Artischockenherz
Frank zerdrückte die Fliege mit dem Daumen am Fensterglas.
Seit zwei Stunden sah er ihr schon zu. Immer wieder brummte sie die Scheibe entlang nach oben, seitwärts, hinunter und zurück. Kein Entkommen.
Er spuckte auf sein Taschentuch und putzte das Glas sauber.
Das Eckzimmer im 4. Stock wäre perfekt gewesen um Champignons zu züchten.
Die Einrichtung karg. Ein Stuhl, ein Beistelltisch und drückende Hitze.
Durch den halb geöffneten Vorhang beobachtete er den Gemüseladen an der Kreuzung.
Herr Brunner hatte um 7 Uhr geöffnet und war seitdem nicht mehr herausgekommen. Sein Lehrling Mike schleppte nach und nach große Kisten mit Äpfeln, Sellerie und Artischocken nach draußen, drapierte sie und wischte den Straßenstaub vom Gemüse.
Die Mittagshitze zwang Frank seine Jacke auszuziehen. Er ordnete sein Taschentuch neu an und wischte sich den Schweiß aus dem Nacken und von der Stirn.
Es war sehr still geworden. Der Straßenverkehr schrumpfte auf ein Auto pro Stunde und die Fußgänger flüchteten in die Lokale um sich abzukühlen.
Der Vibracall ließ sein Handy über den Tisch rutschen.
„Hallo? Nein, er ist noch drinnen. Ja, ich weiß. Wir kriegen ihn heute noch, keine Sorge.“, sagte er knapp und legte auf.
Frank rieb sich die Augen und betrachtete sein graues Gesicht in der Reflexion des Fensters.
„Jetzt bist du 61 und noch immer auf der Jagd!“, sagte er und versuchte ein paar Grimassen zu schneiden. Eine der wenigen Freuden, denen er sich noch hingab.
Er starrte auf den Eingang des Ladens. Brunner war ein Informant der übelsten Sorte. Er verkaufte an jeden. Der untersetzte Händler sagte immer: „Es gibt keine schlechten Informationen, nur zu wenig Geld um sie zu bezahlen!“. Umso intensiver war sein Chef deswegen bemüht, ihn hopps zu nehmen.
Vorsichtig, schob er den alten Stoff zur Seite und fixierte ein Zimmer im Haus schräg gegenüber. Dort saß sein junger Gegner. Ein aufstrebender Spezialist aus Bangkok, der die Jalousien fest verschlossen hielt. Wie aus dem Lehrbuch.
Dem Grauhaarigen war klar, dass er den Fang machen musste, um in den Ruhestand zu gehen. 40 Jahre weltweite Erfahrung, gegen ein paar Glückstreffer. Dieses Schwein, würde ihm sein Kunstwerk nicht versauen.
Er fühlte sich sicher, denn er konnte warten.
Hustend schlurfte er in den Nebenraum und kam mit einem Koffer zurück.
Langsam ließ er das Handy nach einem Kontrollblick in die Hosentasche gleiten.
Während er sich unter dem Trägerleibchen kratzte, legte Frank sein Werkzeug auf den Beistelltisch. Kolben, Visier, Lauf.
Bedächtig ließ er seine Lesebrille auf die Nase gleiten und begutachtete die Munition.
Ein Magazin mit Stahlmantelgeschossen, ein Magazin normal.
Der alternde Killer setzte sich, entnahm die ersten fünf normalen Patronen und begann mit seinem geliebten Messer große Kreuze in die Spitzen zu schnitzen.
Ab und zu fixierte er über die Brillenränder die Straße.
„Gemüsesuppe, Gemüsesuppe, ist guuuut für Dich!“, summte er die Melodie eines Werbespots vor sich hin.
Ein plötzliches Blitzen ließ ihn hochschrecken. Die Jalousien hatten sich bewegt.
„Es geht los!“, murmelte er und zwängte sich in seine Jacke.
Die alte geölte Maschine Frank Reiser war angelaufen. Er steckte die Lesebrille auf den Kopf und visierte das Gewehr des Gegners an.
