähnlichkeiten mit mir un-/bekannten Personen durchaus beabsichtigt sind. ;)


Ganz besonders liebe Grüße an Dich!
Antonia

 

Hi Antonia!

Obwohl philosophisch weniger bewandert, gefiel mir Deine Geschichte außerordentlich gut. Zum einen die wunderbare Sprache, die Du verwendest, zum anderen aber auch der Inhalt - ich war fasziniert, hätte immer weiter lesen können.

Wirklich schön!

LG
Julia

 

Hallo!

Ein sehr interessantes Thema, psychologisch, philosophisch.

Welche Parameter möchte ich benutzen, um Werte zu beurteilen - und sind diese denn nicht selbst Werte, die gesetzt werden. Natürlich scheint es ethnologisch 'Sinnvolles' zu geben: WAS erhält die Art? Und soziologisch/psychologisch Sinnvolles: WIE fühlen sich die Mitglieder einer Gruppe?

Die Geschichte steuert gut auf den Punkt zu, um den es geht; dennoch sollte das Ergebnis der Recherche nicht der Verlust eines Standpunkts sein. Ich kann in Kenntnis bringen, dass der Wert eines WEIBLICHEN Menschenlebens vor tausend Jahren nicht höher war als der Wert eines Ochsen; dennoch muss ich nicht fatalistisch sein und sagen: Alles ist willkürlich.

Meine persönliche HAndhabung ist: die Gefühle zu bemerken - meine UND die anderer Akteure in unserem modernen Leben. Der Wandel der Werte und Anforderungen ist weitaus schneller als der Wandel der 'menschlichen Natur' - daraus scheint sich ein Konflikt zu ergeben.

Der moderne Mensch soll leistungsfähig und flexibel sein, von einem Ort zum anderen, ist aber auf Bindung angewiesen, um zufrieden zu leben, - ein Beispiel. Entsprechen also die Werte und Anforderungen unserer seelischen Architektur?

Ein schöner Text, endlich - die ethische Diskussion ist in unserer Gesellschaft Meilen hinter der wirtschaftlichen/politischen zurück.

@Michael: 'verderbt' und 'verdorben' sind für mich zwei unterschiedliche Worte.

MfG
Flic

 

@ FlicFlac:

@Michael: 'verderbt' und 'verdorben' sind für mich zwei unterschiedliche Worte
verderbt: [geh.; veralt.] schlecht, besonders in Bezug auf die (herrschende) Moral
verdorben: 1 ‹Nahrung› nicht essbar; ungenießbar geworden 2 moralisch schlecht

Hast Recht. :) "Verderbt" ist wohl doch passender für diesen Text. "Verdorben" in der Zweitbedeutung ist sicherlich aber auch nicht ganz verkehrt, oder? ;)

Viele Grüße,

Michael :)

 

Hallo Antonia,

ah, jetzt hab ich mich vertan: Ich dachte, ich revanchiere mich für deine Kritik an meiner Ägypter-Geschichte, und schreib was zu deiner neuesten. Hab dabei die Jahreszahl übersehen... Naja, jetzt ist es zu spät. Vielleicht interessiert dich die Geschichte ja trotzdem noch.

Dein erster Satz hat mich neugierig gemacht:

Antiqua entstieg, durch das Schnattern von Gänsen geweckt, den tiefen Sphären eines süßen Traumes.
Was mich an diesem Satz interessiert hat, ist eine leichte Doppeldeutigkeit: Ich sehe da eine Gestalt aus dem Nebel des Traumes aufsteigen. Das könnte eine Traumgestalt sein, hab ich mir gedacht.

Die Geschichte schien für mich beim Lesen im Mittelalter oder im zeitlosen Phantasy-Zeitalter zu spielen. Der Turm und die Laute deuten darauf hin, auch die stellenweise altertümliche Sprache (Gefilde, Treiben, jedwede Tugend). Der Name Antiqua verstärkt für mich den märchen- oder fantasyhaften Eindruck - das ist ja eine andere Art von Name als Hans Mayer.

