- Beitritt
- 31.10.2003
- Beiträge
- 1.543
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 29
Antonio - Eine abstoßende Liebe
Antonio - Eine abstoßende Liebe
Wahrlich kein Zuckerschlecken, sagte sich Antonio.
Seine Mundwinkel zuckten als er die Bettdecke anhob und auf die alten, angewinkelten Beine blickte. Für einen Augenblick sah er sein Spiegelbild in der silbernen Schüssel. Er drehte die Frau vorsichtig auf die Seite, griff nach der Bettpfanne. Der Geruch und die Konsistenz von Frau Winters Exkrementen übertraf heute alles bisher Dagewesene um Längen.
Seine Empfehlung an die Küche, die Nahrung seiner Patienten mehr dem Vollkorn zuzuwenden, zeigte Wirkung.
Während er die Bettpfanne abdeckte und auf das unterste Fach des kleinen Rollwagens stellte, lächelte er zu der alten Dame hinüber. Sie erwiderte seinen freundlichen Blick nicht. Ihre trüben Augen starrten apathisch zur Zimmerdecke, sahen eine Welt, die nicht da war. Der Kopf mit dem grauen, auf dem Kissen wallenden Haar wirkte winzig. Die Augen lagen tief in den Höhlen, die welke Haut war blass. Nur ihre Lippen stachen aus der toten Maske hervor; beinahe übernatürlich rot.
Frau Winter hatte den Mund leicht geöffnet und hauchte ihren schalen Atem in die kotdurchtränkte Luft.
Antonio wollte nach den Gummihandschuhen greifen - ein Automatismus -, ließ es bleiben und brachte die Rolle Toilettenpapier zum Vorschein. „Extra weich“, grinste er.
Ihre lieblichen Augen zuckten nicht.
Auch seine Mine war starr, während er sich ihrem Po widmete. Der Duft schien für einen Augenblick noch eine Nuance zuzulegen. Antonio atmete tief durch die Nase ein, presste die Lippen aufeinander und hielt die Luft an. Er schloss die Augen.
Behutsam entfernte er die letzten Reste, beförderte sie mit dem Papier zusammen in den kleinen Plastikeimer, der seitlich an dem Wagen angebracht war. Dann griff er nach dem Topf mit Wundsalbe und behandelte die roten Stellen.
„So“, er gab ihr einen leichten Klaps auf den Po, freute sich über das vibrierende Fleisch und bedeckte die Scham mit der riesigen Windel, die er aus dem Rollwagen hervorkramte. „Nur für den Fall der Fälle.“
Er schüttelte das Bettlaken, verteilte den warmen Geruch.
Sein Blick fiel auf das fest verschlossene Fenster. Dunkelheit presste ihr konturloses Gesicht gegen die Scheibe, und Antonio erkannte sein eigenes lächelndes Antlitz.
Oberschwester Margarete hatte ihn ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Frau Winter keinen Zug vertrage. Ja, dass gar eine Erkältung der alten Dame tödliche Folgen haben könne. Also musste das Fenster geschlossen bleiben.
Noch einmal atmete Antonio tief ein - genoss. Nach einer viel zu kurzen Weile nahm er das Duftspray, und wenige Augenblicke später ließ ein Pfirsichduft seine Gedanken durch einen spanischen Obsthain schweben. Mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen umflog er die knorrigen Bäume, atmete mit jeder Pore seines Körpers diese erstickende Freiheit in seinen Verstand hinein. Für einen winzigen Augenblick verspürte er sogar die heiße Sonne in seinem Nacken. Er sah Früchte, die zu Boden fielen, ihrer verwesenden Bestimmung entgegen.
Nur das genoss er.
„Schlafen Sie gut, Frau Winter. Und wenn Sie noch etwas benötigen, zögern Sie nicht, nach mir zu klingeln.“ Er beugte sich über das faltige Gesicht mit den Augen, die durch ihn hindurchstarrten. Er strich sanft über ihre Wange und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Die alte Dame in ihrem großen Metallbett reagierte nicht.
Noch eine Weile hockte er auf der Bettkante, betrachtete die Falten um ihre Augen. Ob sie einmal schön gewesen war? Antonio runzelte die Stirn. War sie denn jetzt hässlich?
Er seufzte und verließ das Zimmer.
Als Antonio wenig später den kleinen Rollwagen über den Flur zu den Toiletten schob, überkam ihn eine tiefe Traurigkeit. Er liebte seinen Job als Altenpfleger, es machte ihm nichts aus, sich auf die Liste für den Nachtdienst setzen zu lassen; meistens wurde er noch nicht einmal gefragt. Es störte ihn auch nicht, seit nunmehr fast zehn Jahren nur die Drecksarbeit, wie sich seine Kollegen auszudrücken pflegten, machen zu müssen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann sich einmal eine Kollegin um den Stuhlgang der alten Herrschaften gekümmert hatte, während auch er Dienst hatte.
„Toni, könntest du vielleicht?“ – „Toni, wenn es dir nichts ausmacht …“ – „Toni, ich muss hier noch den Bericht fertig stellen; wenn du vielleicht …“
Und Antonio kümmerte sich darum. Er liebte die alten Leute. Er liebte Frau Winter, und immer wenn er sich um sie kümmerte – um diesen beinahe toten Körper kümmerte – dann überkam ihn diese Traurigkeit. Doch sie würde wieder verschwinden, je näher er den Toiletten kam.
Hörbar ließ er die Luft aus seinen Lungen in den sterilen Flur strömen. Ein leichter Schmerz in seinem rechten Fuß lenkte seine Gedanken für einen kurzen Moment auf den gestrigen Abend, als er sich den Zeh so stark an einem Bettpfosten gestoßen hatte, dass der Nagel in der Mitte gebrochen war und das Blut seinen Socken rot gefärbt hatte.