„Jalousien! Das hast du nicht von mir. Idiot!“, dachte er und zielte auf den Kopf des Jungkillers. „Na, dann schauen wir mal was du noch so kannst!“. Er legte das Gewehr zur Seite und wählte die Notrufnummer. „Ja! Ich möchte einen Notfall melden! An der Ecke Reinbacherstraße, ja genau, bei Brunner ist ein Mann niedergeschlagen worden! Danke!“
Der Countdown hatte begonnen. Drei Minuten.
Frank nahm die Brille vom Kopf, öffnete das Fenster und kniete sich hin.
An der gegenüberliegenden Hauswand führte er den wandernden Lichtpunkt seines Laserpointers in das Visier des Thailänders. „Hehe!“, lachte der Profi.
Der junge Spezialist, fuhr zurück in die Dunkelheit.
Ganz langsam kam der Lauf des Gegners zurück und bewegte sich in seine Richtung.
Frank sah, dass er ihn erkannt hatte, winkte mit der Linken und sagte: „Jaja, mein Junge, hier drüben, du Wixer!“. In der Ferne hörte man Sirenen.
Sein Handy brummte. „Ja! Was ich hier mache? Rate mal! Komm mir nicht in die Quere Sohnemann! Was? Du drohst mir? Ich hab dich in diese Welt gesetzt, ich kann dich auch wieder rausholen, klar! Schlechter Vater? Fick dich! Pack dein Spielzeug ein und verschwinde! Achja? Das wollen wir sehen!“
Das Gespräch hatte eine für ihn gefährliche Lautstärke angenommen.
Er warf das Handy zur Seite und fixierte die Stirn seines Sohnes.
Bilder von Abraham schossen durch seinen Kopf.
Da waren sie nun. Generationskonflikt und Totenstille. Eine letale Kombination.
Franks Körper war bis zum letzten Muskel gespannt. Er spürte sogar seine Kopfhaut.
Das Ticken seiner Armbanduhr wurde von seinem Herzschlag übertönt.
Er atmete langsam ein und aus, jede Bewegung seines Kontrahenten fürchtend.
Atem und Herzschlag wurden eins. Zeit. Zeit. Zeit.
Eine Wolke warf ihren Schatten über den Jungkiller.
Lautlos schickte er das Projektil auf seine Bahn durch den Knochen, den Frontallappen, das Kleinhirn und darüber hinaus.
Sein Gegenüber verlor den Halt und sackte in sich zusammen.
Die Sirenen waren nur mehr zwei Straßen entfernt.
In Windeseile zerlegte er sein Gewehr, versteckte den Koffer und rannte auf die Straße, in die bereits ein Streifenwagen einbog.
Er hob die Hand und winkte ihnen.
„Tag Kollegen!“, sagte er, als sich das Seitenfenster öffnete. „Was ist hier los?“, kam es von einer rothaarigen Uniformierten zurück. „Dürfte falscher Alarm gewesen sein. Macht mal ne Runde, ich paß hier auf!“. Der Wagen fuhr langsam weiter und bog wieder ab.
Frank rückte seine Uniform zurecht, wischte sich den Schweiß unter der Schirmmütze ab und betrat Brunners Laden. Brunner stand hinter der Theke.
„Guten Tag! Was ist los?“, fragte dieser ein paar Artischocken polierend.
„Heinrich Brunner?“, fragte Frank. Der Händler nickte ängstlich.
Frank griff nach seinem Messer.
„Schöne Grüße von Rankmeier! Verkauf deine Infos an die Bullen in der Hölle!“.
Damit rammte er dem Erschrockenen die Klinge durch die Brust.
Auf dem Weg nach draußen, griff er sich ein paar Artischocken und verstreute sie um den Sterbenden.
„Wird ein schönes Bild auf der Titelseite! Gemüse ist gesund!“, kicherte er.
Er nahm einen Apfel, biß hinein und ein stechender Schmerz durchzuckte ihn.
„Verdammt, ich muß ja noch zum Zahnarzt! Diese Typen können einem echt wehtun!“
Pfeifend schlenderte er die Straße hinunter und stieg in seinen Wagen.