Andererseits gibt es moderne Elemente: "Applaus, Applaus!" ist für mich ein Kermit-Zitat, außerdem gibt es da theoretisch-philosophische Wörter wie Konstrukt, Perspektive, Bewusstsein, Prinzipien, Ethik. Der Übermensch stammt von Nietzsche, und das Wort Gigantomanie aus der Jetztzeit, das Hier und Jetzt aus der Politikersprache.

Für mich ist da ein gewisser Widerspruch. Aber vielleicht war das gerade deine Absicht? Vielleicht wolltest du sagen, dass es in jeder geschichtlichen Zeit Leute gab, die gesagt haben: Die Moral verfällt, früher war alles besser.

An Details merkt man, dass du an der Sprache gefeilt hast. Zum Beispiel die Alliterationen: Gigantomanien, Götzen, Geld. Genug gesehen.

Aber manchmal ist mir die Sprache zu pathetisch:
die frisch erstarkten Sinne auf die Menschheit richtend, öffnete sie ihren Geist

Abstrakte Begriffe werden mit recht abgenutzten Wendungen kombiniert:
Gerechtigkeit, Ehre und Treue wurden mit Füßen getreten ..., um Intrigen Platz zu machen. Egoismus, ... Lug und Trug...
"Mit Füßen treten", "Lug und Trug" sind für mich abgenutzte Wendungen.

Die vielen abstrakten Begriffe im Text überwuchern das Konkrete, das fast überall fehlt. Man sieht als Leser zum Beispiel nicht, was Antiqua vom Turm aus sieht, bekommt nur ihre Wertungen geliefert.

Ich hab ein ungutes Gefühl bei alldem. Es klingt wie Gejammer, sorry. Das muss allein ja noch nichts Negatives sein, aber auch das Thema des Lamentos bietet mir persönlich nichts Neues: Über den Werteverfall haben sich schon unsere Großeltern beklagt, und die alten Römer sicher auch. Verquickt mit der antikisierenden Sprache weckt das in mir den Verdacht, dass hier die gute alte Zeit beschworen wird.

Dass ich generell skeptisch gegenüber philosophischen Geschichten bin, hab ich bei unserem Treffen in München schon gesagt. Deine Geschichte bestätigt mich in meinen Vorurteilen. Zu viel Philosophie, zu wenig Literatur für meinen Geschmack.

Einige schöne Wendungen will ich nicht ganz übergehen. Auch mir (wie Woltochinon) sind die genormten Schultern positiv aufgefallen. Oder auch das brüchige Konstrukt.

Nichts für ungut, ich würde auch Hemingway oder Böll zerfleischen, ich finde überall ein Haar in der Suppe.

Grüße,
dein Stefan

 

Hallo leixoletti!

Zunächst einmal: Du hast selbstverständlich das Recht, alles zu zerfleischen! Jeder Leser sollte seine Meinung zu den Texten kund tun, egal, ob er etwas daran auszusetzen hat, oder auch nicht.

Zu Deinen Anmerkungen:

Vielleicht wolltest du sagen, dass es in jeder geschichtlichen Zeit Leute gab, die gesagt haben: Die Moral verfällt, früher war alles besser.
Stimmt, genau das wollte ich ausdrücken, weshalb ich ganz bewusst moderne mit altertümlichen Elementen vermischt.
Verquickt mit der antikisierenden Sprache weckt das in mir den Verdacht, dass hier die gute alte Zeit beschworen wird.
Nein, eben nicht. Es soll gesagt werden, dass Gejammer nichts nützt, sondern jeder Mensch selbst versuchen sollte, mit etwaigem Verfall der Tugenden klar zu kommen.
Die vielen abstrakten Begriffe im Text überwuchern das Konkrete, das fast überall fehlt.
Das liegt daran, dass ich manche Begriffe intuitiv erfasse und nicht deutlich genug weitergeben kann.
Zu viel Philosophie, zu wenig Literatur für meinen Geschmack.
Schade, dass ich Deinen Geschmack nicht getroffen habe. Vielleicht klappt es ja bei der nächsten?
Ich bin schon froh, dass es eine Geschichte ist und nicht nur eine Aneinanderreihung von Gedanken. :D

Danke, fürs Lesen und Deinen Kommentar!