Sofort verwandelte sich sein Schritt in ein Humpeln. Irgendwie ist alles Einbildung. Wenn er nicht an den Zeh gedacht hätte …
Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass das Morphium langsam nachließ. Ja, Letzteres wird es sein. Er würde sich gleich darum kümmern.
Ein weiterer angenehmer Nebeneffekt der Nachtschicht; er kam unauffällig an das Zeug ran.
Humpelnd, im Takt der klappernden Bettpfannen, erreichte er kurz darauf die Toilettentür. Bevor er sie öffnete, warf er einen Blick zurück. Der Flur war leer.
Er schob den Wagen hinein, schloss die Tür. Augenblicklich spürte er seinen Herzschlag bis hinauf in den Hals. Eine explosionsartige Hitzewelle entstand in seinem Magen, breitete sich schlangengleich aus, ertastete Nervenenden, ließ seine Oberschenkel vibrieren. Immer wieder reagierte sein Körper auf gleiche Weise. Es war fantastisch.
Selbst der Schmerz in seinem Zeh war verschwunden. Körpereigene Endorphine. Er grinste. Besser als jedes Morphium. Viel besser als jedes Morphium.
Er lehnte sich gegen die Toilettentür, schloss für einen Moment die Augen. Er sah sich durch den Park des Altenpflegeheims spazieren, blickte hinab auf das spärliche Haar von Frau Winter, die bewegungslos in ihrem Rollstuhl hockte. Er hatte ihr eine blaue Decke über die Beine gelegt.
Als Edeltraut Winter noch sprechen konnte, als sie die Welt um sich herum noch wahrnahm, hatte sie ihn irgendwann einmal beiseite genommen.
„Antonio“, hatte sie in ihrer warmen Großmutterstimme gesagt.
Er hatte ihren Rollstuhl angehalten, war um sie herum gegangen und hatte sich vor sie gehockt, damit sein Gesicht auf gleicher Höhe mit dem ihrigen war.
Sie hatte ihn angelächelt. „Ach Antonio. Sie hätten doch auch einfach nur ´ja´ sagen können.“
„Ich möchte doch in Ihre wunderbaren Augen schauen, wenn Sie mit mir reden.“
„Sie kleiner Charmeur.“ Ihre Hand hatte sich bis zu seiner Wange hervorgestreckt, war aber kurz davor wieder zurückgewichen. „Wussten Sie eigentlich, dass Sie mein Lieblingspfleger sind, Antonio?“
„Und Sie sind meine Lieblingsbewohnerin.“ Er hatte ihre Hand genommen und sie sanft gedrückt. Aufrichtige Worte.
„Sie sind wirklich ein Charmeur, Antonio. Wenn ich vierzig Jahre jünger wäre …“
Er hatte gelächelt. „Was wollten Sie mir denn sagen?“
„Ach ja“, sie hatte in den Himmel geblickt. „Wussten Sie, dass meine schönste Farbe blau ist?“
„Nein, das wusste ich nicht.“
„Die meisten Leute sagen, dass Grün die Farbe der Hoffnung sei. Für mich ist es blau. Blau wie die Heimat unseres Herrn. Blau verinnerlicht alle Hoffnung, ihm irgendwann einmal gegenübertreten zu dürfen.“ Sie hatte ihn wieder angeblickt. „Blau ist meine schönste Farbe.“
Er hatte noch lange ihre Hände gehalten, ihre Wärme in sich hineingesaugt. Sie hatte die ganze Zeit über geschwiegen und zwei Tage später dann den Schlaganfall erlitten.
Die blaue Decke hatte er ihr gekauft, als es hieße, sie sei einigermaßen wieder über den Berg.
Er öffnete die Augen, sah die weißen Kacheln neben den Waschbecken, sah die Kabinen, deren Türen im Neonlicht glänzten. Er liebte diese alten Leute, ganz besonders seine Lieblingsbewohnerin.
Bedächtig nahm er das Tuch von dem Rollwagen, ignorierte die Bettpfannen. Alle, außer einer.
Er nahm Frau Winters Behältnis heraus, streichelte über die Oberfläche. Sein Blick war verklärt. Die Explosionen rasten durch seinen Körper, fanden ihr wohliges Ziel in seinen Lenden.
Er sah seine Hand, die über die hügelige Haut der alten Dame strich. Das Weich der Furchen glitt durch seine Finger. Wohlig griff er die Falte auf der Innenseite ihrer Schenkel.
Antonio nahm den Deckel von der Pfanne, ließ sich von dem augenblicklich entstandenen, lieblichen Hauch verzaubern.
Seine zitternden Finger drangen zwischen ihre trockenen Lippen. Er sah ihr Stöhnen.
Er führte seinen Kopf näher an die bräunliche Konsistenz, dachte an die Falten um ihre Augen, um ihre blauen Augen. Ihre Augen waren so blau.
Noch ein wenig tiefer.
Ihre Lippen.
Die Seinigen berührten das Geschenk, das sie ihm heute Abend gemacht hatte. Ein Geschenk nur für ihn allein. Er liebte sie.
Sie lächelte ihn an. Zahnlos und mit toten Augen.
Ja, er würde sie in sich aufnehmen. Wieder und immer wieder.
So wie sie ihn in sich aufnahm. Tief.
Er grub seine Zähne in das weiche Material, spürte etwas härtere Stückchen, die sich unter seine Zunge schoben.
Antonio ließ sich auf die Knie fallen, versank mit dem Gesicht in der Schüssel. Seine Beine zuckten als er mit der Unendlichkeit der Lust verschmolz.
Besser als jedes Morphium.
Er liebte seinen Job.
Er liebte diese alten Leute.
Er liebte Frau Winter.