Lieben Gruß
Antonia

P.S.: Die Diskussion wird am Dachstein fortgesetzt. *g*

 

Wir wissen nicht, was wir tun,

oder anders gesagt: wir wissen nicht, was gut und was böse ist, wüssten wir das, wären wir Gott. Doch wir sind nur Menschen, Antonia, kleine, armselige Menschen, die sich nach Wind richten, ob träumend oder nicht, das ist gleichgültig.

Es gibt keine Ganzheit der Gesellschaft, es gibt nur mehr oder weniger Leute, die in gleiche Richtung gehen und hoffen, sie wäre die richtige. Trotzdem oder gerade deshalb sollten wir nicht aufgeben, nach neuen Wegen zu suchen. Und wenn ein neuer Weg gefunden worden ist, dann sollte man ihn bedenkenlos gehen, selbst wenn das die Umwertung aller Werte bedeutete – die alten Pfade können uns ja nur zurück in die Vergangenheit führen, und die, jeder weiß es, ist wenig schmeichelhaft für die Spezies Mensch, der selbsternannten Krone des Schöpfung.

Es gibt auch keine Grundsätze der Ethik, denn die ist von uns Menschen gemacht, kann also nicht von Dauer sein. Morgen schon kann ein Einäugiger kommen und uns Heil verkünden, wir werden ihm folgen, etwas Besseres als hier und jetzt werden wir überall finden. Natürlich, Handeln birgt die Gefahr des Scheiterns in sich - ganze Völker haben sich schon geirrt und mussten umkehren -, aber das bedeutet nicht, dass wir aus lauter Angst, Fehler zu begehen, auf der Stelle treten und nichts mehr tun dürfen: Stillstand ist Rückschritt.

Und Tanzen, Antonia, ist nichts anderes als auf der Stelle treten.

Dion

 

Hallo Dion!

oder anders gesagt: wir wissen nicht, was gut und was böse ist, wüssten wir das, wären wir Gott.
Stimmt, wir wissen wirklich nicht, was gut und böse ist. Werte und Tugenden sind vom Menschen bestimmt und unterliegen dessen subjektiver Einschätzung, die je nach sozialpolitischem und kulturellem Umfeld variiert. Es gibt nur ungefähre Richtlinien. Ob sie nun sinnvoll sein mögen, oder auch nicht, weiß niemand.

Trotzdem oder gerade deshalb sollten wir nicht aufgeben, nach neuen Wegen zu suchen.
Neue Wege können eventuell hilfreich sein, das tägliche Miteinander erträglich zu gestalten, werden jedoch schwerlich zu finden sein. Wenn man die Geschichte der Menschheit betrachtet, so scheinen ziemlich alle Spielarten an Gut und Böse bereits mehr als einmal durchprobiert worden zu sein, aber was die Vergangenheit unbestritten lehren kann, sind Erfahrungswerte. Also lasst uns nach vorne laufen mit einem Auge nach hinten. *g*

Und Tanzen, Antonia, ist nichts anderes als auf der Stelle treten.
Nun, für mich persönlich ist Tanzen ein Ausdruck von Lebensfreude. Vielleicht gelingt es mir irgendwann, dem alltäglichen Irrsinn davonzutanzen? Schön wär´s ...

Danke, für Deine Anmerkungen!

Antonia

 

Hi Antonia,
ich dachte mir es würde mal wieder Zeit sich eine ältere Geschichte vorzunehmen und da dachte ich an dich, hab ich mich doch damals bei der Besprechung einer meiner Geschichten nicht mehr zu deinem Beitrag geäußert. Dem soll nun Genüge getan werden ;)
Und was soll ich sagen? Ich bin froh gerade diese hier gefunden und gelesen zu haben, denn sie hat mir ausnehmend gut gefallen. Die verwendete Sprache sprüht vor Melancholie. Zuerst düster, am Schluss hell und leuchtend.
Viel mehr kann ich gar nicht sagen, spricht sie mir doch direkt aus der Seele.

Liebe Grüße...
morti

 

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